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Daß die Gestalt Ahasvers in Richard Wagners Denken eine zentrale Rolle spielt, ist allgemein bekannt.
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Eine abschließende Bewertung scheint kaum möglich, da die eindeutig antisemitische Haltung, die sich im berüchtigten Schluß der Hetzschrift Das Judentum in der Musik manifestiert, in den Ahasver-Figuren der Musikdramen (dem Holländer, Kundry) keine gleichermaßen eindeutige Bestätigung findet; sie werden denn auch von Kritikern wie Verteidigern Wagners gleichermaßen ins Feld geführt. In seiner Münchner Dissertation (2005) führt Frank Halbach einschlägige Arbeiten seines Lehrers Jens Malte Fischer
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weiter, indem er Wagners Ahasver vor dem Hintergrund der Stoffgeschichte in den Kontext des (›langen‹) 19. Jahrhunderts einordnet, wobei der Schwerpunkt auf den mit einer einzigen Ausnahme in der Wagner-Nachfolge entstandenen Opernlibretti (bis hin zu Busoni) liegt.
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Interdisziplinäre Mythosforschung
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Halbach betont die Notwendigkeit eines interdisziplinären Zugriffs, der »Mythosforschung, Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft« verknüpfen soll (S. 7). Was die Mythosforschung angeht, beruft er sich vor allem auf Hans Blumenberg, dessen Theorem, daß der Mythos »sich von Anfang an im Rezeptionsverfahren befindet«, insistierend wiederholt wird (vgl. S. 29, 56, 66 und passim). Die Botschaft ist folglich nicht eindeutig (S. 15f.): »Der Ausgangsmythos ist in philosemitischer, neutraler und antisemitischer Intention verwertbar« (S. 24); der ewige Jude kann zum Sündenbock,
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aber auch zur Symbolfigur für das jüdische Volk, oder die Menschheit schlechthin, werden.
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Die »Konstituierung des Ahasver-Mythos« wird im Kontext des Antisemitismus untersucht (S. 19–43), am Anfang steht folgerichtig das »Volksbuch« von 1602 (S. 21f.). (Wie in der Literaturwissenschaft – bedauerlicherweise – üblich, werden die Ergebnisse der volkskundlichen Erzählforschung
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nicht zur Kenntnis genommen, daher fehlen mittelalterliche Belege.
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) Als »Mythologeme des Ahasverstoffes« werden Unsterblichkeit, Wanderschaft, Erlösung und jüdische Provenienz identifiziert (S. 29–33), wichtige Parallelfiguren (S. 34–43) sind u.a. Judas, Kain, Herodias und der Fliegende Holländer.
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Das Kapitel zu Ahasver in der Literatur des 19. Jahrhunderts (S. 44–82) ist komparatistisch angelegt, allerdings liegt der Schwerpunkt klar auf deutschsprachigen Werken. Man vermißt u.a. Charles Robert Maturins Roman Melmoth the Wanderer (1820) und Jan Potockis Manuscrit trouvé à Saragosse (in polnischer Übers. erschienen 1847); Edgar Quinets Ahasverus-Drama (1834) wird nur (an anderer Stelle, S. 106) en passant erwähnt. Daß der Stoff auf der Opernbühne erfolgreicher war als im Schauspiel, wird überzeugend damit erklärt, daß er eher zu »emotionalen Stimmungsbildern« als zu einer »umfassenden Bühnenhandlung« Anlaß gibt (S. 77).
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Ahasver-Libretti vor Wagner
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Die erste musikdramatische Gestaltung, Eugène Scribes Libretto Le Juif errant für Fromental Halévy (1852; S. 83–116) nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als hier kein bestimmender Einfluß Wagners anzunehmen ist
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. Ausgangspunkt war eindeutig Eugène Sues Juif errant (1844/45; vgl. S. 56–58), auch wenn die komplizierte, figurenreiche Intrige des Feuilleton-Romans durch eine neu erfundene Handlung ersetzt werden mußte: Als »gute Zauberergestalt«, die ihren Nachfahren als Deus ex machina zu Hilfe kommt (S. 106), ohne »wirklich handlungskonstituierende Funktion« zu haben (S. 99), gleicht Ahasver genau seinem Roman-Vorbild; ein »neuer synthetischer Bösewicht«, Räuberhauptmann Ludgers, und seine Bande (S. 104) treten an die Stelle von Sues Jesuiten. Den Schluß des Romans freilich hat Scribe seiner sozialkritischen Dimension entkleidet: Sues ewiger Jude stirbt, da sein Geschlecht – das Geschlecht der unterdrückten, ausgebeuteten Arbeiter – erloschen ist, was der Sozialist Sue als Hinweis auf eine neue, gerechtere Gesellschaftsordnung verstanden wissen wollte;
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Scribes Ashvérus träumt den Jüngsten Tag als Spektakel.
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Der »ewige Jude« bei Richard Wagner
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Das folgende Wagner-Kapitel (S. 117–173) geht natürlich vom Judentum in der Musik aus (S. 118–124), behandelt dann Holländer (S.125–144) und Parsifal (S. 145–173). Halbach gelangt zu der Schlußfolgerung, die Ahasver-Figur des Holländers verkörpere bei Wagner nicht primär das Judentum, sondern den »romantisch geprägten Weltschmerz« (S. 133). Daß er sich mit dem Parsifal schwertut, kann angesichts der Komplexität von Wagners Synkretismus nicht überraschen: Zunächst betont er einmal mehr die »Ambivalenz« der »ewigen Jüdin Kundry« (S. 146), etwas später stellt er durchaus zu Recht fest, daß »man zunächst mühevoll postulieren [mag], Kundry sei nicht eindeutig als Jüdin gekennzeichnet, spätestens mit der Rezeption schon durch die Zeitgenossen, [sic] bleibt festzuhalten, dass Kundry als ›die Vertreterin des jüdischen […] Prinzips‹ aufgefasst wurde« (S. 169). Das bedeutet nun allerdings, daß sich auch Wagners Mythos »von Anfang an im Rezeptionsverfahren befindet«, womit die Frage nach der Autorintention hinfällig wird.
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Totgeburten und Camouflagen: Ahasver-Libretti im Fin de Siècle
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Für die Zeit nach Wagner sind bezeichnenderweise einige Totgeburten zu registrieren: Felix Weingartners Tetralogie Die Erlösung (1895), die Kain, Jesus von Nazareth (zwei Abende) und Ahasver auf die Bühne bringen sollte, blieb Entwurf (S. 184–199), Melchior E. Sachs vollendete immerhin die Libretti seiner Heptalogie (!) Kains Schuld und Sühne und komponierte den ersten Teil (S. 200–228); die »Ambivalenz« des Stoffes äußert sich hier darin, daß der mit Kain identifizierte Ahasver in Inkarnationen des »fanatisch christenfeindlichen Juden« und des »reuigen Büßers« aufgespalten wird (S. 205). – Eugène d’Alberts Kain auf ein Libretto des Wagner-Verehrers Heinrich Bulthaupt (1900; S. 229–240) wird ziemlich umstandslos der Ahasver-Rezeption zugeschlagen. Das »schwarze Blut«, das Kain bei sich selbst diagnostiziert, wertet Halbach einerseits (sicher richtig) als Melancholie, andererseits spricht er von »›verdorbenem‹ Blut« (S. 233), das er – für die Entstehungszeit der Oper wohl etwas kurzschlüssig – mit »Rasse« gleichsetzt (S. 238); wirkt hier nicht eher der »romantisch geprägte Weltschmerz« des Holländers nach? Für sein 1904 gedrucktes Ahasver-Libretto fand Bulthaupt dann keinen Komponisten (S. 241–256). Halbachs Einschätzung, daß die Ahasver-Projekte der Jahrhundertwende an ihrem Wagner-Epigonentum scheiterten (S. 256 f.), dürfte zutreffend sein.
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Als Beispiele für die »Camouflage des Ahasver-Mythos« werden anschließend Vincent d’Indys Étranger (1903), eine Art zweiter Holländer-Aufguß (S. 260–268), und (S. 269–275) zwei Opernversionen des Dramas Le Juif polonais von Erckmann-Chatrian behandelt: Camille Erlanger, Le Juif polonais (Text H. Caïn – P.-B. Gheussi, 1900) und Karl Weis, Der polnische Jude (Text V. León – R. Batka, 1901). Dabei entgeht Halbach nicht ganz der Gefahr, Ahasver in jedem Juden zu sehen: Der von einem Gastwirt ermordete Jude ist keineswegs unsterblich, lediglich der Mörder glaubt, viele Jahre später in einem jüdischen Gast sein Opfer wiederzuerkennen (S. 271 f.). (Der Stoff, den Erckmann-Chatrian – nach Henry Irving, vgl. S. 269 – bearbeiteten, ist seit dem Mittelalter in literarischen Gestaltungen und aus mündlicher Überlieferung bezeugt,
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das Opfer ist nur ausnahmsweise ein Jude.)
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Antijüdische Klischees bei Ferrucio Busoni?
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Am Ende der Untersuchung stehen (S. 276–313) Ferruccio Busonis Auseinandersetzungen mit Ahasver: In den Entwürfen zu einer nicht ausgeführten Oper wird der Jude zur »Allegorie auf die gesamte Menschheit« (S. 280); dagegen scheint die Brautwahl (nach E.T.A. Hoffmann, 1912) in der Figur Manasses und der Ballade vom »Münzjuden Lippold« (vgl. S. 288 f.) antijüdische Klischees zu reproduzieren, was den Verfasser ratlos zurückläßt
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(S. 290), obwohl sich von Thomas Mann bis Richard Strauss (Salome, Judenquintett, vgl. S. 291) viel Ähnliches finden läßt. Man muß wohl ein für allemal zur Kenntnis nehmen, daß manches, was nach dem Holocaust empörend oder beklemmend wirkt, um 1900 nur geschmacklos war – und über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten. Im Doktor Faust scheint der ambivalente Ahasver aufgespalten in den (positiven) Faust und den (negativen) Mephisto (S. 303 f.), wie schon in der Brautwahl dem »üblen Betrüger« Manasse der »gute Geist« Leonhard gegenüberstand (vgl. S. 292).
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Der letzte Abschnitt (S. 314–321) weist abschließend auf neuere Ahasver-Versionen hin (S. 318–321)
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; bezüglich Wagners Holländer und Parsifal bleibt das Fazit (S. 315 f.) ebenso tastend und zögerlich wie die früheren Ausführungen. Das ist kein Wunder, da einerseits, wie schon Thomas von Aquin wußte, »omne quod recipitur, recipitur per modum recipientis, et non per modum sui«
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, was freilich andererseits nicht verhindert, daß Schöpfungen, die auf so emphatische Weise ›Werk‹ sind wie Wagners Musikdramen, die Frage nach einer ›Werkintention‹ jenseits der Summe der Rezeptionsvorgänge gleichsam aus sich selbst heraus stellen. Der Versuchung, eine Antwort auf diese unlösbare Frage zu geben, hat Halbach besser widerstanden als manch anderer.
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Defizite
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Leider wird die Lektüre der Arbeit durch eine extrem schlampige Endredaktion erschwert. Fast auf jeder Seite begegnen Schreibfehler,
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falscher Wortgebrauch,
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grammatische und syntaktische Lapsus,
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stilistisch Fragwürdiges,
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unvollständige oder inkongruente Sätze,
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oft als Ergebnis nur zur Hälfte ausgeführter Überarbeitungsprozesse,
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und anderes mehr. Manches ist nahezu unverständlich.
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Da Buchmanuskripte nirgends mehr lektoriert werden, sollten die Betreuer von Dissertationen das Imprimatur vielleicht doch erst nach sorgfältiger Prüfung auch der sprachlichen Form erteilen.
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