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Geschichtsphilosophie
in Schillers historischen Dramen

  • Anna Nalbandyan: Schillers Geschichtsauffassung und ihre Entwicklung in seinem klassischen Werk. (Studien zur Germanistik 28) Hamburg: Kovac 2008. 420 S. Paperback. EUR (D) 88,00.
    ISBN: 978-3-8300-3517-6.
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Don Carlos, Wallenstein, Maria Stuart, Die Jungfrau von Orleans, Wilhelm Tell, schließlich das Fragment gebliebene Stück Demetrius – diesen Dramen Friedrich Schillers widmet sich Anna Nalbandyans Dissertationsschrift (2008 angenommen von der Universität Tübingen). Ziel ihres Parcours ist es zu klären, welche »Geschichtsauffassung«, konkreter: welche »Geschichtsschreibung« sich in diesen Texten niederschlägt.

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Auf den ersten Blick würde man dieses Programm, das so offensichtlich zwischen Literaturwissenschaft und Historiographiegeschichte ansetzt, dem breiten Forschungsfeld zuordnen, auf dem seit den 1970er Jahren nach den ästhetischen Darstellungsweisen und Determinanten der Geschichte gefragt wird. Schiller war als Historiograph und Dramatiker tätig und hat sich folglich mit narrativen wie auch sinnlich-ästhetischen Aspekten historischer Stoffe beschäftigt. Wo liegen also die Interferenzen zwischen dramatischer und historischer Darstellungsform und wie artikulieren sich hier möglicherweise die Voraussetzungen der historischen Erfahrung im Zeitraum um 1800? Eine solche Fragestellung liegt materialbedingt auf der Hand, zumal sie eine auffällige Lücke in einem ansonsten vielbearbeiteten Forschungsfeld bildet.

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Doch geht es der Autorin nicht um die poetologischen und wissensgeschichtlichen Synergien zwischen Dichtung und Historik, um eine Theatralisierung des Historischen oder um Erzähltheorie und Tropologie der Geschichte. Verbunden werden die Bereiche Drama und Historie nahezu ausschließlich über ein drittes Betätigungsfeld des untersuchten Autors: die Ästhetik und Geschichtsphilosophie Schillers. Schillers Dramen erscheinen so als geschichtsphilosophisch aufbereitete Historiographie. Der Dramatiker, so eine der Leitthesen der Autorin, erlaubt sich als »philosophischer Kopf« (S. 26) einen freieren Umgang mit dem historischen Material und entwirft Test- und Modellfälle aufgeklärter Gesellschaftsformen. Mit den drei Bereichen des Schillerschen Werks, der Historiographie, dem Drama und der Ästhetik, sind die thematischen Zentren und ebenso der – schließlich sehr eng geratene – Horizont der Arbeit abgesteckt.

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Der Interpretation der einzelnen Dramen sind zwei Kapitel vorangestellt, die sich dem Historiographen und dem Ästhetiker bzw. Geschichtsphilosophen Schiller widmen.

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Ausgang von Schillers Geschichtsbild

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Das erste Kapitel der Arbeit verfolgt »Schillers Weg zur Geschichte«. In weitgehender Kongruenz mit der Forschungslage wird der Standort des Historiographen Schiller zwischen der pragmatischen Geschichtsschreibung der Aufklärungszeit und einem Historismus avant la lettre bestimmt (S. 15). Die systematische, schließlich universalgeschichtliche Rekonstruktion von Kausalzusammenhängen mit dem Zweck, der Gegenwart ein nutz- und übertragbares Wissen an die Hand zu geben, gilt als Kennzeichen der Aufklärungshistorie. Schiller, so die Autorin, schließt sich diesem Programm an, zeigt sich aber durch seine Aufmerksamkeit für die Innerlichkeitsmomente der historischen Akteure als Vorläufer historistischer Geschichtsdeutung. Bei Schiller, wie auch bei den Zeitgenossen Kant und Herder, lasse sich ein idealistischer Geschichtsbegriff ablesen, der nicht mehr auf einer kausalen Rekonstruktion der Ereignisse basiere, sondern im Nachvollzug der Handlungsintentionen der historischen Akteure bestehe. Die möglichen poetologischen Zusammenhänge zwischen diesem Innerlichkeitsmoment der Geschichtsdarstellung und dem Geschichtsdrama werden zwar (etwa anhand des Wilhelm Tell, vgl. S. 337) angedeutet, aber in der Arbeit nicht ausgeführt.

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Das Kapitel »Schiller als Ästhetiker und Geschichtsphilosoph« präpariert ausgehend von Schillers ästhetischen Schriften ein Entwicklungsmodell geschichtsphilosophischer Natur, das für die gesamte nachfolgende Interpretation der Dramenstoffe leitend wird. Es handelt sich um ein dreistufiges Progressionsgesetz: Der natürliche Mensch, so Nalbandyan, trete in einen historisch-reflexiven Zustand ein, der ihn als »Abfall von seinem Instinkte« (S. 64) von seinen natürlichen Ursprüngen trennt. Der Ausgleich dieser Spannung zwischen dem naiven und dem sentimentalischen Menschen bedürfe eines Fortschritts, der sich aus dem ästhetischen Ideal speise. In der Kunsterfahrung erkennt Nalbandyan die Triebkraft dieser historischen Entwicklung, die es im gelingenden Fall erlaube, die Distanz zwischen Natur und Kultur zu überwinden. Schillers dreistufiges Fortschrittskonzept baue darauf, dass die »glücklichen Anfänge« der Menschheit in »progressiver Form verwandelt, erneut hervorgebracht werden sollen« (S. 63).

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Schillers Werk enthält zweifelsohne ein solches Konzept historischer Entwicklungsstufen. Allerdings bleibt fraglich, ob Schiller es, wie Nalbandyan annimmt, auf Einzelsubjekte ebenso wie auf politische Formationen und Kollektive anzuwenden versucht. Denn erstens lassen seine ausgesprochen pessimistischen Standpunkte der 1790er Jahre Zweifel an einer historischen wie sozialen Verwirklichung dieses Progressionsmodells entstehen. Zweitens erscheint die bei Nalbandyan auffällig reibungslos vollzogene Annäherung von subjektphilosophischen und historischen Themen, v.a. Erhabenheit und Geschichte, nicht unproblematisch. Fasst man das Schicksal der Schillerschen Dramenfiguren ins Auge, stellt sich nicht zuletzt die Frage, ob die historischen Dramen eine Form bilden, die das Progressionsgesetz zielgerichtet hinterfragt. Zu denken ist etwa an die konsequente Vereinzelung, die die erhabenen Helden und Heldinnen der Dramen kennzeichnet. Damit wäre die geradezu entgegensetzte Frage nach dem a-historischen Status des Helden im historischen Drama aufgeworfen.

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Dramenanalysen

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Anhand des Don Carlos bestimmt Nalbandyan zunächst eine dramengeschichtlich markante Position: Schiller löse sich von der zeitgenössischen Vorliebe für bürgerliche Trauerspiele und vollzieht den Übergang zum politischen Drama. Mit dem Don Carlos beginne »Schillers Weg zur Geschichte und zum Geschichtsdrama« (S. 89). Ausgeblendet bleibt, inwiefern sich bereits im Fiesco zu Genua diese Entwicklung abzeichnet.

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Wenn die Autorin nun nach den Bezügen zwischen dramatischem und historiographischem Material fragt, geschieht dies primär auf einer ideengeschichtlichen Grundlage. Interpretationsgrundlage für das Drama ist die Frage nach der Idee und den Protagonisten der Aufklärung im Stück: »Die Darstellung der Position der Aufklärung im ›Don Carlos‹ kann also als Ausgangspunkt für die weitere Analyse der Entwicklung und Transformation von Schillers Geschichtsauffassung dienen« (S. 95). Mit diesem Programm rückt die Figur des Marquis Posa in den Vordergrund der Untersuchung. Posa löse sich aus der alten Ordnung und werde zum genuinen Akteur der Geschichte, ohne allerdings die historische Dimension seines Tuns wirklich zu erfassen (vgl. S. 384). Die Ambivalenzen der Figur zwischen Idealismus und Intrige werfen dabei, so die Autorin, stets die Frage nach den Chancen und der Legitimation einer aufgeklärten politischen Ordnung auf. Die historischen Ereignisse würden von Schiller modelliert, um ihnen eine »erzieherische Funktion« zuzuweisen. Dieser Aufklärungsanspruch – so die Schlussfolgerung der Autorin – mache es möglich, das Drama als »ästhetische Erscheinungsform der Geschichtsschreibung« (S. 131) zu begreifen.

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Auch die Wallenstein-Trilogie erscheint als eine Art Applikation und Probefall von Schillers theoretischen Ansätzen: »Schillers ›Wallenstein‹-Trilogie spiegelt […] ganz offensichtlich seine geschichtsphilosophischen und anthropologischen Ansichten, die er von der theoretischen Ebene in sein künstlerisches Werk zu übertragen versucht« (S. 199). In der notorischen Passivität der Titelfigur erkennt Nalbandyan zunächst eine Reflexion auf den historischen Status des Subjekts in der revolutionären Epoche. Die problematischen Anschlussthesen lauten, dass sich in dieser Passivität Wallensteins eine realistische Sicht der Geschichte und damit ein Souveränitätsgewinn des Subjekts ausdrückten. (Hier wäre zu entgegnen, ob nicht am Wallenstein die Derealisierung und Verkennung des historischen Verlaufs zu betonen wäre). In seiner Zurückhaltung, so Nalbandyan weiter, gewinne das Subjekt eine reflexive Distanz gegenüber dem historischen Prozess, worin der Versuch seiner Ermächtigung zu sehen sei: »der Mensch [stellt sich] auf eine Ebene mit der Geschichte und versucht in der Konfrontation Mensch – Geschichte an der Spitze zu liegen« (S. 384).

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Während gerade die Wallensteinfigur zu einer Analyse historischer Kontingenz einlädt und so mitsamt ihrer dramatischen Rahmung in das Zentrum einer Genealogie des historischen Diskurses rücken könnte, unternimmt die Autorin eher eine moralische Ausdeutung der Figur: »Wallensteins Position markiert […] eine Übergangsphase vom Unmoralischen zum Moralischen, dabei erklärt der moralische Skrupel sein Zögern« (S. 384 vgl. auch S. 199).

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In Maria Stuart sieht die Autorin keine moralische Entwicklung mehr angezeigt, das Drama sei Ausdruck einer pessimistischen Geschichtsauffassung Schillers. Die hohen Figuren würden fast ausschließlich geprägt durch gemeine Affekte und Problemlagen. In dieser Ernüchterung komme die Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen der 1790er Jahre, vor allem Schillers Enttäuschung über den Verlauf der französischen Revolution zum Ausdruck. Allerdings schlägt Nalbandyan eine Differenzierung vor: Auch wenn sich Schiller angesichts der Realgeschichte pessimistisch zeige, könne man durchaus einen »idealistisch geprägten« bzw. aus der geschichtsphilosophischen Theorie gewonnenen »Geschichtsoptimismus« feststellen (vgl. S. 246). Diese rein theoretische Rettung des Ideals verkörpere die erhabene Haltung Maria Stuarts angesichts des Todesurteils. In dieser Wandlung, die im Gegensatz zum regressiven Zug der restlichen Figuren stehe, findet Nalbandyan, wie andere Forscher auch, den Erhabenheitsbegriff der ästhetischen Schriften wieder (vgl. S. 221). Das Fazit des Kapitels lautet, dass Schiller auf der Ebene der Geschichtsphilosophie, d.h. angesichts der Möglichkeit des Erhabenen, ein Optimist bleibe. Zu fragen ist hier wiederum, wie das Konzept des Erhabenen in seinem subjektphilosophischen Zuschnitt und vor allen in der strikten Konsequenz, die es dem Einzelnen abverlangt, überhaupt eine Kategorie des stets kompromittierenden historischen Handelns (vgl. die Figur der Elisabeth) werden kann.

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Mit der Jungfrau von Orleans betritt eine Heldin die Bühne, deren Entwicklung – so Nalbandyan –»von der Natur zum Ideal musterhaft [ist] für jeden einzelnen Menschen und die ganze Menschheit« (S. 253). Grundlage der Interpretation bilden erneut die theoretischen Schriften, insbesondere die Idyllentheorie. Idyllen liegen streng genommen außerhalb der Erfahrungsmöglichkeiten moderner Subjekte. Zum arkadisch naiven Zustand existiere grundsätzlich ein gebrochenes Verhältnis, das im Drama als eine regelrechte Konfrontation von Idylle und – kriegerischer – Geschichte dargestellt werde. Im Durchlaufen dieser Konfrontation soll – so Nalbandyan – schließlich der Weg von »Arcadium nach Elysium« gefunden werden. In der Jungfrau von Orleans werde mithin das Ideal des menschlichen Fortschritts »vom Natur- über den Kulturzustand hin zur Vollendung seiner Natur versinnbildlicht« (vgl. 254 ff. u. 268 ff.). In der dramatischen Rekonstruktion der historischen Ereignisse würden die Wege sichtbar gemacht, die »zur Wiederherstellung einer Idylle führen« (S. 265, vgl. S. 387 f.). Wie bereits in der Interpretation von Maria Stuart wird auch hier die These vorgebracht, dass das Drama der erhabenen Figur Ausdruck des »historischen Optimismus« Schillers ist (S. 291).

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Die historische Erfahrung von Schillers dramatischen Subjekten ist stets eine Erfahrung der Krise und der Todesdrohung. Diese eigentümliche Radikalität des historischen Verlaufs, die bei Nalbandyan allerdings kaum Beachtung findet, kennzeichnet auch das Drama Wilhelm Tell. Der Eintritt der Geschichte in die naive Welt Tells geschieht durch die tyrannische Forderung Geßlers – den Apfelschuss. An der zunächst passiven Figur Tell vollziehe sich eine Entwicklung, die – so interpretiert es Nalbandyan nach dem Modell von Schillers Ästhetischen Briefen – von einer naiven Natürlichkeit über einen krisenhaften kulturalen Status bis in den ästhetischen Staat führt. Das Kunstwerk zeige damit auch im Falle Wilhelm Tell, »wie Geschichte sein könnte« (S. 390).

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Das letzte der untersuchten Dramen ist der unvollendet gebliebene Demetrius. Die Wandlung des Helden erscheine hier nicht als Entwicklung, sondern verläuft regressiv. Demetrius hat als Idealist seine Erfolge – von der Überzeugung des Reichstags bis zum gelingenden Feldzug gegen Moskau. Sein moralischer Verfall beginne mit der Offenlegung, dass er nicht – wie er selbst glaubte – der rechtmäßige Zar ist. Demetrius wird vom Idealisten zu einem »betrogenen Betrüger« und damit, wie es Nalbandyan mit Schiller sagt, zu einem »falschen Realisten« und »schlechten Empiriker« (S. 368). Demetrius verkörpere das Scheitern des historischen Projekts. Vor allem auf den Verlust seiner moralischen Integrität sei es zurückzuführen, dass er sich im Lauf der Ereignisse nicht zu behaupten weiß. Wo Demetrius Stagnation verkörpere, stehe die Figur des Michael Romanov für eine zukünftige Perspektive. Im »humanen Monarchen« Romanov sieht die Autorin schließlich einen »wahren Realisten« (S. 365). Durch diese Figur werde es möglich, entgegen anderer Interpretationen (vgl. 348), in Schillers letzter dramatischer Arbeit wieder einen geschichtsoptimistischen Zug zu erkennen (S. 365).

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Geschichtsphilosophie oder Geschichtsreflexion?

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Im Schlusskapitel der Arbeit erscheinen die Dramen nochmals im Kontext der Schillerschen Geschichtsphilosophie. Die dramatischen Stoffe greifen – so die These der Autorin – die Argumente der theoretischen Arbeiten Schillers auf und entwickeln sie weiter. Anhand der »Person in der Geschichte« und ihrer moralischen Entwicklung zeigten sich die »Hauptideen der geschichtsphilosophischen Theorie Schillers, welche auch in seinem Drama unverändert bleiben« (S. 393). Das Drama werde so zu einem leistungsfähigen Erkenntnismittel der Geschichte; es führe einen »fruchtbaren Konnex zwischen Wissenschaft und Kunst« herbei (S. 394). Gegenüber der narrativen Geschichtsschreibung sei das Drama in historischer und psychologischer, letztlich aber vor allem in geschichtsphilosophischer Perspektive »komplexer und facettenreicher« und ermögliche einen »weitreichenden Erkenntnisgewinn« (S. 394).

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Die Autorin arbeitet die geschichtsphilosophische Fragestellung, die sie an Schiller richtet, zielgerichtet und zumeist nachvollziehbar ab, dabei werden die Ebenen des Schillerschen Werks prinzipiell sinnvoll, wenn auch häufig kurzschlüssig aufeinander bezogen. Die reichhaltige Forschungsliteratur zu Schiller wird ausführlich, wenngleich zuweilen etwas pointillistisch referiert. Allerdings zeigt gerade der ausführliche Blick auf die umfangreiche Forschung, dass insbesondere die geschichtsphilosophische Interpretation der Dramen Schillers kaum neue Thesen zu generieren vermag.

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Irritierend wirkt vor allem die rein werkimmanente und zirkelartige Analyse. Stets wird – um es so zu sagen – Schiller mit Schiller interpretiert. Diesem geschlossenen Ansatz ist es geschuldet, dass Nalbandyans Arbeit gerade hinsichtlich solcher Fragestellungen wenig Erkenntnisgewinn bringt, die sich von außen und problemgeschichtlich an das Schillersche Oeuvre richten. Solche Fragen können etwa gattungspoetischer Natur sein: Wieso erscheint gerade das Drama als die bevorzugte Darstellungsform der historischen Stoffe (nicht etwa der Roman)? Aufgrund welcher zeitbedingten Darstellungsabsichten kommt es zur Verknüpfung von dramatischen und historischen Ereigniszusammenhängen (die gewiss keine zufällige ist)? Inwiefern prägt die theatrale Form die Konstitution des historischen Diskurses im Zeitraum um 1800 und – grundsätzlich – welcher Problembezug fordert die so intensive Beschäftigung mit dem historischen Ereignis heraus?

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Es ist seit den Arbeiten von Reinhardt Koselleck bekannt, dass die Ausbildung historiographischer Darstellungsformen jenseits einer historia magistra vitae im direkten Zusammenhang mit dem Verlust traditionaler Selbstverständlichkeiten steht: Der historische Standort erscheint in der Zeit um 1800 als kontingent und fordert zu einer permanenten Neubeschreibung der Epoche heraus. Erst im Medium dieser Beschreibungen, die aufgrund ihrer Unabschließbarkeit immer auch ein Ausweis von Relativität sind, erscheint der offene, unbestimmte und eben darum ›historische‹ Standort. Wer zu dieser Zeit über Geschichte reflektierte, machte – wie die Figuren der Schillerschen Dramen – eine Erfahrung der Unbestimmtheit der Ereignisse.

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In einer solchen problembezogenen Verknüpfung von Drama und Geschichte könnten beide Darstellungsformen als spezifisch moderne Kontingenzerfahrungen gesehen werden. Denn ›die Geschichte‹ – ein Begriff, der bei Nalbandyan merkwürdig konturlos bleibt – konkretisiert sich als Krisen- und Entscheidungssituation; sie erscheint als Ereignis, das gerade in seinem Ungelöstsein den Aktionsrahmen der dramatischen Subjekte determiniert. Schillers Arbeiten können – wie es in der neueren Forschung auch bereits geschieht – als Konkretisierungen eines epochenspezifischen Nicht-Wissens betrachtet werden und auf diesem Weg neue Erkenntnisse hinsichtlich der Genealogie des historischen Diskurses wie auch hinsichtlich einer Dramengeschichte der Aufklärung bieten.

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Eine zweite offene Frage, die Nalbandyans Arbeit hinterlässt, betrifft die ästhetisch-dramatische, das heißt: sinnliche Vergegenwärtigung der Geschichte auf dem Theater. In der Einengung der Dramen auf ihr geschichtsphilosophisches Thema bleiben solche Gattungs- und Medienfragen völlig unbearbeitet, obwohl davon auszugehen ist, dass hier Vorentscheidungen für die Wahrnehmung historischer Ereignisse in der postrevolutionären Epoche getroffen wurden. Dies betrifft zum Beispiel die Zeitkonstruktion: Das Drama erzielt bei der Modellierung historischer Zeit einen durchaus prekären Effekt, da es gegenüber dem geschichtlichen Verlauf einen einzelnen Helden oder den ›historischen Moment‹ isoliert. Das seit Heinz Schlaffer dem Historismus unterstellte kritische Verhältnis von historischer Kontinuität und ästhetischer Vereinzelung scheint hier antizipiert. In solchen Darstellungsfragen ließe sich schließlich eine weitere Selbstverständlichkeit des modernen Geschichtsbilds beleuchten: Möglicherweise könnte eine Untersuchung des Schillerschen Oeuvres Aufschluss darüber geben, woraus das Faszinations- und Affektionspotential hervorgeht, das historische Themen seit dem späten 18. Jahrhundert unwillkürlich entfalten – aus welchem Grund neigt die moderne Wahrnehmung historischer Ereignisse und Aktualitäten gewissermaßen a priori zur Dramatisierung?