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Subjektiver Spielraum

Eine Hommage an den Bielefelder Germanisten
Klaus-Michael Bogdal

  • Achim Geisenhanslüke / Georg Mein / Franziska Schößler (Hg.): Das Subjekt des Diskurses. Festschrift für Klaus-Michael Bogdal. Heidelberg: Synchron 2008. 382 S. Broschiert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 978-3-939381-16-7.
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Demokratisierung der Literaturwissenschaft

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Mit Theoriefiguren wie der »Entmystifizierung des Gegenstandes Literatur«, »Althussers symptomaler Lektüre und Foucaults Begriff des Gegendiskurses«, schließlich mit dem Blick auf die »Verknüpfung von Diskurs und Subjekt im Medium der Literatur« (S. 7) umreißen die Herausgeber der Festschrift für Klaus-Michael Bogdal Hauptakzente der Forschungen des Bielefelder Germanisten. Hieran soll im Zeichen einer »Demokratisierung« (S. 7) der Literaturwissenschaften seit den 1970er Jahren angeknüpft werden, und das meint im Wesentlichen: Literatur in den Kontext anderer Diskurse zu holen, sie als Träger von Wissen, Macht und subjektiver Praktiken neu lesbar zu machen.

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Bereits eine Übersicht der Beiträge zeigt, wie schwer ein solches Ziel de facto einzulösen ist, zumal das Spektrum kaum genuine Theoriebeiträge ausweist. Als ein Manko erweist sich auch, dass, obzwar immer wieder implizit an die Formel von der ›Rückkehr des Autors‹ erinnert wird, kaum eine kritische Reflexion auf deren diskursiven Status erfolgt: Denn ein Gros der Beiträger hält an diskursanalytischen Strategien in der Nachfolge Foucaults fest, überprüft aber kaum deren (In-)Kompatibilität mit der – auch grundsätzlich fragwürdigen –›Rückkehr‹-Metaphorik. So lassen sich denn weniger theoretisch stringente Linien ausmachen als vielmehr thematische Querverbindungen ziehen.

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Der Hinweis der Herausgeber: »Eine Einheit erhalten die Beiträge jedoch erst als Hommage« (S. 9) erscheint durchaus gerechtfertigt. Das Spektrum reicht von Jochen Hörischs grundsätzlicher Einschätzung zur Funktion der Geisteswissenschaften über Beiträge zur Interdiskurstheorie etwa von Jürgen Link bis hin zu Problematisierungen geschichtsphilosophischer Positionen und Optionen etwa bei Joachim Pfeiffer sowie schließlich Arbeiten zur »Bildungskatastrophe« (Walter Erhart) und zum nordrhein-westfälischen Zentralabitur (Clemens Kammler). Dabei kommen die ästhetischen Fragestellungen nicht zu kurz: Was bei Pfeiffer und Franziska Schößler als problematische Bildungsgeschichte des Subjektes seit Goethe bereits aufscheint, erhält in Georg Meins Studie über die subjektive Dimension der Melancholie eine stärker theoretische Dimension. Die Krise des Ästhetischen ist die Krise des Subjekts, und erzählt wird sie zunächst und vor allem in der Literatur. Deshalb gehören in diese Reihe an Arbeiten auch Achim Geisenhanslükes Aufsatz über die »Niobe bei Sophokles und Hölderlin« (die mit dem Trauer-Thema unmittelbar an Meins Aufsatz anschließt) sowie Carl Pietzckers Aufsatz über psychoanalytische Modellierungen des Autorbegriffs.

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Doch auch die der Gegenwartsliteratur gewidmeten Beiträge schließen hier an: Stichworte lauten »Ethnisch-kulturelle Identitätsproblematiken« (Bernhard Arnold Kruse), »Subjekte auf der Bühne« (Wolfgang Behschnitt); in Aspekten wie der Thematisierung des Theaterdiskurses im Verhältnis zur Literatur (Andreas Erb), dem »Bioterror in der Literatur« (Matthias N. Lorenz) sowie dem Realitäts-Dispositiv in veränderten Medienrealitäten (Rolf Parr über Film in Literatur) wird der Nexus des problematischen Subjekts in aktuale Diskurskonstellationen hineingeholt. Am Ende des Bandes bei Monika Schmitz-Emans findet dann doch so etwas wie die Emphase des Literarischen ihren Raum, aber auch hier gibt es eine mediale Rückführung: Mediale Dispositive (Alphabet, Wörterbuch bei Schmitz-Emans) fungieren als Programme des Literarischen.

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Diskurs, Interdiskurs, Subjekt

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Indem Jochen Hörisch vor dem Hintergrund der ›fundamentalsemiologischen‹ Frage seit der Romantik: warum überhaupt Bedeutung sei?, den geisteswissenschaftlichen »realistic turn« (S. 13) in Erinnerung ruft, zielt er auf ein Doppeltes: einerseits die Sicherungsfunktion der Geisteswissenschaften (und der Kunst) im kulturellen Bedeutungsnetz; andererseits will er sie (die Kunst und ihre Wissenschaften) als »Attacken auf den gesunden Menschenverstand« (S. 14) verstanden wissen. Diese Aktualisierung des kontraintuitiven Potentials im Sinne von Hegels Philosophieverständnis kennzeichnet auch, in anderer Hinsicht, Jürgen Links Aufsatz über das »Kollektivsymbol des ›Netzes‹«(S. 21). Link analysiert die »Alternative zwischen einem hierarchisch-vertikalen und einem demokratisch-horizontalen Netz« (S. 25) sowie die darin gegebene strukturelle Perspektive, die eine Subjektposition dezidiert nicht ausschließe, sondern in Machteffekten neu konstituiere:

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So kann die gesamte Vernetzungspraxis nur unter der Bedingung dieses Ausschlusses [interaktionistischer Modelle aus transpersonalen Modellen] an den juristischen Diskurs angekoppelt werden, der auf personales bzw. parapersonales Privateigentum und auf persönliche Verantwortungen angewiesen ist. (S. 26)
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Hörischs wie Links Beitrag koinzidieren mit Oliver Müllers Markierung des Subjektiven: In seiner Studie zu Buffons Naturgeschichte bleibt es wie bei Link und Hörisch zumeist bei einer Skizze ex negativo:

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Ich wäre zufrieden, wenn mein Referat des Hallerschen Vorwortes zu Buffons Naturgeschichte die Auffassung ein wenig irritiert hätte, dass dieses Funktionieren der Gelehrsamkeit allein durch den Diskurs, d.h. die Sprache, insofern sie repräsentiert, und in keiner Weise durch den Menschen als Subjekt der Erkenntnisproduktion sichergestellt werden musste. (S. 46)
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Und auch Walter Erharts (freilich wenig überraschende) Studie zum Typus des ›verbummelten Studenten‹ zeigt sich einem Gegendiskurs verpflichtet, der nicht die klassische autonome Subjektposition beschwört, sondern in historisch divergenten diskursiven Zuschnitten und Attribuierungen deren Ort nicht idealistisch, sondern als realen Effekt gegeben sieht.

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Dass sich aus einer solchen kritischen Sicherung des geisteswissenschaftlichen Erbes Maßstäbe bis in die Bildungswirklichkeit ableiten lassen, versucht Clemens Kammler in seiner Bestandsaufnahme des nordrhein-westfälischen Zentralabiturs, insbesondere der Gedichtanalyse, zu belegen: Von einem »fragwürdigen Objektivitäts- und Normierungsideal« gelte es sich zu verabschieden, »ohne gleichzeitig das Ziel einer größeren Vergleichbarkeit von Schülerarbeiten aufzugeben« (S. 77). Auch hier müsse gegen die Ausgrenzung literaturwissenschaftlichen Fachwissens aus didaktischen Normierungen an einem interdiskursiven Kommunikationsverständnis festgehalten werden. Dem ist schwerlich zu widersprechen, auch wenn man sich Grundsätzlich zu Kategorien wie ›Normativität‹, ›Benotung‹ (etwa: ›Kopfnoten‹) oder zum Verhältnis von ›Wissen / Lernen‹ und ›Bildung‹ gewünscht hätte.

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Subjekt, Geschichte, schneehelle Tränen

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Schon um 1500 macht Hans Peter Hermann ein »widersprüchliches Subjektbegehren« (S. 104) aus, dessen imaginäre Züge bereits im deutschen Renaissance-Humanismus ein »nationale[s] Wir« (S. 93) präfigurieren. Eine ähnliche imaginäre Doppelsträngigkeit des Subjektmodells stellt Kai Kauffmann als ein »generatives Modell« (S. 111) dar, indem er durch die Jahrhunderte eine Wiederkehr des Heroischen bis hin zu Quentin Tarantinos Kill Bill beschreibbar machen will. Denn zwischen affektiver Tiefenstruktur und ästhetischer Oberfläche könne eine, so ließe sich folgern, eigene Nebengeschichte des Subjektiven geschrieben werden, die sich gleichsam in Intensitätsskalen ästhetisch ausbildet. Ein Eingehen auf kritische Positionen zum Subjektbegriff in der Tradition des Idealismus vermisst man hier jedoch ebenso wie in Pietzckers weiter hinten im Band gesetztem Beitrag, der versucht, die subjektive Dimension des Textes psychoanalytisch für die Literaturwissenschaft zurückzugewinnen: »Was Autor und Text [...] gemeinsam haben, sind bewusste und unbewusste Szenen, die im Durchgang von den Autorinstanzen bewusst und unbewusst ausgewählt und umgeformt werden« (S. 212) und in diesen Transformationen ›Text‹ als »menschliches Verhalten zu Menschlichem« (S. 219) begreifen ließen.

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Von einer Doppelstrategie gehen auch die beiden Beiträge von Joachim Pfeiffer und Franziska Schößler zum Bildungsroman aus, wenn sie – wie in der neueren Forschung üblich – an die Stelle von Kontinuität und Entwicklung Diskontinuität und Kontingenz setzen. Während Pfeiffer die Subversion des väterlichen Autoritätsprinzips – als Gründungsakt! – im Wilhelm Meisters Lehrjahren analysiert, beschreibt Schößler anhand des gleichen Romans, wie die Geschichte des Subjekts zugleich als »Abgesang auf das vereinzelte Subjekt in seiner Unverwechselbarkeit und reflexiven Tiefe« (S. 151) zu verstehen sei – eine Diagnose, die sie bei Kafkas Schloß-Roman in einem Weg zur »reine[n] Anfänglichkeit« konsequent hin zur Geste des Schreibens und zur Schrift auf den Punkt gebracht sieht.

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Einer Linie historischer Transformationen folgt auch Georg Mein. Beginnend im 18. Jahrhundert beschreibt er die Umakzentuierung von Aristoteles’ / Theophrasts Kopplung von Melancholie und Genie: »Die literarische Inszenierung von Trauer ist [...] beides: Begründung von Autorschaft und Psychopharmakon der Melancholie.« (S. 178) Beispiel ist Moritz’ Anton Reiser, theoretisch greift Mein auf Koschorkes Studie zur Mediologie im 18. Jahrhundert zurück, die eine metonymische Relation von Körpersäften (Melancholie) und Schrift (Autorschaft) suggestiv entfaltet hatte. Der Entauratisierung dieses Melancholie-Modells in der Moderne im Gefolge einer Pathologisierung des Phänomens setzt Mein (mit einem Nebenverweis auf Freuds narzisstische Besetzung der Melancholie im Gegensatz zur Trauer) die Möglichkeiten einer »Wiedergewinnung des klassischen Melancholiemodells« (S. 181) entgegen und konkretisiert dies denn auch schlüssig bei Wilhelm Genazino und dem luxemburgischen Autor Guy Helminger.

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Den umgekehrten Weg – nämlich von zeitgenössischen Fragestellungen – ins 18. Jahrhundert zurück geht Achim Geisenhanslüke. Seine Entgegnung auf Anselm Haverkamps Hölderlin-Lektüre orientiert sich am »Zusammenhang von Trauer und Allegorie« (S. 192), wie er in einer Linie von Derrida zu de Man und weiter zu Benjamins Trauerspielbuch gegeben sei. Insbesondere das Moment der Verschwiegenheit der Trauer impliziert für ihn eine Widerständigkeit, die gegen de Mans und Haverkamps dekonstruktive Entgrenzung in melancholischer Dereferentialisierung greifbar sei. So beschreibt er in Hölderlins Antigone-Bearbeitung den »Versuch, einen Abschied von der Antike zu formulieren, der trauernd Raum für Neues freigibt« (S. 203). Mit Hölderlins Metapher der ›schneehellen Tränen‹ umreißt sich so ein literarischer Ort, der gleichsam sichtbar blind ist und zu einer ironischen Lektüre von de Mans Blindness and Insight einladen könnte.

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An Betrachtungen wie die Kauffmanns zur figurativen Neubesetzung des Subjektiven schließen sich Aufsätze wie die von Helmut Scheuer an, der nach der Subjektposition des Helden in der literarischen Moderne fragt und sie nurmehr als »Konkretisierungen eines Typus« (S. 230) ausmacht. Subjektivität (und Singularität) bleibt hier eine gleichermaßen zweifelhafte wie notwendige Kategorie.

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Subjekt, Gegenwart, Körper

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»Grundeinstellungen der Subjektivität« (S. 256) sieht Bernhard Arnold Kruse in der Gegenwart neu konfiguriert. Wie die meisten Aufsätze dieses Bandes folgert er hieraus jedoch keine Absage an das Subjekt, sondern sieht am Beispiel von Joseph Zoderers Südtirolromanen eine »Ironie der Alterität« (S. 257) am Werk, mit der ein dynamischeres Subjektmodell das substantielle ersetze. Wolfgang Behschnitt und Andreas Erb wenden sich dem Theater zu, um die Bühne als Ort ›hereinbrechender Wirklichkeit‹ auf diskursive Verschiebungen bezüglich der Autor- oder / und Dramatikerfunktion zu beleuchten.

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Mediale Inszenierungsfragen beschäftigen auch Matthias N. Lorenz (über »Bioterror in der Literatur als Dispositiv der Macht« am Beispiel der politischen Übernahme imaginärer Szenarien in politische Handlungsmomente nach 9/11) und Rolf Parr. Letzterer arbeitet Martin Walsers Realismus als »ein an die thematische Verwendung von hauptsächlich Kino und Fernsehen geknüpfte[n] Realismuseffekt« (S. 307) heraus. Solche Versuche einer Auratisierung bzw. Re-Auratisierung des literarischen Mediums, die den klassischeren auf einer retrospektiven Repräsentationsebene angesiedelten Modellen überlegen sei, sieht auch Peter Stein und versucht so, die Effektstrukturen der Inszenierungen von Literatur zu decodieren – einschließlich der Gefahren, Präsenzeffekte materialer Dinge mit der Präsenz des Literarischen zu verwechseln.

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Dass im Literarischen zunächst und vor allem Wörter, Buchstaben und deren basale Organisationsstrukturen ›präsent‹ sind, kann Monika Schmitz-Emans abschließend materialreich – und selbst dem Alphabet folgend – demonstrieren. Den Ort des Subjekts sieht sie am Ende des Ich – gleich, ob mit Felix Philipp Ingold das Ich oder »Ich« als Zitat sich selbst behaupten könne (und doch darin verschwinde) oder mit Durs Grünbein ein Spalt aufzureißen ist zwischen Eigensinn und einem kopflosen Sprung ins Fremde des Zitats. – Hinzusetzen ließe sich nur noch ein Zitat aus Robert Walsers Alphabet (1921): »I. überspringe ich, denn das bin ich selbst.« 1

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Zeitgemäßer Subjektbegriff?

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Eine Biographie mit vorangestelltem Porträtfoto und ein Werkverzeichnis Klaus-Michael Bogdals beschließen diesen durchaus heterogenen Band, dessen durchgängige Bemühungen um die Formulierung eines zeitgemäßen Subjektbegriffes sich theoretisch häufig an Modellierungen ex negativo (in der Regel mit Foucault als Referenzgröße) abarbeiten; besonders ertragreich erweist sich der umrissene Forschungszuschnitt, wo sich Subjektivität als kritischer Gestus (in zeitgenössische Problemkonstellation) einbringt oder sich auf die figurative Widerständigkeit des Literarischen bezieht – gleichsam als rekurrente Vorgabe für Subjektivität im Zeichen eines Spiels von Absenz und Performanz. Hölderlins schneehelle Tränen bleiben hierin so unerkannt wie einsichtig.

 
 

Anmerkungen

Robert Walser: Alphabet. In: ders.: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. von Jochen Greven. Bd. 17, S. 192 f.   zurück