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Der ganze Gellert

Zur Edition der Nachgelassenen Schriften

  • Christian Fürchtegott Gellert (Hg.): Nachgelassene Schriften. Religiöse Selbstbekenntnisse, Tägliche Aufzeichnungen, Bibliothek der schönen Wissenschaften, Dokumente zu Leben und Werk, Register. In: Ch. F. G.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Hg. von Bernd Witte. Bd. VII, hg. von Kerstin Reimann, Sibylle Schönborn unter Mitarbeit von John F. Reynolds, Sikander Singh, Markus Stein. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2008. 584 S. 1 Abb. Leinen. EUR (D) 199,95.
    ISBN: 978-3-11-018923-0.
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Exakt 20 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Gellerts Gesammelten Schriften (Bd. 3: Lustspiele, 1988) ist nun der letzte Band der kritischen, kommentierten Ausgabe erschienen, und damit der ›ganze Gellert‹. 1 Das ist eine beachtliche editorische Leistung des Herausgeber- und Redaktionsteams um Bernd Witte, sowohl vom hohen Standard der Edition her als auch vom zügigen zeitlichen Erscheinungsrhythmus. Damit liegt endlich das vollständige Werk des von seinen Zeitgenossen ebenso hoch- wie von der Nachwelt geringgeschätzten Autors in ästhetisch ansprechender Ausstattung, solider editorischer Textpräsentation und mit knappen und informativen Kommentaren versehen vor.

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Der letzte Band, herausgegeben von Kerstin Reimann und Sibylle Schönborn, enthält mit den Nachgelassenen Schriften eine Reihe von Texten, die noch niemals gedruckt wurden und, wie beispielsweise die Tagebücher, auch Gellerts Zeitgenossen nicht bekannt waren. Insofern kann dieser Band auch auf das besondere Interesse der Forschung zählen: Bestätigt er die bekannten (Vor-)Urteile über den populären Morallehrer und Fabeldichter – oder ist es Zeit für eine Revision des Gellerts-Bildes? Eine »Gellert-Renaissance« zumindest ruft Sibylle Schönborn in einem ebenfalls Anfang 2009 erschienenen Tagungsband aus, der sozusagen begleitend zur Edition entstand und Gellert und die empfindsame Aufklärung in den Blick nahm:

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Mit Band VII der Gesammelten Schriften Gellerts wurde nun reiches Textmaterial für eine kulturwissenschaftliche Forschung erschlossen, die Gellert als Gelenk- und Schnittstelle in den oben genannten Diskursfeldern lesbar macht. 2
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Aufbau, Editions- und Kommentierungsprinzipien

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Sibylle Schönborn und Kerstin Reimann haben das Nachlassmaterial sinnvoll und übersichtlich in fünf Blöcke unterteilt. Die Gliederung lenkt den Blick vor allem auf den tief, geradezu verzweifelt religiösen Menschen sowie den akademischen Lehrer und europäischen Gelehrten Gellert. Den ersten Block bilden Religiöse Selbstbekenntnisse; es handelt sich um Erbauungstexte des späten Gellert für den privaten Gebrauch, die ihn als »Vertreter einer empfindsam-pietistischen Frömmigkeit« 3 ausweisen. Darauf folgen unter dem Titel Tägliche Aufzeichnungen verschiedene Tagebücher, ebenfalls aus seinen späteren Jahren, von denen besonders das Tagebuch aus dem Jahr 1761 als typisches pietistisches Seelentagebuch von Interesse ist. Das Memorial an Friedrich II., ein Fragment gebliebener Briefentwurf Gellerts im Anschluss an sein Gespräch mit dem Preußenkönig, präsentiert, wenn auch kurz, den »politischen Menschen Gellert«. 4 Den vierten und umfangreichsten Teil bilden die unter dem Titel Bibliothek der schönen Wissenschaften zusammengefassten Musterbibliotheken Gellerts für verschiedene Adressaten und Zwecke sowie Vorlesungsmaterialien und -nachschriften zu diesem Komplex, die die Herausgeberinnen zu Recht sowohl als umfassende »Enzyklopädien des Wissens« 5 (S. 347) um die Jahrhundertmitte, »kommentierte Geschichte der europäischen Literatur von der Antike bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts« (S. 498) wie auch als interessante Rezeptionszeugnisse für Gellerts akademische Tätigkeit einschätzen. Der fünfte Teil schließlich enthält einen kleinen Beleg für Gellerts Übersetzungstätigkeit, die Vorrede zur Übersetzung eines seiner Lieblingsbücher, Jacob Saurins Kurzer Begriff der Christlichen Glaubens- und Sittenlehre, in Form eines Catechismus. Ergänzt werden die Nachlass-Schriften durch Fremd-Dokumente zur Biographie Gellerts, zum einen im Zusammenhang mit seiner akademischen Karriere (Einige Schriften auf die Magisterwürde Herrn Christian Fürchtegott Gellerts um das Ersuchen zur Ernennung zum außerordentlichen Professor) und zum anderen mit seinem Tod (Briefe über das Sterben Christian Fürchtegott Gellerts). Drei Register für die Gesamtausgabe (Werke Gellerts; Personen und Werke; Namen) runden den Band und die Ausgabe ab.

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Der Band enthält den gesamten handschriftlichen Nachlass; nicht aufgenommen wurden lediglich Exzerpte Gellerts aus verschiedenen antiken und zeitgenössischen Autoren. 6 Die Überlieferung dieser Texte wurde bereits unmittelbar nach Gellerts Tod durch die Freunde und frühen Editoren behindert, die einige private Briefe sowie wahrscheinlich einen größeren Teil der Tagebücher als zur Veröffentlichung ungeeignet klassifizierten und im Interesse der weiteren Legendenbildung unterdrückten. Die vorliegende Edition gibt – abweichend von der Praxis der anderen Bände, die jeweils die Erstdrucke zugrunde legen – jeweils die späteste Stufe der jeweiligen Handschrift wieder. Der kritische Apparat enthält eine sorgfältige Beschreibung der Textzeugen und verzeichnet alle inhaltlichen Textvarianten; auf eine historisch-genetische Darstellung wurde, dem Editionsprinzip der Gesamtausgabe folgend, auch hier verzichtet. Nachträgliche Einfügungen Gellerts im laufenden Text wurden durch spitze Klammern gekennzeichnet. Insgesamt werden dadurch die Ansprüche an eine wissenschaftlich solide gesicherte und nachvollziehbar erstellte Textbasis mit denen der Leserfreundlichkeit überzeugend vereint.

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Der Kommentar gibt Erläuterungen historisch veralteter Sprachformen (meist unter Verweis auf Adelung), bibliographische Nachweise von erwähnten Autoren und Werken, teilweise mit kurzen Erläuterungen zur Person (das ist bei weitem der umfangreichste Teil, vor allem bei den Bibliotheken der schönen Wissenschaften) und ermittelt direkte oder versteckte Zitate – bei einem Kompendien-Gelehrten wie Gellert eine Sisyphos-Arbeit, die die Nachwelt dankend und erleichtert zur Kenntnis nehmen wird. Bibelzitate werden nach der Luther-Bibel nachgewiesen, Abkürzungen aufgelöst, Querverweise zum Gesamtwerk bei Gelegenheit hergestellt. Demgegenüber wird auf Erläuterungen zum Kontext – abgesehen von den sehr kurzen Einleitungstexten zu den jeweiligen Textblöcken – weitgehend verzichtet. Ein kommentatorisches Minimalprogramm also – was angesichts der Fülle an Informationen und bibliographischen Nachweisen zu rechtfertigen sein mag. Für mit Gellert, der frühen Aufklärung, der pietistischen Religionskultur oder akademischen Gepflogenheiten nicht vertraute Leser allerdings (was beispielsweise für die meisten studentischen Leser wohl zutrifft) hätten vor allem ausführlichere Überblickskommentare das Verständnis doch etwas erleichtert.

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Zum Inhalt

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a) Religiöse Selbstbekenntnisse:
»Unwürdiger Mensch und größter Sünder«

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Die in diesem Teil versammelten religiösen Gebrauchstexte (Sündenbekenntnisse, Beicht- und Gebetstexte) können als typische und in gewissem Sinn extreme Beispiele für ein pietistisch-empfindsames religiöses Selbstverständnis gelesen werden. In ihrem formelhaften Aufbau und der konstanten Selbsterniedrigung als »unwürd. Mensch u. der größte Sünder« (S. 36) demonstrieren sie eine heute befremdlich anmutende Religionskultur, die bei Gellert einen teilweise kaum erträglichen Druck auf die Lebensgestaltung ausübt. In diesem Zusammenhang werden beispielsweise depressive Zustände, unter denen Gellert häufig litt, nicht als Krankheit, sondern als Sünde begriffen; so schreibt Gellert etwa in der Feyerlichen Erneuerung meines Bundes mit Gott dem Allmächtigen aus dem Jahr 1754:

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Da ich dieses niederschrieb, waren es zwey, bis drittehalb Jahre, daß mich Gott mit Schwermuth u. Traurigkeit des Geistes heimgesucht. Kaltsinnigkeit, Unempfindlichkeit gegen das Gute, gegen die Religion u. den Glauben an Jesum waren meine Plagen. Unvermögen zum Gebete, Gott zu denken, und s. Allmacht, Güte, Allwissenheit; fürchterliche, entsetzliche Gedanken, deren ich mich nicht erwehren konnte, waren mein Jammer (S. 5).
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Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die Empfindsamkeit eine neue Dimension, indem sie geradezu zur religiösen Pflicht erklärt wird: An Gott zu glauben und diesen Glauben nicht zu empfinden, ist eine der größten vorstellbaren Sünden schlechthin.

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Die nahezu pathologische Fixierung auf die eigene Sündhaftigkeit wird am stärksten in der Prüfung Sein selbst vor Gott deutlich: Gellert legt Sündenregister an; Systematisierungsversuche sollen sicherstellen, dass keine auch noch so kleine Gelegenheit zur Versündigung in verschiedenen Lebensaltern und Alltagssituationen übersehen wird; es gibt eine Rangordnung der Sünden. Am bizarrsten wirkt seine hypothetische Sündenberechnung – die noch dazu mathematisch fehlerhaft ist: Begeht man an jedem Tag in jeder Stunde nur eine Sünde, so ergeben sich nach 24 Jahren 16.224 Sünden (nach der Gellertschen fehlerhaften Rechnung; bei richtiger Berechnung wären es sogar noch mehr; vgl. S. 14)!

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b) Tägliche Aufzeichnungen: »befreyt geblieben«

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Dieser Teil enthält verschiedene Typen von Tagebüchern. Mit den Täglichen Aufzeichnungen 1757/58, die als Loseblattsammlung überliefert sind, liegt ein Arbeitstagebuch vor, in dem Gellert Zitate aus seiner Lektüre verzeichnet. Die Niederschrift erfolgte zweispaltig: In der linken Spalte werden beispielsweise lateinische Quellentexte angeordnet, Kommentare und Paraphrasen dazu auf der rechten Seite. In bunter Mischung sammelt Gellert hier lateinische Sentenzen aus den klassischen Autoren, Sprichwörter und Lebensweisheiten (»Ein Gericht kraut mit Liebe ist besser, denn ein gemästeter Ochse mit Haß«, S. 40), Auszüge aus eigenen und fremden Werken. Leitthemen bilden, neben der Religion natürlich, das Verhältnis von Tugenden und Lastern bzw. von Weisheit und Narrheit. Der Kommentar weist für viele Zitate die Quellen nach und stellt unbekanntere Autoren kurz vor; ein vollständiger Nachweis aller versteckten Quellen grenzt ans Unmögliche.

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Am interessantesten ist das einzige vollständig erhaltene Tagebuch aus dem Jahr 1761. Es entspricht dem Typus des Seelentagebuchs: Anfangs enthält es zwar noch Jahresbilanzen und Tätigkeitsberichte über die Aktivitäten des jeweiligen Tages, später verzichtet Gellert jedoch vollständig auf die Chronik des äußeren Lebens zugunsten der Darstellung seiner inneren Empfindungen. Er registriert minutiös Stimmungslagen und Stimmungsschwankungen, protokolliert körperliche und seelische Beschwerden, reflektiert dabei immer wieder auf seine Sündhaftigkeit und Verworfenheit. Als »ein geradezu widerlicher Beweis, wie der arme Leidende sich auch seelisch zermarterte und sein Gemüth durch die übertriebensten und grundlosesten Scrupel über Unglauben, Härte, Verstocktheit, Sinnlichkeit und die zerknirschtesten Gebete, ein trauriger Heautontimorumenos, kasteite«, bewertete Erich Schmidt in seinem Gellert-Artikel in der ADB 7 – der insgesamt eindrucksvoll das negative Gellert-Bild des 19. Jahrhunderts illustriert – das 1863 erstmals publizierte Tagebuch.

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Auch wenn man die moralische Bewertung nicht teilt, springt der pathologische Charakter der extremen Selbstbeobachtung, Selbstreflexion und Selbstverurteilung ins Auge, der zudem auf das merkwürdigste mit der hohen öffentlichen Wertschätzung des Autors als moralisches Vorbild kontrastiert. Am drastischsten demonstriert das vielleicht ein Thema, das zeitweise beinahe jeden der täglichen Einträge begleitet. Bereits am 2. Januar findet sich erstmals zu Beginn des Tageseintrags folgende kryptische Aufzeichnung: »d. 2. Jan. p.n.« (S. 89). Der Kommentar löst diese Abkürzung emotionslos auf: »polutiones nocturnae (lat.), nächtlicher Samenerguß« (S. 410) – verweist allerdings an späteren Stellen nicht mehr auf diesen Eintrag zurück, was für den flüchtigen Leser ein Problem sein könnte. Das Kürzel erscheint fortan kontinuierlich im Wechsel mit »frey. G.L. [Gott Lob]« – Gellert verzeichnet damit das Ausbleiben der nächtlichen »Beschwerung« (S. 102), so eine weitere seiner persönlichen Chiffren für das Unaussprechbare. Tatsächlich jedoch leidet er kontinuierlich unter unwillkürlichen Orgasmen während der Nacht, die nach heutigem Kenntnisstand vor allem in der Pubertät auftreten und keinerlei Krankheitswert haben, allerdings schon in der Bibel als Sünde bezeichnet werden. Und Gellert leidet schwer: Die gestörte Nachtruhe beeinträchtigt den gesamten nächsten Tag und verstärkt seine bekannten Neigung zu Hypochrondrie und Wehleidigkeit:

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Nach dem erlittnen Zufalle bin ich den ganzen Tag mit einem schweren Kopfe, umnebeltem Geiste, u. Unfähigkeit zum Denken u. Lesen beschweret gewesen. So gleich fand sich der Schmerz in der Hüfte wieder, das Brausen im rechten Ohre u. den ganzen Tag ein Anfall vom Husten nebst geschwächtem Magen (S. 112 f.).
[19] 

Ebenso verstärkt wird natürlich das Selbstbild vom völlig verworfenen, rettungslosen Sünder. Insofern zeigt sich hier eine – im wörtlichen Sinne – Nachtseite der rigiden erotischen Selbstdisziplinierung aus religiösen Motiven, die sicherlich persönlichkeitsprägend geworden ist. Auch wenn man sich bei der Lektüre des unangenehmen Eindrucks kaum erwehren kann, dass man hier in der ungewollten Rolle des Voyeurs in eine Privatsphäre eindringt, für deren Schutz der Autor wahrscheinlich alles getan hätte und deren öffentliche Präsentation vernichtend für ihn gewesen wäre, ist der Einfluss auf seine Moralphilosophie und seine literarischen Werke wahrscheinlich nicht zu leugnen.

[20] 

c) Memorial an Friedrich II.:
»die christl. Religion, die Ihnen so verdächtig vorkommt«

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Der kurze, teilweise nur skizzenhafte Briefentwurf scheint zeitlich und vom Duktus her direkt an das Gespräch mit Friedrich II. anzuschließen. Gellert versucht hier, dem Monarchen die Notwendigkeit des Glaubens auf verschiedenem Wege zu beweisen; die Formulierung von der »christl. Religion, die Ihnen so verdächtig vorkömmt« (S. 144) könnte sich direkt auf die Unterredung beziehen. Interessanterweise bezieht Gellert dabei auch den konkreten Nutzen der Religion für den preußischen Staat ein: Sie sei »die Stütze der Könige«, mache »gute Bürger, fleißige Unterthanen u. rechtschaffne treue Soldaten« –»Ihre Armee ist der Beweis« (ebd.). Eben diese rechtschaffenen Soldaten hätten zudem, ebenso wie ihre Offiziere, Gellert nicht nur gelesen, sondern wissen ihn »auch wohl auswendig« (S. 145) – ein verzeihliches Selbstlob, das zudem dazu dient, die eigene Stellung als Autor gegenüber dem Preußenkönig als »großer Held« (S. 143) zu festigen und die eigene moralische Autorität in dieser ungleichen aemulatio zu untermauern.

[22] 

d) Bibliothek der schönen Wissenschaften: »Taugt nicht viel«

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Dieser Bereich bildet den zweiten Schwerpunkt des Bandes neben den Tagebüchern: Hier wird Gellert als akademischer Lehrer präsentiert. Die verschiedenen Hand- und Musterbibliotheken setzen einen deutlichen Schwerpunkt auf der Kompendienliteratur sowie auf antiken Autoren; bei zeitgenössischen Autoren dominieren die Franzosen. Genaueren Aufschluss über die Zusammensetzung der Bibliotheken könnten nur genauere quantitative Untersuchungen erbringen. Bemerkenswert ist jedoch bereits bei oberflächlicher Durchsicht das weitgehende Fehlen philosophischer Originalliteratur, ein Beispiel nur: Leibniz wird nicht mit einem Werk erwähnt, ebenso wie Spinoza, Descartes oder Hume; Locke wird einmal kurz pauschal empfohlen. Das mag damit zusammenhängen, dass der inhaltliche Schwerpunkt der Musterbibliotheken religiöser und/oder pädagogischer Art ist und Gellert sich dazu neben der theologischen Literatur – die einen außerordentlichen Raum einnimmt und alle Zweige religiöser Gelehrtheit aufs ausführlichste umfasst – vor allem auf didaktische Werke zur Einführung in die Wissenschaften (Geschichte, Geographie, schöne Wissenschaften) bezieht. Aber es kennzeichnet doch die akademische Tendenz dieser Texte, die dazu neigen, Kommentare von Kommentaren zu werden und damit die Kanonbildung als zentrale Funktion von Wissenschaft zu stärken. Immer wieder thematisiert werden dabei auch Fragen der Ausstattung, der Übersetzung sowie des sprachlichen Stils – sozusagen darstellerische Sekundärtugenden, die jedoch für Gellert als Stilisten und Theoretiker des Geschmacks keinesfalls ganz zu vernachlässigen sind.

[24] 

Ähnliches gilt für die Vorlesungsmitschriften zu Gellerts Vorlesung über Johann Christoph Stockhausens Bibliothek der schönen Wissenschaften, dessen Literaturempfehlungen Gellert kommentiert und ergänzt – manchmal mit einer Neigung zum Anekdotischen, die wohl die Trockenheit der Verlesung von Bücherverzeichnissen etwas kompensieren soll (wobei man wohl in Betracht ziehen muss, dass die stichwortartige Aneinanderreihung von Kuriosa auch auf die Eigenheiten einer handschriftlichen Vorlesungsmitschrift zurückzuführen sein mag) und die, z. B. in ihrem Interesse für das Sterben bekannter Autoren, dann und wann an seine Moralischen Charaktere erinnert; ein Beispiel:

[25] 
Lucretius. Ist 43. Jahr vor Christi Geburt gestorben. Er war ein Epicuraerer, und ist durch einen Liebestrunck närrisch worden, und hat sich selbst entleibet. Sein Lehrgedicht de natura rerum ist in einer trocknen und dunklen Schreibart geschrieben. Es ist keine Poesie, sondern Philosophie in Versen. Der Cardinal Polignac hat ihm seinen Anti-Lucretium entgegen gesetzt, in welchem er die Epicureischen Lehrsätze des Lucretz wiederlegt. Es ist auch so trocken, wie Lucretz selber, und Philosophie in Versen (S. 208).
[26] 

Bezüglich der nicht-wissenschaftlichen Lektüre empfiehlt Gellert wiederholt Lebensbeschreibungen, deren didaktisch-moralischer Wert hervorgehoben wird (vgl. z.B. S. 233). Demgegenüber wird, wie kaum anders zu erwarten, vor den schlimmen Folgen häufiger Romanlektüre immer wieder gewarnt:

[27] 
Wenn man also jemanden einen Rath geben soll, ob, wie viel, und was für Romanen er lesen könne, so ist es der: Er lese so wenig Romanen als nur möglich ist, so steht er nicht in der Gefahr verderbt zu werden. Allein, zu wißen, welche Metaphysisch, d. i. nach der Regel gut sind, und welche die Moralische Güte, nämlich die Unschuld der Sitten haben: das kann nützlich seyn (S. 237).
[28] 

Interessant sind auch die Bewertungen der zeitgenössischen Poeten, die Gellerts Vorliebe für seine unmittelbaren Zeit- und Generationsgenossen bestätigen und gleichzeitig seine Verwurzelung in konservativen poetischen Vorstellungen zeigen; so heißt es über Fielding:

[29] 
Hr. Gellert hat das wieder Herr Fielding, daß er die niedern Characktere, die er freylich sehr natürlich gezeigt hat, zu sehr liebt, und von Knechten und Mägden hernimmt […]. Dem Leser ist so nichts dran gelegen, ob er weiß wie der, der bey Tische aufwartet, characterisirt gewesen (S. 241).
[30] 

Rousseau schließlich wird kurzerhand abgefertigt:

[31] 
Rousseau. Aemil ist ein Roman. Seine Werke litten, wie sein Charakter viel Schicksal wegen seiner paradoxen, und meistentheils falschen Sätze. Er glaubt, was andere nicht glauben. Die natürliche Religion träget er zu emphatisch vor. Taugt nicht viel (S. 271).
[32] 

e) Dokumente zur Biographie:
Akademische Bräuche und ars moriendi

[33] 

Auch der letzte Teil des Bandes vermittelt aufschlussreiche Einblicke in akademische Bräuche und Verfahren. So bilden die scherzhaft-satirischen Schriften von Gellerts Freunden »auf die Magisterwürde Herrn Christian Fürchtegott Gellerts« ein schönes Gegengewicht zur allzu großen Gelehrtheit der Bibliothek der schönen Wissenschaften und ein lebendiges Jugendporträt einer Dichtergeneration. Die Dokumente um das Ersuchen Gellerts zur Ernennung zum außerordentlichen Professor im Jahr 1751 zeigen akademische Begutachtungsrituale, die sich teilweise bis heute kaum geändert haben. Ein gut gewählter, geradezu empfindsamer Abschluss für die Werkausgabe eines Autors, für den sich im guten und ruhigen Sterben die erfolgreiche Bilanz eines gottesfürchtigen Lebens manifestierte, sind schließlich die Briefe über das Sterben Christian Fürchtegott Gellerts; in einer bezeichnenden Formulierung von Karoline Lucius: »Denn gewiß sein Leben und sein Tod sind voller Ehre und Segen!« 8 (S. 342)

[34] 

Der ›ganze Gellert‹ im Kontext seiner Zeit

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Der Schlussband dieser Ausgabe wird hoffentlich von der Forschung produktiv genutzt werden. Zum einen ermöglicht er einen vollständigeren und vielleicht tieferen Blick als bisher auf den Menschen Gellert – mit all seinen physischen und psychischen Problemen, religiösen Obsessionen und ästhetischen Voreingenommenheiten, aber auch in der Intensität seines Glaubens, dem Umfang seiner Gelehrsamkeit sowie der unerschütterlichen Überzeugung vom umfassenden Nutzen der schönen Wissenschaften, so wie er sie verstand. Zum anderen liegen damit eine Reihe sehr authentischer, zeit- und diskursgeschichtlich aussagekräftiger Dokumente vor, die Einsichten in das komplexe Geflecht von Pietismus und Empfindsamkeit sowie in traditionelle akademische Praktiken und das konservative Selbstverständnis eines Gelehrten in einer sich bereits ausdifferenzierenden Wissenschaftslandschaft ermöglichen. Der ›ganze Gellert‹, so lässt sich resümieren, ist mehr als ein mittelmäßiger Literat und seichter Moralphilosoph; und seine Gesamtausgabe sollte ein bleibenderes Monument hinterlassen als der zweifelhafte Nachruhm, den Schubart bereits 1770 besang:

[36] 

Gellert’s Grabschrift
1770.

[37] 

Hier liegt, steh Wanderer, und schau!
     Die Wahrheit schreibt:
»Der beste Mann für eine Frau –
     Und unbeweibt.
Der beste Vater eines Sohns –
     Und ohne Sohn.
Der Würdigste des größten Lohns –
     Und ohne Lohn.
Der erste Weise seiner Zeit –
     Und ohne Rang.
Es lauschten alle Söhne Teut’s,
     Wenn Gellert sang.
Sein Lohn ist dieser schlechte Stein.« 9

 
 

Anmerkungen

Der Briefwechsel Gellerts von 1740 bis 1766 wurde getrennt publiziert: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von John F. Reynolds. Bd. 1–4. Berlin, New York: de Gruyter 1983–1996.   zurück
Sibylle Schönborn / Vera Viehöver: Einleitung. In: S. S. / V. V. (Hg.): Gellert und die empfindsame Aufklärung. Vermittlungs-, Austausch- und Rezeptionsprozesse in Wissenschaft, Kunst und Kultur. (Philologische Studien und Quellen 215) Berlin: Erich Schmidt Verlag 2009, S. 9–21; hier S. 15.   zurück
Vgl. die Erläuterungen zu Entstehung und Aufbau des Bandes in Kerstin E. Reimann: »Es ist ein köstlich Ding geduldig sein«. Die Edition der nachgelassenen Schriften Christian Fürchtegott Gellerts. In: Schönborn / Viehöver (Anm. 2), S. 285–299, hier: S. 290.   zurück
Reimann (Anm. 3), S. 291.   zurück
Diese und alle folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf den rezensierten Band.   zurück
Was verständlich und pragmatisch ist, in gewisser Hinsicht jedoch auch bedauerlich; unter Umständen ließen sich aus solchen Exzerpten noch weitere ergänzende Informationen zu Gellerts akademischer Praxis gewinnen.   zurück
In: ADB Bd. 8, S. 544–549, hier: S. 545.   zurück
Karoline Lucius an den OberPostkommissar Gellert, Dezember 1769.   zurück
In: Christian Friedrich Daniel Schubart: Sämmtliche Gedichte. Leipzig: Reclam o.J., S. 214.   zurück