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Eine imagologische Vermessung Indiens

  • Winfried Eckel / Carola Hilmes / Werner Nell (Hg.): Projektionen - Imaginationen - Erfahrungen. Indienbilder der europäischen Literatur. Remscheid: Gardez! 2008. 292 S. 24 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 33,00.
    ISBN: 978-3-89796-206-4.
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Indien als Gralsland

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Der Komparatist Winfried Eckel (Johannes Gutenberg-Universität, Mainz) betont in der Einleitung zu diesem instruktiven Tagungsband, wie grundlegend sich das Indienbild im Lauf der Zeit gewandelt habe. Romantische Vorstellungen einer besonderen Spiritualität, die bis zur Bhagwan-Bewegung fortwirkten, seien heute ebenso passé wie die Bilder abjekter Armut, die sich noch in den Indien-Beschreibungen von Günter Grass gehalten hätten. Zur Revision beigetragen haben – ganz abgesehen vom Bollywood-Kino und der Tourismus-Industrie – sicher auch anglo-indische Autoren wie Salman Rushdie, Hanif Kureishi, Amitav Ghosh oder Arundhati Roy (S. 7). Der unter Eckels Federführung edierte Band ist aus einer Komparatisten-Tagung an der Martin-Luther-Universität (MLU) in Halle-Wittenberg im Herbst 2006 hervorgegangen, als dieses neue Indien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war. Zugleich hatte die ikonische Wende in den Kulturwissenschaften der Verbildlichung von »Incredible India« neue Aufmerksamkeit beschert, dessen europäisches Urbild im dritten Buch der Historien Herodots überliefert ist. Dort heißt es, dass es in Nordindien Gold schürfende Ameisen gebe, die größer als Füchse seien.

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In ihrem mediävistischen Beitrag weisen Detlef Goller und Heike Link (beide MLU) darauf hin, dass sich Brünhild im Nibelungenlied mit indischen Edelsteinen schmückt (S. 51). Da Europa angeblich sittlich so verkommen sei, wird im Ritterroman des Jüngeren Titurel aus dem 13. Jahrhundert der Gral nach Indien evakuiert. Dort herrscht der an Gold und Edelsteinen sagenhaft reiche Priester Johannes über vom heiligen Thomas bekehrte Christen (S. 63). Goller und Link erklären, dass der Transfer des Grals vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Reich nicht nur eine heilsgeschichtliche Bedeutung habe. Reichspolitisch betrachtet repräsentiere der Priester Johannes hier einen idealen Papst, der das Lehnswesen seines Imperiums mit einer starken Zentralgewalt regiere (S. 68). Dass der ›heilige Gral‹ in Indien zu finden sei, bleibt in gewisser Weise bis heute ein Leitmotiv des Indien-Diskurses, der das Gefäß je nach konjunktureller Lage füllt, sei es mit spirituellen, sei es mit politischen Vorstellungen.

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Von erstaunlichen Riesenameisen zur Kritik am Sati-Ritual

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Die auf Südasien spezialisierte Historikerin Gita Dharampal-Frick (Universität Heidelberg) hat eine Abbildung der eingangs erwähnten monströsen Riesen-Ameisen in Sebastian Münsters Cosmographia aus der Mitte des 16. Jahrhunderts ausgegraben (S. 43). Im Mittelpunkt ihres Beitrags steht eine von Theodor de Bry begründete Serie von Reiseberichten aus West- und Ostindien, die ab 1590 erschien. Sie war mit Kupferstichen illustriert, einer zeigt sadistische Praktiken am Hof des Großmoguls. Dort heißt es mit beißender Ironie, dass dieser orientalische Despot »kurzweilige Wettspiele« veranstalte, in denen zum Tode Verurteilte nur mit einem Schwert bewaffnet Löwen zum Fraß vorgeworfen werden (vgl. S. 12 f., 47). Die Subscriptio zur Abbildung einer Witwenverbrennung lautet, dass die Frau »mit Freuden« zu ihrem Mann ins Feuer springe (vgl. S. 38, 49). Dharampal-Frick vertritt die Auffassung, dass diese Berichte über India Orientalis im Gegensatz zu den monströs-phantastischen Vorstellungen, die noch ein halbes Jahrhundert vorher kursierten, schon beträchtlich realitätsnäher seien (S. 42).

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Der Religionswissenschaftler Daniel Cyranka (MLU) stellt den Mitte des 18. Jahrhunderts von dem dänischen Hofprediger Erik Pontoppidan vorgelegten Menoza-Roman vor. In ihm lässt sich ein Inder auch unter dem Eindruck einer Witwenverbrennung von pietistischen Missionaren in der dänischen Kolonie Tranquebar taufen (S. 79 ff.). Der fromme Menoza reist sodann nach Europa, wo er selbst in Halle, dem Zentrum der pietistischen Mission, bloß »Finsterniß und Boßheit« vorfindet. Für Cyranka lautet die Botschaft dieses Romans, dass sich der wahre Pietismus nur noch im vom Bartholomäus Ziegenbalg missionierten Indien finden lasse (S. 82 ff., 88 f.).

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Auch Jörg Esleben (University of Ottawa) kommt in seinem Beitrag zu Indien-Reiseberichten aus dem Zeitalter der Aufklärung auf das Sati-Ritual zu sprechen. Dieses wird nun nicht mehr einfach kulturrelativistisch als kurioses Brauchtum behandelt. Der französische Naturforscher Pierre Sonnerat habe die Selbstverbrennung auf dem Scheiterhaufen des verstorbenen Ehemanns nicht nur detailliert beschrieben, sondern mit einer richtenden Haltung auch als Folge eines schrecklichen Aberglaubens verurteilt. Diese Form der Darstellung beanstandet Esleben generell. Für ihn maßt sich Sonnerat ein stereotyp abwertendes und polemisches Urteil über Indien nach europäischen Maßstäben an, von der »Tyranney« seiner »despotischen Regierung« bis zur »entnervenden Hitze des Klimas« (S. 98 f.). Eine ausgewogenere Interpretation hätte Sonnerat jedoch eine scharfe Kritik des rituellen Frauenmords zugestehen können.

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Von der romantischen Indomanie zur Buddhismus-Welle

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In den meisten Beiträgen des Bandes stehen germanistische Themen im Vordergrund. Christine Maillard (Université Marc Bloch, Strasbourg) zeigt, dass Johann Gottfried Herder eine positive Auffassung von Religion und Kultur der Bramahnen entwickelt hat, die sich auch in seiner Lyrik niederschlage. Hier bereitet sich die romantische »Indomanie« vor (S. 109, 112). Werner Nell (MLU) liest Jean Pauls Hesperus (1795) als einen Versuch der Auseinandersetzung mit Indien (S. 129). Im Roman tritt mit Emanuel-Dahore ein ambivalenter »weiser Eremit indischer Abkunft« (S. 136) auf. Zwar korrespondiert dessen moralische Verachtung der Welt mit einer romantischen Todessehnsucht, aber zugleich werde dem Menschen die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung abgesprochen (S. 145 f.).

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Für Ernst Stöckmann (MLU) entpuppt sich Hermann Hesse in der Verarbeitung seiner Indienreise des Jahres 1911 als interkultureller Hermeneut avant la lettre. Einfühlendes Verstehen des Fremden und Selbsterfahrung des Reisenden gingen bei Hesse Hand in Hand (S. 183). Ursula Kocher (Freie Universität Berlin) fragt, wie der Buddhismus im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in der deutschen Literatur thematisiert wurde. Am Beispiel Paul Dahlkes zeigt sie, dass die diskursive Konstruktion eines buddhistischen Indien aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs heraus zu einer Projektionsfläche für eine friedliche Lebensweise wurde (S. 158).

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Utopischer Projektionsraum oder Land der Selbstauflösung? – Unterschiedliche Indien-Diskurse
in West- und Ostdeutschland

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Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt Indien im Literaturbetrieb der beiden deutschen Teilstaaten in ganz unterschiedlicher Weise vor. Im Osten entspringt der Indien-Komplex der Problematisierung politischer Identität. Im Westen hingegen herrscht eine Tendenz vor, in der Indien zur Herausforderung für die Ausbildung subjektiver Identität wird. Thomas Wägenbaur (International University, Bruchsal) führt die Figur Harm aus Grass’ Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus (1980) als jemanden vor, der seiner Integration in die indische Kultur dann am nächsten komme, wenn er an Diarrhöe leidet (S. 192, 197). Doch selbst im Kontakt mit Slumbewohnern blieben Harm und seiner Frau Indien fremd, weil sie zu viel über Fakten reflektierten, anstatt die Fremde an sich heranzulassen (S. 194).

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Fichtes Wolli Indienfahrer (1980) hingegen forciert die Auflösung seiner alten Identität, indem er eine Hybridisierung mit dem Fremden anstrebt (S. 193, 195, 199). Rekha Kamath Rajan (Jawaharlal Nehru University, New Delhi) kritisiert mit ähnlicher Stoßrichtung die »Ästhetisierung der Slums« bei Grass, weil »Indien und seine sozialen Verhältnisse« hier zum »subjektfernen Gegenstand der Darstellung« würden. Diese werde von einer nur »vermeintlich objektiven Beobachterposition« aus artikuliert (S. 205). Dem Darstellungsmodus bei Fichte vergleichbar findet sie ein ähnliches Interesse an Selbstauflösung, das in der Indien-Erfahrung gründet, sowohl im Roman Raumlicht. Der Fall Evelyne B. von Ernst Augustin (1976) als auch in Felicitas Hoppes Erzählung Fakire und Flötisten (2001) (S. 206 ff.).

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Carmen Ulrich (Ludwig-Maximilians-Universität München) hat in einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft Anthologien untersucht, die in der DDR mit literarischen Texten indischer Autoren herausgegeben wurden. Einer ihrer interessantesten Befunde lautet, dass in einem Aufsatz des Erzählers Khwaja Ahmad Abbas Über Indiens Literaturen bezeichnenderweise das radikale Bekenntnis zum Kommunismus und zum Klassenkampf der Zensur zum Opfer gefallen sei. Im Namen der Völkerfreundschaft wurden kritische Aussagen über das sozialistische Bruderland Indien in den Anthologien ausgespart. Die Textauswahl rückt stattdessen die Kritik am britischen Kolonialismus und der mit ihm verbündeten ›reichen‹ Inder in den Vordergrund (S. 220 ff.). Hier geht es in erster Linie darum, den indischen Orient so zu vereinnahmen, dass sich die DDR in der Allianz mit ihm positiv vom westlichen System abgrenzen lässt (S. 226 f.).

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Shaswati Mazumdar (University of Delhi) wendet sich einer Serie von Texten zu, die auf das Motiv der Entdeckerfahrt des Kolumbus und dessen Versuch, den indischen Osten durch eine Fahrt nach Westen zu erreichen, rekurrieren. In einem frühen Kolumbus-Drama von Peter Hacks steht die Eröffnung des indischen Zeitalters als Chiffre für den gewaltsamen Prozess der ursprünglichen Akkumulation von Kapital im Kontakt der europäischen Entdecker mit den indigenen Kulturen (S. 231). Fritz Rudolf Fries legte Mitte der 70er Jahre eine Erzählung mit dem Titel Der Seeweg nach Indien vor, in der Indien als Metapher für eine eventuell auf Umwegen erreichbare sozialistische Utopie figuriert. Christoph Hein hingegen negiert diese Möglichkeit mit seiner Erzählung Kein Seeweg nach Indien aus dem Jahr 1990. Hier tritt ein gescheiterter Kolumbus als Allegorie für das Scheitern des sozialistischen Projekts auf den Plan (S. 237 ff.).

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Indien als Chutney

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Ergänzt wird der Band durch zwei romanistische Beiträge. Susanne Kleinert (Universität des Saarlands) analysiert die italienische Perspektive auf Indien im 20. Jahrhundert. Hervorhebenswert ist die Beobachtung, dass der engagierte Intellektuelle Pier Paolo Pasolini angesichts der politischen Stagnation im Italien der 60er Jahre in der Begegnung mit Indien seine politischen Hoffnungen auf die Dritte Welt projiziert. Denn dort sei man noch nicht so konsumorientiert wie im Westen (S. 251). Carola Hilmes (Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt) bespricht Marguerite Duras’ Film India Song (1975), dem sie aufgrund seines Montagecharakters und der daraus folgenden Polyphonie eine kritische Einstellung gegenüber dem Kolonialismus konzediert (S. 274).

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Der Anglist Wolfgang Riedel (Johannes Gutenberg-Universität, Mainz) schließlich bringt mit Salman Rushdies Midnight’s Children (1981) noch eine Art indisches Selbstbild ins Spiel. In einer Schlüsselstelle des Romans metaphorisiert sein Protagonist Saleem die Geschichte Indiens, seine eigene Geschichte, mit der Zubereitung von Chutney: »Things – even people – have a way of leaking into each other […], like flavours when you cook« (S. 281). Hier erscheint die Hybridisierung als Utopie, die in Indien wirksame zentrifugale Tendenzen aushebeln könnte.

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Postkoloniale Perspektiven

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Den Editoren ist es gelungen, mit diesem Band einen imagologischen Bogen vom Mittelalter bis heute zu schlagen. Zum Erfolg dieser komparatistischen Vermessung Indiens hat die interdisziplinäre Zusammenarbeit beigetragen, die von der Indologie über die stark vertretene Germanistik zur Romanistik reicht. Die Kollegen aus der indischen Germanistik haben die Diskussion ­mit ihrer anthropologischen Außenperspektive auf die fremde deutsche Kultur bereichert. Wer in Zukunft Studien zum Indien-Bild in der deutschen Literatur betreibt, wird deshalb an diesem Buch nicht vorbeikommen.

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Dem Herausgeber Eckel scheinen die verstörenden indischen Schreckbilder von »entsetzlichen sozialen und hygienischen Bedingungen« inzwischen zu »verblassen« (S. 7). Er hat diesen Satz am Ende der Boomjahre geschrieben, während der Sensex einen Höhenflug sondergleichen absolviert hat. Bei Armut und Hunger in der indischen Gesellschaft geht es aber nicht nur um diskursive Konjunkturen, sondern auch um eine longue durée sozialer Tatsachen. Nicht zuletzt die aktuelle Rezession macht sie objektiv messbar und subjektiv erfahrbar. Ihre seismographische Aufzeichnung ist eine nicht unbedeutende Arbeit der Literatur. Eine Kulturwissenschaft mit kritischer, postkolonialer Perspektive wird diesem Thema in Zukunft vermutlich wieder mehr Aufmerksamkeit widmen müssen.