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Was aber ist literarisches Wissen?

Eine logisch-semantische Analyse der Wissenspoetologie

  • Tilmann Köppe: Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke. (Explicatio) Paderborn: mentis 2008. 304 S. Kartoniert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 978-3-89785-117-7.
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Zum Stand der Diskussion

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Schon 2007 hat Tilman Köppe einen wichtigen Beitrag zur theoretischen Fundierung der Wissenspoetologie geleistet. Er untersucht in der Zeitschrift für Germanistik, wie es zu der verbreiteten Behauptung kommen konnte, »in Literatur sei (ausgerechnet) Wissen enthalten.« 1 In sprachanalytischer Perspektive sei diese These nämlich in hohem Grade erklärungsbedürftig. Köppes Forderung nach einem präziseren Umgang mit ›Wissen‹ in der aktuellen germanistischen Forschung wurde von Roland Borgards und Andreas Dittrich in ungewöhnlich scharfem Ton zurückgewiesen 2 ; sie sei lediglich als ein destruktiver »Einwand gegen die Arbeit all derjenigen zu verstehen, die sich mit dem Verhältnis von Literatur und Wissen auseinandersetzen« 3 .

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In der Tat besteht Köppe sehr deutlich erstens auf einer trennscharfen Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Kommunikationspraktiken. Zweitens hält Köppe auf dieser Grundlage auch für den Bereich der Dichtung strikt am Wahrheitskriterium fest, insofern literarisches ›Wissen‹ begründet werden soll.

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Eben diese beiden definitorischen Bestimmungen werden von Borgards / Dittrich als metaphysische Konzeptionen abgelehnt – und damit ein Begriff von ›literarischem‹ Wissen verteidigt, der von einem universalen Textarchiv ausgeht, dem Differenzen wie ›fiktional / faktual‹ oder ›wahr / falsch‹ rein äußerliche Zuschreibungen sind, durch die lediglich eine längst überholte ›Zwei-Kulturen-Lehre‹ reproduziert werde:

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Borgards / Dittrich vertreten damit eine Form der Wissenspoetologie, die mit einem weiten Wissensbegriff arbeitet und damit jeglichen Text in ein universales Archiv des Wissens einordnen kann. Köppes Position hebt sich von dieser Vorstellung scharf ab, wodurch hier die Konturen der Auseinandersetzung im Feld der Wissenspoetologien besonders deutlich sichtbar werden.

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Ein pragmatistischer Wissensbegriff

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Köppes Dissertationsschrift Literatur und Erkenntnis ist vor diesem Hintergrund einer wissenspoetologischen Auseinandersetzung zu lesen.

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Indem Köppe seinen logisch-semantischen Untersuchungsansatz pragmatistisch erweitert, kann er auf einem distinkten Konzept von ›Wissen‹ bestehen, dies aber zugleich über die Instanz des Lesers auf die tatsächliche soziale Praktik ›Literatur‹ anpassen. Köppe stellt also nicht allein die Frage, ob es fiktionale und zugleich wahre Sätze gibt, die in einem erzählerischen Begründungszusammenhang stehen, sondern er stellt (sich) die Frage danach, »inwiefern fiktionale literarische Werke für uns eine Quelle von Erkenntnis oder Wissen sein können.« (S. 11)

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Köppe modelliert die Relation von Literatur und Wissen vermittels der pragmatistischen Untersuchung, ob ein Leser durch die Lektüre einer Dichtung Wissen erworben hat. Dies habe den Vorteil, dass es falsche Einzelsätze in Dichtung geben kann, ohne dass die Möglichkeit für ›literarisches Wissen‹ per se gefährdet ist, weil ein kompetentes Publikum diese Störungen ausgleichen könne.

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Auch die Ansprüche an die Stabilität der Rechtfertigungskonstruktion sind auf diese Weise geringer, weil sie nach Köppe nicht vollständig textintern erzeugt werden müsse, sondern in der Interaktion zwischen Text und Publikum entsteht.

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Diese grundsätzliche Entscheidung im Untersuchungsdesign erleichtert die Verteidigung der Position, dass es ›literarisches Wissen‹ gebe. Allerdings gerät Köppe in die Gefahr, lediglich zu behaupten, dass man aus dem Anlass der Lektüre einer Dichtung eigenständig Wissen erwerbe. Das ›literarische Wissen‹ wäre dann aber nicht ein Urteil, das im und vom Text als wahr behauptet wird, sondern ein Urteil, das ein Leser aufgrund seiner Auseinandersetzung mit einem Artefakt gefällt hat.

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Um es vorwegzunehmen – Köppe bleibt meines Erachtens die Antwort auf die Frage schuldig, warum man dann von ›literarischem‹ Wissen sprechen soll, wenn die Dichtung lediglich ein zufälliges Objekt zur kognitiven Aktivierung des Publikums darstellt. Auch anderen Phänomenen in der Welt wird ja nicht selbst das Wissen zugeschrieben, das in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihnen erzeugt wird. ›Literarisch‹ wäre ein Wissen erst dann zu nennen, wenn die Dichtung den Erkenntnisprozess nachhaltig zu instruieren in der Lage ist.

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Die Argumentationsschritte

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Im Gegensatz zu einem großen Teil der wissenspoetologischen Forschung geht Köppe davon aus, dass die Frage nach dem Wissen der / in Literatur ernsthaft auf ihre grundsätzliche Plausibilität hin zu prüfen ist. Und eine kaum zu überschätzende Qualität der Arbeit liegt gerade darin, dass sie sich mit den philosophischen Einwänden gegen die Vorstellung eines literarischen Wissens kenntnisreich und präzise abarbeitet. Weil Köppe diese Einwände ernst nimmt und sie von ihrer starken Seite präsentiert, ist seine Verteidigung literarischer Erkenntnisfähigkeit umso ernster zu nehmen.

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Köppe geht dabei in drei Schritten vor: Um die Argumente in Bezug auf die Möglichkeit einer kategorialen Unvereinbarkeit von Fiktion und Wissen prüfen zu können, muss er zunächst einen elaborierten Begriff von ›Fiktion‹ entwickeln (Kap. 2). In den beiden Haupteilen der Arbeit (Kap. 3 und 4) dient dann die Unterscheidung von theoretischem und praktischem Wissen als argumentativer Ausgangspunkt.

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Köppe kommt zu dem Ergebnis, dass sich durch die Lektüre fiktionaler Texte tatsächlich ›Wissen‹ erwerben lasse, wenn auch nur in wenigen definierbaren Formen und in deutlich eingeschränkterem Umfang, als dies in Rahmen konkurrierender Theoriemodelle behauptet wird. Schließlich fügt Köppe noch ein Schlusskapitel an, in dem er ›autonomistische Fragen‹ behandelt, also Einwände der Form: »Literatur kann zwar vielleicht eine Quelle von Wissen sein [...]. Wer Literatur als Wissensquelle behandelt, wird ihren wahren oder eigentlichen Qualitäten nicht gerecht.« (S. 205)

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Theoretisches Wissen und die Fiktionalität

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Köppe beginnt seine Ausführungen mit der Erläuterung seines Fiktionalitätsbegriffs, da es für die Frage nach dem publikumsseitigen Erkenntnisgewinn durch Literatur entscheidend ist, ob durch erkennbare »F-Intentionen« (S. 27) eine »F-Rezeptionshaltung« (S. 30) hervorgerufen werde. Diese Haltung wäre nämlich dann von einem kompetenten Umgang mit fiktionalen Werken (W) gekennzeichnet, zum Beispiel dem Wissen dass hier »übliche Sprechaktbedingungen aufgehoben sind, [und] dass Wahrheiten über die vorzustellenden Sachverhalte, von denen in W die Rede ist, [ausschließlich] von W abhängen« (S. 35).

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Urteile, die in fiktionalen Texten geäußert werden, nicht nur auf die fiktive Welt sondern auch auf die reale Welt zu beziehen, ist dagegen höchst problematisch, wodurch im Kontext einer F-Rezeptionshaltung der Erwerb von Erkenntnis über die reale Welt fragwürdig bleibt.

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Im folgenden Kapitel über ›Theoretisches Wissen‹ unterscheidet Köppe denn auch ›Wissen über Literatur‹ und ›Wissen über die Welt‹, da man durch Lektüre lediglich Wissen über die Literatur selbstverständlich erwirbt. Man kennt den entsprechenden Text und hat – insofern dieser als Teil der Realität angesehen wird – auch Wissen erworben, nämlich zum Beispiel das Wissen über den Inhalt des jeweiligen Romans.

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Wenn die Frage nach ›literarischem Wissen‹ gestellt wird, ist aber gerade dieser Teil der Realität nicht gemeint, da das Wissen über Literatur nur fiktive Gegenstände betrifft. Stattdessen geht es »um Wissen über die Welt, das man anhand von Literatur gewinnt.« (S. 61) Da es Köppe selbst aber nicht um das Wissen eines ›Autors‹ geht, der dieses in Form eines literarischen Textes äußert, sondern um das Wissen eines Lesers, der dieses Wissen erwirbt, kann er epistemologisch definieren, dass theoretisches literarisches Wissen nur dann vorliegt, wenn eine Person (nämlich der Leser) Überzeugungen erworben hat, »die betreffen, was der Fall ist, die wahr sind und für deren Wahrheit die Person (hinreichend) gute Gründe anführen kann«. (S. 56)

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Es stellen sich also sowohl die Frage, ob »die Sätze eines fiktionalen literarischen Werkes wahr sein [können]?« Als auch: »Können wir anhand eines fiktionalen literarischen Werkes wahre Überzeugungen gewinnen?« (S. 91) Es wäre noch hinzuzufügen: ›Können wir diese wahren Überzeugungen mithilfe des fiktionalen Textes rechtfertigen?‹

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Köppe hält nun allerdings die Wahrheitsfähigkeit fiktionaler Sätze nicht für eine notwendige Bedingung des Wissenserwerbs durch fiktionale Texte. Er kann also die erste Frage interessanterweise verneinen, was bei einer rein logisch-semantischen Analyse nicht möglich wäre und auch hier nur aufgrund der oben dargestellten pragmatistischen Erweiterung der Frageperspektive gelingt. Denn der Bezug auf die Wirklichkeit wird bei Köppe nicht darüber hergestellt, dass gesagt wird, dass etwas der Fall ist und es tatsächlich der Fall ist; sondern dann »wenn es Lesern gelingt, die Absicht des Autors zu erkennen, eine bestimmte Auffassung über die Wirklichkeit nahe zu legen. In diesem Fall kann man sagen, das literarische Werk enthalte eine Anspielung auf die Wirklichkeit.« (S. 102)

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Damit diese intentionale Gerichtetheit funktioniert, sei es nicht notwendig, dass die einzelnen Sätze des Werkes wahr sind; allerdings müsse der Wirklichkeitsbezug durch Ähnlichkeiten, Eigennamen oder Paratexte nahegelegt werden, damit der Leser die Transformation von fiktionalen Sätzen in homophone nicht-fiktionale Sätze vollziehen kann: Wissenserwerb sei also möglich, funktioniere aber nicht analog zum Wissenserwerb, wie er »für (nicht-fiktionale) Sachtexte einschlägig ist« (S. 101).

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Praktisches Wissen und das Wahrheitskriterium

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Nachdem Köppe die These verteidigt hat, dass es grundsätzlich möglich ist, theoretisches Wissen aus fiktionalen Texten zu erwerben, wendet er sich dem Feld des praktischen Wissens zu, das er wie folgt definiert: »Als praktisches Wissen bezeichne ich (hinreichend) gut begründete wertende Einstellungen, in denen eine Person feststellt, dass eine Handlung oder Lebensweise für sie gut, ratsam oder richtig ist.« (S. 168)

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Hier wird nun deutlich, was die spezifischen Wissensbestände sein könnten, für deren Vermittlung fiktionale Texte nach Köppe geeignet seien, die er in vorherigen Kapiteln vorläufig mit den Begriffen ›Anmutungsqualität‹, ›psychologische Wahrheit‹ oder das ›Allgemeinmenschliche‹ bezeichnet hat. Wer etwa als Leser gegenüber einer fiktiven Person eine Emotion entwickelt, die man ›quasi-Mitleid‹ nennen könnte, lerne möglicherweise in ähnlich gelagerten realen Fällen echtes Mitleid zu entwickeln (S. 180). Problematisch an diesem Argumentationsstrang von Köppe scheint mir insbesondere zu sein, dass für das Gelingen der Transformation von »quasi-Emotionen« (S. 176) in wirkliche Einstellungen keine hinreichend objektiven Kriterien genannt werden, da dieser Einfluss von Literatur lediglich »indirekt« (S. 171) wirke und nur subjektiv erfahrbar sei. Köppe bleibt in seinen folgenden Ausführungen zum praktischen Wissen dann weitgehend auf aristotelischer Linie, nämlich dass entlastet vom »Handlungsdruck als auch von den Folgen einer Fehlentscheidung« (S. 188) die Urteilsfähigkeit geschärft und emotionale Strategien erlernt werden könnten.

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Gerade die Klarheit, mit der Köppe seine Argumentation vorbringt, macht hier allerdings auch das zentrale Problem einer theoretischen Konzeption von ›praktischem Wissen‹ im Feld der literarischen Epistemologie deutlich: Im Gegensatz zum theoretischen Wissen, bei dem das Wahrheitskriterium zumindest auf der pragmatistischen Ebene noch gegolten hat, wird ›praktisches Wissen‹ nur noch als begründete Überzeugung definiert. An die Stelle der Wahrheit müssten nun klare Erfolgsbedingungen treten – diese bleiben aber auf die fiktive Welt bezogen. Zu erlernen, Mitleid mit einer fiktiven Person zu haben, sagt eben nichts darüber aus, ob sich dieses Mitleid erfolgreich auf ähnlich gelagerte Fälle in der Realität anwenden ließe. Erschwerend kommt hinzu, dass der belehrte Leser selbst nicht notwendigerweise etwas vom vollzogenen Erwerb praktischen Wissens merkt: Dass das Publikum nicht weiß, ob es nach der Lektüre eines Textes etwas weiß, lasse sich

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dahingehend verstehen, dass ein Teil des Gelernten in einer affektiven Einstellungsänderung besteht, die sich nicht ohne weiteres (oder ohne) Verlust in eine reflektierte sprachliche Form bringen lässt, oder dass der erworbene Wissensbestand selbst auf eine bestimmte Weise affektiv qualifiziert ist (d.h. dass es sich auf eine bestimmte Weise anfühlt, an das Gelernte zu denken). (S. 202)
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Fazit

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Köppe verteidigt die Erkenntniskraft von Literatur, vertritt dabei allerdings die theoretische Variante, dass es die Leser selbst seien, die anhand der Literatur das Wissen zu erwerben haben, so dass etwa die Wahrheitsfähigkeit von Sätzen keine notwendige Bedingung mehr sein muss. Die Inhalte, die durch Literatur vermittelt werden, betreffen demnach insbesondere das ›praktische Wissen‹, also Fragen des moralischen Verhaltens zur Welt.

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Literatur wird von Köppe allzu bescheiden als Instanz der Vermittlung von allgemein menschlichen Einsichten positioniert, so dass kritisch zu fragen ist, ob dieses Ergebnis nicht auch auf kürzerem Wege zu haben gewesen wäre und ob damit die wissenspoetologischen Fragen überhaupt noch betroffen sind.

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Die große Qualität von Köppe liegt dagegen in dem Höchstmaß an intellektueller Redlichkeit und argumentativer Schärfe, mit der es sich den sprachphilosophischen Einwänden gegen die Erkenntniskraft von Literatur stellt und diese verteidigt. Indem er die kritischen Argumente ernst nimmt und ergebnisoffen diskutiert, ist sein Betrag auch philosophisch auf ganzer Linie satisfaktionsfähig, was mit Blick auf die sonstige wissenspoetologische Forschungslandschaft keinesfalls eine Selbstverständlichkeit ist.

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Köppes Monographie, die sich unerschrocken einer ganze Forschungsrichtung kritisch in den Weg stellt und unbequeme aber treffende Einwände formuliert, sei eine Debatte gewünscht, die sich der vorgebrachten Argumente mit der gebotenen Ernsthaftigkeit annimmt. In diesem Fall könnte die Monographie nicht nur einen Betrag zur besseren begrifflichen Fundierung der Wissenspoetologie leisten, sondern auch dazu beitragen, die fortgeschrittene Entfremdung der aktuellen akademischen Philosophie und der germanistischen Literaturwissenschaft abzubauen.

 
 

Anmerkungen

Köppe, Tilmann: Vom Wissen in Literatur. In: Z.f.Germ. XVII (2007), H. 1, S. 11.   zurück
Was eine erneute Replik provozierte: Köppe, Tilmann: Fiktionalität, Wissen, Wissenschaft. In: Z.f.Germ. XVII (2007), H. 3, S. 638–646.   zurück
Borgards, Roland: Wissen und Literatur. Eine Replik auf Tilmann Köppe. In: Z.f.Germ. (2007), H. 2, S. 425. Vgl. Dittrich, Andreas: Ein Lob der Bescheidenheit. Zum Konflikt zwischen Erkenntnistheorie und Wissenschaftsgeschichte. In: Z.f.Germ. XVII (2007), H. 2, S. 398–410.   zurück