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»Unhintergehbare Differenzen«

Sigrid Weigel zu Walter Benjamins Umgang mit Säkularisierung

  • Sigrid Weigel: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder. Frankfurt/M.: S. Fischer 2008. 352 S. Broschiert. EUR (D) 12,95.
    ISBN: 978-3-596-18018-9.
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Sigrid Weigel, die als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin auf beiden Seiten des Atlantiks – in Berlin und Princeton – lehrt, gilt als ausgewiesene Benjamin-Forscherin und untermauert diese Reputation in ihrer jüngsten Studie Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder. Das Buch ist weniger systematisch durchkomponiert, als dass es im Rahmen einer Vielzahl einfühlsamer Lektüren Momentaufnahmen liefert. Als solches partizipiert es an jener Säkularisierungsdebatte, die mit Benjamin, Schmitt, Blumenberg, Derrida und Agamben ihre wichtigsten Stichwortgeber in Europa findet, in Amerika allerdings reger geführt wird. Weigels transatlantische institutionelle Bindung spiegelt sich in der Genese dieser Debatte und korrespondiert, vielleicht nicht zufällig, mit ihrer besonderen Sensibilität für Übersetzungsschwierigkeiten diverser Art.

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Über-setzung

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Als schwierig gestaltet sich die Übersetzung Benjaminscher Texte bekanntlich wegen seiner singulären, von Denkbildern durchzogenen Schreibweise, die in Übersetzungen und damit in der internationalen Rezeption tendenziell ihre spezifische Signatur verliert. Weigel stellt dar, wie hierbei »oft gerade jene Dimension der Sprache unkenntlich [wird], die an religiöse Zitate in profanen Begriffen erinnert« (S. 14). Um eben jene an religiöse Zitate erinnernde Dimension Benjaminscher Diktion geht es ihr in Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder.

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Dabei interessiert Weigel weniger eine Kritik an ›falschen‹ Übersetzungen als vielmehr »das Problem der Übersetzbarkeit überhaupt« (S. 20). Dieses Problem der Übersetzbarkeit beziehungsweise das korrelierende Problem der Tilgung religiöser Konnotationen identifiziert sie überzeugend als Resultat verschiedener Formen von Assimilation: Verloren geht etwa das komplexe Verhältnis von Intelligiblem und Sinnlichem, welches die Heterogenität der Benjaminschen Sprachbilder ausmacht, zugunsten eines allgemein verständlichen Idioms (vgl. S. 20, 227). Benjamins schillernde, oft mehrdeutige Wendungen werden darüber hinaus an Theoriediskurse adaptiert, die à la mode sein und Benjamins ›Aktualität‹ unter Beweis stellen mögen, Sprache aber letztlich doch nicht als ›Schauplatz‹ sondern ›Vehikel‹ begreifen und so den zentralen Gestus vieler Benjaminscher Texte schlicht verkennen, an ihm vorbeitheoretisieren. Letztere Form der Assimilation begegnet nicht nur in Übersetzungen seiner Schriften aus dem Deutschen in andere Sprachen, sondern findet sich gleichermaßen in deutschsprachigen Arbeiten zu Benjamin, die sein Bilddenken auf den Duktus bereits etablierter (souveränitätstheoretischer, biopolitischer, gewaltkritischer etc.) Diskurse zu reduzieren suchen (vgl. S. 222). Was Weigel mit Benjamin als Problem »unmöglicher Übersetzbarkeit« charakterisiert, findet seinen Fluchtpunkt jedoch in einer dritten Differenz, die sich leitmotivisch durch das Buch zieht, nämlich in der unhintergehbaren »Differenz zwischen sakraler oder biblischer Sprache und modernem, säkularem Diskurs« (S. 20 f.).

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Benjamins Haltung gegenüber [...] Religion und Säkularisierung zeigt sich nicht allein in seinen expliziten Aussagen über das Verhältnis von Messianismus und Geschichte – wie etwa im Theologisch-politischen Fragment und in den Thesen Über den Begriff der Geschichte –, nicht nur in seinen Ausführungen über Literatur und Religion – wie etwa im Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften und im Kafka-Essay – oder seinen Reflexionen zu Sprache und Offenbarung – wie etwa im Kraus-Essay und im Aufsatz Über die Aufgabe des Übersetzers [...]. Sein Postulat ›die Worte beim Namen zu nehmen‹ bedeutet, den profanen Sprachgebrauch buchstäblich auf die biblische [...] Herkunft der Sprache zurückzubiegen. (S. 21)
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Um die Analyse des Zurückbiegens profaner Begriffe auf biblische, beziehungsweise um das Sezieren des Zurückgebogenen, ist es Weigel zu tun. Entsprechend steht die Abgrenzung profaner Konzepte von biblischen im Zentrum ihrer Interpretation Benjaminscher Texte. Wenn, um ein Beispiel zu nennen, Benjamin in seinem Essay Zur Kritik der Gewalt

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das Nachdenken über die ›Vorstellung einer irgendwie denkbaren Lösung menschlicher Aufgaben‹ um den Einschub ergänzt ›ganz zu geschweigen einer Erlösung aus dem Bannkreis aller bisherigen weltgeschichtlichen Daseinslagen‹, dann eröffnet das Begriffspaar Lösung und Erlösung einen Horizont für die Kritik der Gewalt, in dem die ›Lösung‹ als Begriff menschlichen Handelns auf dessen Abkunft von der biblischen Idee der Erlösung hin reflektiert wird: als Übertragung göttlicher Begriffe in die Sphäre menschlicher Politik. (S. 21)
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Doch geht genau dieses strategische Wortspiel des Begriffspaares Lösung-Erlösung in der englischen Übersetzung als ›solution‹ und ›deliverance‹ verloren (vgl. S. 21). Verloren geht, allgemeiner gesprochen, Benjamins Umgang mit der Säkularisierung, jener verwickelten Relation religiöser und weltlicher Inhalte, die sich bei ihm weniger theoretisch konstatiert als vielmehr sprachlich inszeniert findet.

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Schauplätze der Säkularisierung

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Vor diesem Hintergrund lässt sich Benjamins Haltung, wie Weigel plausibel darlegt, kaum ›theologisch‹ nennen, widmet er sich doch jenen Topoi, »die der Theologie entraten sind, nachdem diese ihren privilegierten Deutungsanspruch eingebüßt hat« (S. 12). Benjamins Haltung lässt sich aber auch nicht als ›säkular‹ bezeichnen im Sinne der anspruchsvollen Säkularisierungstheorie Hans Blumenbergs, das heißt als eine »Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten [...], deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten.« 1 Stattdessen charakterisiert Weigel – im Zuge zahlreicher nuancierter Lektüren – die Benjaminsche Denk- und Schreibweise als »nach-biblisch« (S. 13):

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Benjamins Anerkennung der Tatsache, daß nicht wenige, insbesondere die gewichtigsten Begriffe des europäischen Denkens – wie etwa Leben, Mensch, Gerechtigkeit – der biblischen Überlieferung entstammen, sowie die Konsequenzen, die diese Anerkennung für seine Theoriebildung, für den Umgang mit Sprache und Geschichte, mit Dichtung und Kunst hat, stehen im Zentrum dieses Buches. (S. 11)
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Im Zentrum des Buches steht, genauer gesagt, jene »unhintergehbare Unterscheidung« (S. 12) zwischen biblischer Schöpfung und nach-biblischer Historie, die Benjamin nie systematisch formuliert, jedoch konsequent rhetorisch darstellt. Im Rahmen ihrer Erkundung Benjamins nie geschriebener »Theorie der Säkularisierung« (S. 22) interessieren Weigel dementsprechend jene typisch Benjaminschen ›Schwellenkonstellationen‹, wie sie sich aus seiner kontinuierlichen Bezugnahme auf zwei Sphären, eine göttliche und eine profane, ergeben, etwa im Verhältnis von ›bloßem Leben‹ und ›gerechtem Dasein‹ (in Zur Kritik der Gewalt), von ›natürlichem‹ und ›übernatürlichem Leben‹ (in Goethes »Wahlverwandtschaften«), oder aber von ›Zeugung‹ und ›Zeugnis‹ (in Karl Kraus) (vgl. S. 281).

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Was Benjamins Säkularisierungsverständnis von anderen Säkularisierungstheorien, einschließlich des Blumenbergschen Umbesetzungsmodells, unterscheidet, fasst Weigel wie folgt zusammen:

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Er operiert [...] auf einem Schauplatz der Geschichte, auf dem Säkularisierung als Probe auf die Entfernung von der Schöpfung / Offenbarung gedacht wird; d.h. stets als Differenz zur Schöpfung, aber im Wissen um die Abkunft der eigenen von der biblischen Sprache, um eine als immer schon abgetrennten Ursprung zu denkende Abkunft. Deren Begriffe können nicht einfach in säkulare Konzepte übertragen werden [...]. Vielmehr fungieren sie als gleichermaßen unhintergehbare und uneinholbare Maßstäbe. (S. 56)
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Es bedarf kaum der Betonung, dass der hier gewonnene Säkularisierungsbegriff sich nicht in Übertragungsprozessen ausdrückt, an deren Ende fertige Produkte einer Säkularisierung ständen. Anstelle einer etwaigen »Nivellierung oder Versöhnung von Schöpfung und Geschichte« tritt eine Dynamik doppelter Bezugnahme auf profane und religiöse Vorstellungen: »Doppelreferenz anstelle von Zweideutigkeit« (S. 56).

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Benjamin – Schmitt – Agamben

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Im Lichte dieser Darstellung des Säkularisierungsproblems bei Benjamin kommen die Qualitäten und analytischen Leistungen von Weigels Studie erst zur Geltung. Diese betreffen etwa ihre Abgrenzung Benjaminscher Begriffe von der Theorie Carl Schmitts und, in dessen Fahrwasser, Giorgio Agambens. Agamben, so Weigel, versuche, den Benjamin-Text Zur Kritik der Gewalt in die Carl Schmittsche Theorie des Ausnahmezustands beziehungsweise in das Paradigma politischer Theologie einzupassen (vgl. S. 17 f.). Dabei spielt die Behauptung, Benjamin bediene sich Schmittscher Begriffe, eine zentrale Rolle nicht nur für Agambens Lesart einer »Geheimdebatte zwischen Benjamin und Schmitt«, 2 sondern ebenso für seine Interpretation des Verhältnisses beider Theorien: »Auf den Gestus von Schmitt, der Gewalt jedesmal neu in den juristischen Kontext hineinzuschreiben versucht, antwortet Benjamin, indem er ihr – als reiner Gewalt – jedesmal eine Existenz außerhalb des Rechts zu sichern sucht.« 3 Wie Weigel überzeugend darlegt, wird in diesem Resümee Agambens »nicht nur die Argumentation Benjamins«, sondern auch »Gestus und Diktion seines ganzen Essays verkannt« (S. 18). Weigel, die sich zur Souveränitätsthematik im wesentlichen als Philologin äußert, misst Sprache und Begriffen eine zentrale Bedeutung bei, und genau diese Herangehensweise ermöglicht ihr stichhaltige kritische Einwürfe, wie etwa den, wonach Agambens Behauptung, Benjamin benutze Schmitts Wortschatz, sich schlicht nicht halten lasse, »schon gar nicht in der Funktion von Termini technici, d.h. von fachsprachlichen Begriffen« (S. 19). Die mutmaßlich von Schmitt adoptierten Begriffe in Benjamins Gewalt-Essay (›Ernstfall‹, ›Entscheidung‹, ›reine Gewalt‹ etc.) lassen sich, so könnte man im Sinne Weigels sagen, nur im Rahmen der spezifischen narrativen Ökonomie der Benjaminschen Schreibweise bewerten und erweisen sich in eben jenem Kontext als völlig inkommensurabel mit dem Dezisionismus Carl Schmitts. Während Schmitts Konzeption des Politischen, einschließlich seines Begriffs des Ausnahmezustands, innerhalb des Bannkreises traditioneller Rechtsgewalt zu verorten ist, sucht Benjamin im Zuge seiner Erkundung der geschichtstheoretischen Voraussetzungen der Rechtssetzung, eben jenen Bannkreis zu durchbrechen.

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Natürlich ist die »Subsumierung von Benjamins Kritik der Gewalt unter den Diskurs über den Ausnahmezustand und die politische Theologie« nicht allein auf Agambens reduktive Lesart Benjamins zurückzuführen, sondern auch Resultat jener eingangs erwähnten Übersetzungsprobleme »in einer Debatte, die überwiegend englischsprachig geführt wird« (S. 20).

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Denn in der englischen Übersetzung sind aus den ungeheuren Fällen ›exceptional cases‹ geworden [...], womit die Differenz der Benjaminschen Formulierung ›in ungeheuren Fällen‹ zum Ausnahmezustand verschwindet. [...] Und wenn die Auseinandersetzung mit dem Gebot mit der Wendung »to wrestle with it in solitude« übersetzt wird, dann erhält diese von Benjamin als verantwortungsprekär bewertete Handlungssituation gleichsam einen tragischen Zug; sie wird zum einsamen Kampf einer Person, was die Szene für die Souveränitätskonzeption der politischen Theologie tauglich macht: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. (S. 20)
[20] 

Und natürlich steht letztlich außer Frage, dass die von Benjamin diskutierten Phänomene in den Grenzbereichen der Rechtsordnung situiert sind und Schmitts Lehre von der Souveränität insofern tatsächlich nahe stehen (vgl. S. 91, 241–45). Während Schmitt als Rechtstheoretiker aber »die politischen und staatsrechtlichen Begriffe als säkularisierte theologische Begriffe definiert«, die Theologie bei ihm im Staatsrecht also ›aufgehoben‹ ist, diskutiert Benjamin die Angewiesenheit jeder Rechtsgewalt »auf vor- und außerrechtliche Begriffe wie Schicksal und Gerechtigkeit« (S. 91 f.), richtet den Fokus auf das fortwährende Spannungsverhältnis biblischer und profaner Begriffe und weist damit über jegliche rechtswissenschaftliche Fachgrenzen hinaus.

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Unheimliche Aktualitäten

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Ein sich aus ihrer Beschäftigung mit Schmitt und Agamben ergebender, höchst origineller Beitrag Weigels zur Säkularisierungsdebatte liegt nun in ihrer Beobachtung, wonach die »Unterschiede zwischen der Schmittschen und der Benjaminschen Diskussion politischer Theologie« deutlicher zutage treten, »wenn der Vergleich zwischen beiden nicht, wie in der Benjamin-Schmitt-Debatte üblich, allein über die Konzepte von Ausnahmezustand, Souveränität und Entscheidung diskutiert wird, sondern wenn dieser durch seinen jeweiligen Counterpart«, hier der Partisan (aus Schmitts Theorie des Partisanen), dort der Märtyrer (aus Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels) in ein neues Licht gerückt wird (S. 64 f.). Wohl erkennt Weigel die »unheimliche Aktualität« (S. 58) jener zuletzt von Agamben popularisierten Konzepte an und erkennt ihnen mit Bezug auf die »Irakpolitik von George W. Bush [...] durchaus Lehrbuchtauglichkeit« zu (S. 58). Gleichzeitig weist Weigel aber zu Recht auf die »Grenzen [jenes] theoretischen Modells« hin, »das eine biopolitische Fortschreibung von Schmitts Souveränitätstheorie unternimmt« (S. 58):

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Besetzt durch die Kritik an der Bush-Politik, sind die theoretischen Bemühungen um eine den aktuellen Ereignissen angemessene Kritik der Gewalt oder eine Fortschreibung politischer Theologie mehrheitlich blind für die neuen Formen terroristischer Gewalt. Offenbar stellen diese eine sehr viel schwierigere Herausforderung dar für die Versuche, die neue Weltordnung zu analysieren. (S. 59)
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Diese sehr viel schwierigere Herausforderung ergibt sich für Weigel unter anderem aus der zentralen »Rolle des Selbstmordattentäter[s]« und des neuen »Terrorismus mit religiösem Gesicht«, welche einer Betrachtung bedürften, die »den Horizont der Souveränitätstheorie überschreitet« (S. 60). Im gezielten Kontrast zu Schmitt und Agamben, und im Anschluss an Benjamins Trauerspielbuch beschreibt Weigel diese Phänomene als »radikale Angleichung der politischen an eine theologische Szenerie«, als »Rückgriff auf religiöse Deutungsmuster im Dilemma politischer«, kurzum: als »modernes Trauerspiel« (S. 81).

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Die öffentlichen, vorzugsweise an dichtbevölkerten Orten platzierten blutigen Gewaltaktionen, die Präsentation von Opfern und zerstückelten Leibern, die Inszenierung von Selbstmordattentätern als Märtyrern und die rituelle Zurschaustellung der Verwundeten und Toten militärischer Vergeltungsaktionen, von ihren Kombattanten durch die Straßen getragen, erwecken den Eindruck, als hätte auf der Bühne der Politik das Barocktheater die Regie übernommen. [...] Die Aktualität von Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels (1927) [sic!] geht aber über solche Assoziationen heutiger Gewaltszenen zur Ausstellung zerstückelter Körper in der barocken Dramaturgie hinaus – vor allem dadurch, daß Benjamin das barocke Theater als Tyrannen- und Märtyrerdrama beschreibt. Schon aufgrund der Hauptfiguren (Souverän, Tyrann und Märtyrer) und der Schauplätze, die nicht selten in den Osten verlegt sind und gern orientalische Herrscher auf die Bühne bringen, drängt sich dessen Lektüre gegenwärtig auf [...]. (S. 63)
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Was Weigel hier als »die gegenwärtige Aktualität« (S. 64) des Benjaminschen Trauerspielbuchs skizziert, findet sich anhand zahlreicher zeithistorischer Referenzen untermauert. Verweise auf »9/11« (S. 63), »Bushs Bewertung des Flugzeugattentats auf die Twin Towers« (S. 61), seine »Politik im Irak« (S. 16), »die schweren Konflikte zwischen UNO und USA« (S. 61), »Guantánamo« (S. 16), »Saddam Hussein« (S. 85), »Abu Ghraib« (S. 58) bis hin zu den »tschetschenischen Terroristen [und] ihre Geiselnahme in Moskau« (S. 62), »die Fernsehbilder [...] von den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien« (S. 62), »den Selbstmordanschlägen in Afghanistan, im Irak und in Islamabad« (S. 62) etc. fungieren als Referenzrahmen für einen von Weigel systematisch inszenierten Dialog zwischen Benjaminschem Textkorpus auf der einen Seite und den »gegenwärtigen Ereignisse[n] auf den internationalen Schauplätzen von Krieg und Terrorismus« (S. 16) auf der anderen. Es ist dies ein Dialog, dessen Nuanciertheit besticht und in entscheidendem Maße den Reiz des Buches ausmacht. Während Weigels Engführung disparater Diskurse geschickt lanciert ist, lohnte es, den methodischen Status dieser Strategie weiter zu befragen. Inwieweit – um die theoretische Problemlage nur ansatzweise zu skizzieren – erlaubt ein durch einen Autor wie Benjamin vorgegebener begrifflicher Rahmen die adäquate Analyse der heutigen politischen Situation? Das heißt inwieweit kann ihrer singulären Komplexität aus Benjaminscher Perspektive überhaupt Rechnung getragen werden? Und, umgekehrt, inwieweit zwingt der Bezug einer politischen Situation auf einen Text wie das Trauerspielbuch zur Verkürzung des Benjaminschen Begriffsapparats? Natürlich ist Weigel sich dieser Probleme bewusst, geht in gewisser Hinsicht auch darauf ein (vgl. S. 84) und generell entsprechend vorsichtig vor.

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»Es liegt nahe [...], an Saddam Hussein zu denken und die Tyrannei und den Fall Saddam Hussein als Trauerspiel zu betrachten«, erklärt Weigel im Rahmen ihrer Lesart des Trauerspielbuches:

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[A]ls der Krieg gegen den Irak sich streckenweise als Krieg gegen die Person des Herrschers, vielleicht mehr noch gegen dessen Bild darstellte und amerikanische Soldaten dessen monumentale Statuen, überlebensgroße Abbildungen und die Repräsentationszeichen seiner Macht vor laufenden Kameras zerstörten, schien der Tyrann sich für seine Anhänger in einen Märtyrer zu verwandeln, in dessen Namen Widerstandsaktionen gegen die Besatzer entbrannten. Allerdings implodierte das Bild einer durch die größte Armee der Welt gejagten Einzelperson, die allein dadurch, daß sie Zielscheibe einer überlegenen Militärmacht ist, sich für ihre Anhänger in einen Helden verwandelt, spätestens durch die klägliche Erscheinung Saddam Husseins bei seiner Auffindung im Erdloch. [...] Diese Implosion des Tyrannen – in seiner Janusgestalt als Märtyrer und Feind – hat der Dramaturgie des modernen Trauerspiels einen neuen Akt hinzugefügt. (S. 84 f.)
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Vor dem Hintergrund dieser und vergleichbarer Ausführungen stellt sich die generelle Frage, inwieweit der regelmäßigen Bezugnahme auf »die jüngste amerikanische Politik« (S. 61) ein rasches Altern eingeschrieben ist. Diese Beobachtung eines umgekehrt proportionalen Verhältnisses heutiger Aktualität und morgiger Obsoleszenz ist aber von sekundärer Bedeutung. Wichtiger erscheint, dass Weigel einerseits in ihrer Besprechung Agambens nachdringlich vor den Gefahren einer unmittelbaren Aufeinanderbeziehung Benjaminscher Begriffe und »aktuelle[r] Ereignisse« (S. 59) warnt, andererseits jedoch jene Vorgehensweise – unter anderen interpretatorischen Vorzeichen – zu reproduzieren scheint. Die Frage ist eine strategische, nämlich die der Abwägung impliziter Evokation versus expliziter Appropriation der »aktuellen Phänomene[n] des Terrorismus« (S. 62) vor dem Hintergrund der zweifelsfreien explanativen Sprengkraft Benjaminscher Theoreme. Es ist dies keine Frage, die sich tatsächlich beantworten ließe, aber vielleicht eine, die zu stellen und zu diskutieren sich lohnte, und zwar gerade im Rahmen der ungemeinen Plausibilität von Weigels gegenwartshistorischen Referenzen.

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Dialektik der Säkularisierung

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Ein weiteres konzeptionell prägendes Moment des Buches betrifft die eingängige Formel von der »Dialektik der Säkularisierung« (vgl. S. 21, 23, 36, 43, 49, 53, 63, 87, 92, 106, 131, 281 u.a.). Wie bereits angedeutet, grenzt Weigel – im Gegensatz zu Agamben – überzeugend Schmitts Säkularisierungsbegriff, bei dem christliche Konzepte in politischen ›aufgehoben‹ werden (im Sinne einer Theologisierung des Politischen) (vgl. S. 70), von Benjamins sehr spezifischem eigenen Säkularisierungsverständnis ab:

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Benjamins Überlegungen [gehen] vom Problem der Ableitung politischer, rechtlicher und philosophischer Begriffe aus theologischen oder biblischen Überlieferungen aus, stellen das Problem der Doppelreferenz menschlicher Existenz zwischen natürlichem und übernatürlichem Leben ins Zentrum und entwickeln daraus eine Arbeit an der Dialektik der Säkularisierung. Dabei richtet sich [Benjamin] [...] gegen eine [...] Vermischung von Begriffen der göttlichen Gewalt mit den Begriffen des Politischen [...] ebenso wie gegen eine pure Übertragung sakraler Begriffe in profane [...]. Er geht von einer unhintergehbaren Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Ordnung aus [...]. (S. 86 f.; Hervorhebung M.B.-B.)
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Was sich hier und andernorts (vgl. etwa S. 91 f.) als Frage aufdrängt, betrifft den Nexus (»entwickeln daraus«) zwischen jener »Doppelreferenz menschlicher Existenz zwischen natürlichem und übernatürlichem Leben« auf der einen Seite und der von Benjamin bearbeiteten »Dialektik der Säkularisierung« auf der anderen. Wohl legt Weigel sorgfältig dar, wie Benjamins rhetorische Praxis der Säkularisierung mit seinen Überlegungen zum Spannungsverhältnis biblischer und profaner Begriffe korrespondiert. Was indes die Charakterisierung jenes Verhältnisses als ›dialektisch‹ motiviert, bleibt vage. Dies auch und vor allem, weil Benjamin selbst nie von einer »Dialektik der Säkularisierung« spricht. Plausibel ist die Rede von der »Dialektik der Säkularisierung« freilich im Hinblick auf Benjamins Aufsatz zu Goethes Wahlverwandtschaften, denn, wie Weigel schreibt:

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Tatsächlich bildet ja die Hoffnung den Fluchtpunkt des Essays, wie auch die Disposition in Benjamins Aufzeichnungen zur Arbeit am Text belegt. Im Triptychon des Essays – Das Mythische als Thesis, Die Erlösung als Antithesis, Die Hoffnung als Synthesis [...] – bildet die Hoffnung den Endpunkt einer dialektischen Komposition. Ihr Ort ist die Literatur. (S. 116)
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Jene »Dialektik der Säkularisierung« – die sich im Wahlverwandtschaften-Aufsatz konkret als ›Rhetorik einer Säkularisierung‹ manifestiert – stellt Weigel zufolge nun »ein durchgängiges Motiv Benjaminscher Schriften« dar (S. 43). Entsprechend durchziehen Schilderungen zum ›dialektischen‹ Verhältnis von Geschichte und Naturzustand ihre Studie (vgl. S. 36), mitunter auch erweitert im Sinne einer »beständige[n] und ständig weitergedachte[n] Arbeit an Konstellationen einer Dialektik der Säkularisierung« (S. 23). Wenn ›Dialektik‹ allgemein eine philosophische Arbeitsmethode beschreibt, dann scheint der Weigelsche Gebrauch des Begriffs sich darin kaum zu erschöpfen. Der naheliegende Rekurs auf terminologische Traditionslinien von Kant über Hegel bis zu Adorno / Horkheimer wird allerdings auch allenfalls insinuiert, nie expliziert, und so bleibt jene schillernde These von der »Dialektik der Säkularisierung« als »durchgängiges Motiv Benjaminscher Schriften« etwas nebulös.

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Das Wissen der Bilder

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Das Buch kulminiert in einer kontrastreichen Reihe von Aufsätzen, welche Benjamins Kunst-, Medien- und Bildtheorie gewidmet sind. In gewisser Hinsicht lässt sich dieser letzte Teil als Fortsetzung von Weigels vorausgegangenem Benjamin-Buch Entstellte Ähnlichkeit lesen. Hier argumentierte sie, dass Benjamins Denken sich in einer spezifischen Schreibweise vollzöge und von dieser ununterscheidbar sei, da Denken und Schreiben bei Benjamin erst im Bild zueinander fänden. Benjamins »Bilddenken« stellt auch ein Anliegen des vorliegenden Buches dar, allerdings mit Hinblick auf die Frage, »welche erkenntnistheoretische Bedeutung mediale und technische Phänomene in seiner Kunst- und Kulturtheorie erhalten« (S. 300).

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Wie Weigel erläutert, stehen Bilder der Kunst bei Benjamin, ähnlich der Dichtung, unter dem Zeichen eines »Nachlebens der Religion«. »Während die poetische Sprache für das Nachleben der biblischen Sprache bedeutsam ist, geht es bei den Bildern um das Nachleben kultischer, sakraler und magischer Bedeutungen.« (S. 15) Dabei ist es weniger die Tradition christlicher Ikonografie, die Benjamin interessiert, »als vielmehr Farbe und Material der Kunst. Aus ihnen scheint nahezu unmittelbar Sakrales auf« (S. 15). Wie Weigel, die hier (mit und nach Benjamin) an der Schnittstelle von Philologie und Bildwissenschaft operiert, erklärt, ist Benjamins historischer Blick durch die Betrachtung von Bildern – inklusive »technisch reproduzierter Bilder« (S. 298) – geschult: »er favorisiert die Gleichzeitigkeit vor der Kontinuität, den Schauplatz vor der Abfolge, die Gesten vor der Aussage, die Ähnlichkeit vor der Konvention, kurzum: die Bilder vor den Begriffen« (S. 267). Entsprechend konzentrieren sich ihre Überlegungen auf die Verknüpfung seiner Medien- und Erkenntnistheorie vor dem Hintergrund verschiedener Formen piktografischer Zirkulation zwischen Wissenschaft, Kunst, Religion und Literatur. Es sind dies Beobachtungen, die bislang kaum beachtetes medienästhetisches Terrain erschließen und auf Weigels weiterführende Erkundung jener Fragen im Rahmen einer Grammatologie der Bilder 4 gespannt machen.

 
 

Anmerkungen

Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit (Erneuerte Ausgabe). Frankfurt/M.: 1988, S. 75; zit. n. Sigrid Weigel, S. 12.   zurück
Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Frankfurt/M.: 2004, S. 67; zit. n. Sigrid Weigel, S. 18.   zurück
Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Frankfurt/M.: 2004, S. 72; zit. n. Sigrid Weigel, S. 18.   zurück
Sigrid Weigel: Grammatologie der Bilder. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010.   zurück