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'Bespielte' Schwellen

Eine Mythen-Mode als Medium mentalitäts-, ideen- und
ästhetikgeschichtlicher Umbruchserfahrungen

  • Christiane Holm: Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765-1840). (Kunstwissenschaftliche Studien 130) Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006. 336 S. 111 s/w, 21 farb. Abb. Leinen. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-422-06554-3.
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In den Studien der Bibliothek Warburg erschien im Jahr 1932 als 23. Heft Wolfgang Stechows Arbeit Apollo und Daphne, die vornehmlich ikonographisch (mit Ovids Metamorphosen als zentralen Referenztext) dem Nachleben der antiken Fabel in den Werken der bildenden Kunst gewidmet war, aber auch geistesgeschichtliche Kontexte im Funktionswandel der Mythe, so die Allegorisierung und Christianisierung im späten Mittelalter, in den Blick zu nehmen versuchte.

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Kulturwissenschaft im Geiste Aby Warburgs

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Man muss diesen frühen kulturwissenschaftlichen Versuch über das Nachleben einer Mythe, vor allem ihrer Bewegungsbilder und Pathosformeln, in Erinnerung rufen, will man die Bedeutung des außergewöhnlichen Buches von Christiane Holm ermessen. In ihm werden Aby Warburg und seine Schule nicht genannt, aber gleichwohl ist eine ihrer methodischen Grundorientierungen in ihm wirksam: Das ist der Mangel an »grenzpolizeilicher Befangenheit«, wenn es um den epochalen Zusammenhang von Antike, Mittelalter und Neuzeit geht, und darum, »die Werke freiester und angewandtester Kunst als gleichberechtigte Dokumente des Ausdrucks zu befragen« 1 .

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Holms Untersuchung zu einem ähnlichen Gegenstand mit ähnlicher materialer Quellenlage geht in seiner grenzpolizeilichen Unbefangenheit noch erheblich weiter. Das beeindruckend bibliophil ausgestattete, mit zahlreichen klug ausgewählten und hervorragend präsentierten Abbildungen versehene Buch ist hervorgegangen aus einer Giessener Dissertation im Umkreis des Sonderforschungsbereiches Erinnerungskulturen und des Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften; insbesondere seine intermedialen und narratologischen Perspektiven sind dieser intensiven Forschungskooperation geschuldet. Die Arbeit kann nicht nur für ihren Gegenstand den Rang eines Standardwerks beanspruchen, sie legt zugleich exemplarisch Zeugnis ab für die Erkenntnisdimensionen, die Perspektivenvielfalt und, zumal im Hinblick auf die kultur- und psychohistorische Bildungsgeschichte weiblicher Subjektivität, für die Aktualität kulturwissenschaftlich, feministisch orientierter Forschung.

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Überlieferungsgeschichte der Erfindung eines Mythos aus der Perspektive von Intermedialität und gender

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Im Gegensatz zu Apoll und Daphne ist der Stoff von Amor und Psyche nicht in der Textüberlieferung des griechischen Mythos verbürgt, sondern als Erzähleinlage im lateinischen Roman Metamorphosen des Apuleius überliefert. Zugleich existieren viele Darstellungen des Paares in der griechischen Kleinkunst, die sich zumeist nicht auf den Roman beziehen lassen. Aus diesen auseinanderstrebenden, textlichen und bildhaften Überlieferungssträngen entsteht ein Schwellenpotential, eine spezifische Attraktivität, ja eine Konjunktur des Amor und Psyche-Stoffs, die – so die Ausgangsthese von Holm – auf drei Entwicklungen reagieren: 1. auf veränderten Umgang mit der mythischen Überlieferung, 2. auf die Diskursivierung der Seele und 3. auf die Neuordnung der Geschlechter.

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Was den Mythos betrifft, so platziert Holm die Rezeption der antiken Überlieferung von Amor und Psyche immer schon in der Untersuchungsperspektive der Arbeit an einer ›Neuen Mythologie‹, wie sie von Herder und Moritz (u.v.a.) konzeptualisiert wird, letztlich also an der Erfindung eines neuen Mythos. Damit wird die Frage nach der Konstellation von Bild und Text zentral, denn die Konstruktion des neuen Mythos muss das jeweilig andere Medium mitreflektieren. Die Diskursivierung der Seele befördert den Prozess ihrer Zerfledderung zwischen den verschiedenen Wissenschaften und damit zugleich das Bedürfnis nach sinnlicher Anschauung, nach poetischen Seelenbildern. Die veränderte Bestimmung der Geschlechter am Ende des 18. Jahrhunderts (vom one sex model zum two sex model) bewirkt den Entwurf eines spezifisch weiblichen Geschlechtscharakters, einer imaginierten Weiblichkeit als moralisches Geschlecht, in dem der weiblichen Seele eine höhere religiöse, aus dem Geschichtlichen und Politischen ausgeschlossene Natur zugeschrieben wird. Aus der gender-Perspektive ist die Psyche-Figur, da sie eine aktiv gestaltete Entwicklungsgeschichte hat, geschlechtsübergreifende, brautmystische Traditionen einbegreift etc., besonders geeignet für den Versuch, in diesem Veränderungsprozess die Konzeptionen des Weiblichen überhaupt zu explorieren.

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Holm präpariert diese drei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Debatten über »Mythos, Seele und Geschlecht« als die »Koordinaten« heraus, »in denen sich die Aktualisierungsversuche der antiken Überlieferung von Amor und Psyche in Text, Bild und Alltagskultur entfalten« (S. 14). Dabei geht die Konjunktur der Mythe ihrer ideengeschichtlichen Problematisierung voraus. So wird der in der Alltagskultur, in geselligen Kleinformen, etablierte Stoff wiederum für die altertumswissenschaftliche, pädagogische und ästhetische Aneignung interessant, ohne aber vom Höhenkamm absorbiert zu werden. Das macht ihn für Geselligkeitsformen, Paarungsspiele und Privatmythologien etc. weiterhin interessant. Dabei wird aber nun keineswegs abgehandelt, ob und wie sich in den ästhetischen Aneignungen von Amor und Psyche Bezugnahmen auf die jeweiligen Debatten in den drei Feldern nachweisen lassen, sondern die Amor und Psyche-Rezeption wird als der Versuch entwickelt, die drei Fragen »innerhalb einer zeitgleich theoretisch ebenso reflektierten wie ersehnten eigenen Qualität des Mythos« (S. 14), zu beantworten.

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Methodische Grundlegung –
»Arbeit am Mythos«, ein Konzept und seine Fortschreibung

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Den methodischen Grund für dieses Vorhaben legt Holm, indem sie Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos (1979) als theoretische Grundlage und zugleich als Ausgangspunkt für kulturwissenschaftliche Fortschreibungen nimmt. Dabei macht sie sich eben diesen Begriff einer »Arbeit« am Mythos zu eigen, nach dem der narrative und ikonische Kernbestand eines Mythologems, der Grundmythos, nicht ein Vorgegebenes bildet, sondern erst durch historische Bedürfnisse entdeckt, erprobt und erhärtet wird. Vor allem die Goethe-Studie in Blumenbergs Buch kann Holm für ihre Problemstellung produktiv machen, und das dreier Besonderheiten wegen: der mittleren Abstraktionsebene, die erlaubt, Einzelanalysen mit theoretischen Reflexionen zu verbinden; des Einbezugs der niederen Kunstgattungen und der Alltagskultur; des rezeptionsästhetischen Mythosbegriffs, mit dem das Bemühen eines disparat überlieferten Kunstmythos nachgezeichnet werden kann, immer erneut einen Grundmythos zu Ende zu bringen, gelegentlich womöglich mit dem Versuch, einen ›Urmythos‹ freizulegen.

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Holm erweitert Blumenbergs Konzept um zwei für sie zentrale Arbeitskategorien, um die Geschlechterdifferenz und um die Intermedialität. Für die Geschlechterdifferenz kann sie Blumenbergs Abrechnung mit dem Ursprünglichkeitswahn für sich reklamieren, gegen eine Attraktion von vermeintlichen Urmythen, etwa biologischen Letztbegründungen von gender als sex. Für die Intermedialität werden die impliziten oder expliziten Reflexionen der Texte und Bilder auf ihre jeweils eigene Medialität, ihre Grenzen wie ihre Qualitäten, bedeutsam.

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Es ist gerade auch ihr intermediales Erkenntnisinteresse, das diese Studie aus der Forschung zur Amor und Psyche-Rezeption in Text, Bild und Alltagskultur ganz entschieden heraushebt.

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Holm versteht sich auf die Kunst hochdifferenzierter, in kunstwissenschaftlicher und -geschichtlicher Theoriesprache (also wahrhaft interdisziplinär) vorgetragener, dichter Beschreibungen von Bildern, Skulpturen, Innenarchitekturen etc., die ihren literaturwissenschaftlichen, narratologischen Analysen in keiner Weise nachstehen.

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Dominierende literarische Aneignungsweisen des
Amor und Psyche-Stoffes, nacheinander einsetzend, nebeneinander fortbestehend (1765 – 1840)

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Die vier dominierenden literarischen Aneignungsweisen der Zeit von 1765 bis 1840, auf die Holm den Bild- und Textkorpus konzentriert hat, die gesellige, die altertumswissenschaftlich rekonstruierende, die bildungsästhetische und die kunsttheoretisch reflektierende, geben auch die Struktur des Ganzen vor. Ihnen entsprechen Quellengruppen, denen vier Arbeitsformen zugeordnet sind:

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1. Die Rollenspiele im Übergang von Anakreontik zu Empfindsamkeit, überwiegend an Kleinkunst orientiert, vor Sicherung der antiken Überlieferung.

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2. Die altertumswissenschaftlichen Arbeitsformen der (Re)-Konstruktion des Amor und Psyche-Mythos, eingeleitet durch einen Exkurs über den heutigen Forschungsstand der heterogenen antiken Bild- und Textdokumente, um die Selektions- und Deutungsprozesse dieser Arbeitsform sichtbar zu machen.

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3. Anknüpfend an die in den Rollenspielen vorbereiteten Mythobiographien die Überführung des verfügbaren Wissens über die antike Überlieferung in weibliche Bildungskonzeptionen.

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4. Die Kompilation des stabilisierten ›Mythos‹ mit dem parallel in Mode gekommenen Künstlermythos von Pygmalion und die Arbeitsteilung der Geschlechter in der Kunst.

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Diese nacheinander einsetzenden, aber nebeneinander fortbestehenden Arbeitsformen sind verbunden durch das gemeinsame Anliegen einer mythischen Ermächtigung der diskursiven Felder des Mythos, der Seele und der Ordnung der Geschlechter. Damit hat sich Holm ein theoretisch-methodisches Erkenntnis-Instrumentarium geschaffen, mit dem sie die Nähe zu dem in überwältigender Fülle ausgebreiteten Material wahren und doch auch zugleich die darin begründete thesenhafte, auch spekulative theoretische Zuspitzung vortragen kann (man ist gelegentlich an Goethes Wort von der zarten Empirie erinnert, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird).

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Wichtige Forschungsergebnisse: Einbettung der Mythen-Mode in Geselligkeit und Alltagskultur seit der Anakreontik, in die Bildungsgeschichte weiblicher Subjektivität, in
(Kunst-)Phantasien der Autorschaft

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Einige der Forschungsergebnisse, die dieses Verfahren hervorbringt, sollen, jeweils in Bezug auf die Arbeitsformen, wenigstens kursorisch und schwerpunktartig herausgestellt werden. In I) überzeugt vor allem der Befund, dass sich die Amor und Psyche-Gesellschaftsspiele, die empfindsamen Paarungsspiele, die Rollenspiele der Brautzeit-Briefwechsel etc., auf ein heterogenes Bildrepertoire gründen, zumal auf die Darstellungen der antiken Kleinkunst (von Klotz erarbeitet), und ihren Ausdruck auch in den Bilderfindungen der Modegattungen Almanach und Taschenbuch bis hin zum Kartenspiel finden. Ein ausführlicher Exkurs stellt die Entwicklung der bildnerischen Erfindung des Paares in der griechisch-römischen Antike, vor allem in der Rundplastik (die Kapitolinische Gruppe als in Repliken meist verbreitete), auf Sarkophagen vor, arbeitet sodann die erzählerischen Innovationen im Roman des Apuleius heraus, der Amor und Psyche nicht nur als Liebesgeschichte, sondern diese als Pubertätsgeschichte erzählt, und zeigt, wie der Roman in der Renaissance christliche und neuplatonische Allegoresen von Sündenfall und Seelenaufschwung auf sich zieht (für die christliche Auslegung zeichnet vor allem Fulgentius Planciades mit Wirkung bis ins 19. Jh.), sodann wie dem Roman in der Renaissance eine apuleische Ikonographie zuwächst, vor allem mit Raffaels Zyklus in der Villa Farnesina (mit großer Wirkung in der deutschen Klassik und Romantik). In II) werden die Mythologisierungen, Gräzisierungen und Domestizierungen herausgestellt, mit denen eine Tendenz zur Feminisierung des Stoffes hervorgeht. Holm arbeitet überzeugend heraus, wie die altertumswissenschaftliche Debatte um christliche Seelenmystik und antike Mysterien verstärkt zu einer religiösen und psychologischen Orientierung führt. Das III. Kapitel bietet dann mit der Rekonstruktion der in Rom kulminierenden literarischen und bildnerischen Arbeit am Mythos, mit den im geselligen Kreis um Luise von Anhalt-Dessau, Matthisson, Friederike Brun und Angelika Kauffmann im Dialog von Dichtung und Malerei entwickelten empfindsamen ›Psyche-Bildern‹, so etwas wie ein Zentrum des Buches. In der Abfolge von Allegorisierung, Symbolisierung und Psychologisierung des Stoffes wird die Konturierung der weiblichen Seele in Bild und Bilderzählung herauspräpariert. Holm beschreibt als
»(Erfolgs-)Geheimnis des ›Mythos‹ um 1800«, dass »gerade im Medium des weiblichen Körpers [...] die beiden Schwellen in beständigem Zirkelschluss zueinander präsentiert« werden, »die Pubertät ist von Verweisen auf den Tod durchzogen und umgekehrt.« (S. 186) Hervorzuheben sind hier die detaillierte Ausdeutung des Luisiums in Wörlitz in Verbindung mit Matthissons Dichtung und Angelika Kauffmanns Bildern, die feministisch inspirierte Lektüre von Goethes Bekenntnisse einer schönen Seele, und, als ein Höhepunkt der Arbeit, die ebenso inspirierte Deutung von Christian Rauchs Psyche-Bildnis, in dem, beide miteinander verschränkend, Frauen »in zwei Lebenssituationen besonders denkwürdig« sind: »die Braut und die Tote.« (S. 195) Im IV. Kapitel wird Psyche in Überblendung mit der Phantasiefigur (Moritz, Clodius) »als lebendig gewordene (Kunst-)Phantasie eines pygmalionischen Amors« (S. 205) vorgestellt (Runge, Achim von Arnim); bei Bettine von Arnim wird die schwebende Psyche sodann zur Leitfigur weiblicher Autorschaft.

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Neue Forschungsperspektiven

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Das Buch von Christiane Holm hat eine bislang disziplinär und auf den Höhenkamm fixierte Forschung aufgegriffen, aber erst durch das mühsame Zusammentragen der Zeugnisse aus der Alltagskultur und der Kleinkunst-Tradition den Grund für ihr medial zweisträngiges kulturwissenschaftliches Verfahren legen können. So kann ihr wissenspoetisch, intermedial und feministisch orientiertes Konzept in einzigartiger Weise neue Perspektiven eröffnen. Zu diesen neuen Perspektiven, nicht Desideraten, zählt für mich vor allem: der implizite Forschungsimpuls für das Überdenken einer Theorie der kulturellen und ästhetischen Moderne, den diese Arbeit nicht nur mit ihrem immensen Material vermittelt, im Hinblick auf das Problem der Pluralität und des Synkretismus. Das zeigt sich z.B., wenn von Mythen-Mode die Rede ist – ein Grundverdacht in der Moderne-Diskussion, der schon von Friedrich Schlegel im Athenäum vorgetragen wurde:

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An die Griechen zu glauben, ist eben auch eine Mode des Zeitalters. Sie hören gern genug über die Griechen deklamieren. Kommt aber einer und sagt: Hier sind welche; so ist niemand zu Hause. 2
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Hinzu käme die Frage nach der Ausweitung des Blumenberg-Bezugs, und damit nach der Vermehrung der Perspektiven etwa durch die Theoreme Aby Warburgs, womit auch der Begriff der Alltagskultur für sich ein neues, eigenes Darstellungsinteresse gewönne.

 
 

Anmerkungen

Aby Warburg: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Reprint der von Gertrud Bing unter Mitarbeit von Fritz Rougemont edierten Ausgabe von 1932. Neu herausgegeben von Horst Bredekamp und Michael Diers. In: A.W. Gesammelte Schriften. Studienausgabe. Hg. v. Horst Bredekamp u.a.. Erste Abteilung, Band I.2, Berlin: Akademie-Verlag 1998, S. 478 f.   zurück
Athenäum. Eine Zeitschrift. Hg. v. August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes Zweytes Stück 1799, Reprogr. Nachdruck. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. 252.   zurück