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Die Bilder der Wirklichkeit vs. die Wirklichkeit der Bilder?

Vier Ansichten zum Realen der Fotografie

  • Peter Fischli / David Weiss: Sichtbare Welt. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2000. 360 S. Gebunden. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 3-88375-433-1.
  • Peter Geimer: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen. (Fundus-Bücher 178) Hamburg: Philo Fine Arts GmbH Co. KG 2010. 528 S. Gebunden. EUR (D) 26,00.
    ISBN: 978-3-86572-654-4.
  • Tom Holert: Regieren im Bildraum. (PoLYpeN) Berlin: b_books 2008. 342 S. Kartoniert. EUR (D) 28,00.
    ISBN: 978-3-933557-79-7.
  • Bernd Stiegler: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik. München: Wilhelm Fink 2009. 220 S. 25 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 27,90.
    ISBN: 978-3-7705-4795-1.
[1] 

1. Theorie ohne Worte: ein Fotoalbum zur Ansicht von Weltbetrachtungen

[2] 

1.1.

[3] 

Sichtbare Welt. Ganz ohne weitere Worte, eben mit nicht mehr als diesem Titel versehen, zeigt ein im Jahr 2000 publiziertes Bilderbuch des Schweizer Künstlerduos Fischli / Weiss, was diese zwei gemeinsam als eine Bestimmung verheißen: fotografische Abbilder der Welt auf unpaginierten Seiten, Fotos ohne jede Bildunterschrift, auf denen diese als eine Welt der Abbildungen präsentiert wird. Wie kein zweites Fotoalbum gibt dieses aus nichts als Bildern bestehende Theoriebuch weiter Anlass, über die Ansichten der Wirklichkeit und ihrer Repräsentation zu reflektieren. Die rund 2800 Aufnahmen, zu jeweils acht auf jeder der Seiten angeordnet, gleichen beim flüchtigen Durchblättern jenen so beliebigen wie immer auf Ähnlichkeit mit den realen Vorbildern bedachten und dabei anders unperfekten Schnappschüssen, die Fernreisende gern als fotografisch fixierte Eindrücke der Fremde zurück nach Hause in ihre Diakästen, Fotoalben und Bilddatenbanken tragen, um sie dort als Postkarten und Werbepostern nachgebildete Darstellungen der Welt verfügbar zu halten. Als selbstgemachte Aufnahmen wie jene, »die wir in unseren Taschen mit uns herumtragen«, scheinen sie als photographisch fixierte Erinnerungsbilder exemplarisch für einen Wirklichkeitsbegriff zu zeugen, der, wie es allgemein gesprochen heißt, »der Gedächtnisleistung der Photographie unterstellt wird.« 1 Und verbürgen in ihrer Bildlichkeit scheinbar eine uns eigene Vorstellung von Realität, die wir durch visuelle Eindrücke abrufbar verinnerlicht haben. Fischli / Weiss’ Aufnahmen von Weltkulturdenkmälern und Flughafengebäuden, von Straßenszenen in Dörfern und in Metropolen der Ersten, Zweiten und Dritten Welt, von monumentalen Landschaftsansichten und öden Orten machen, so der Eindruck, die Realität zum transitorischen Schauplatz. Als ein Bilderreisebuch dokumentiert ihr Sammelalbum dem ersten Blick zunächst anscheinend nichts mehr als beliebige Ansichten von Gegenden rund um den Globus.

[4] 

1.2.

[5] 

Die hier vordergründige, banal gezeigte oder sich spektakulär in Szene setzende Welt in Bildern aber kann ebenso zur Ansichtssache eigener Standpunkte und Erwartungen und somit zum Gegenstand von Reflexionen über die Wirklichkeit und die Fotografie im Allgemeinen werden. Denn hat man die Bilder dieser sichtbar gemachten Welt einmal als eine Sammlung betrachtet und erkannt, dass deren Zusammenstellung räumlich kontingente Sprünge aufweist und dabei doch nach unerklärten Ordnungskriterien erfolgt sein muss, lassen die versammelten fotografischen Aufnahmen (die zunächst weder in erkennbar zeitlich-chronologischen noch räumlichen Anordnung aufeinanderfolgen und doch Abbilder einer in Etappen erfolgten Reise um die Welt sein könnten) den Buchtitel mehr als nur tautologisch erscheinen. Folgt man dem, ohne damit in Widerspruch zu der systemtheoretischen Ansicht zu geraten, die aus guten beobachtungstheoretischen Gründen von einer grundsätzlichen Unsichtbarkeit der Welt spricht und einen externer Realismus damit keineswegs abstreitet, 2 was zeigt sich dann in diesen Bilder der oder doch nur einer sichtbaren Welt? So stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Bilder der Wirklichkeit und der Wirklichkeit der Bilder als Frage nach der bereits beim Anblick eines Bildes greifenden Inventarisierung von Begriffsvorannahmen. Stellt man sich der Frage, dann zerfällt Bild für Bild beim abermaligen Nachschauen das Gesamtbild dessen, was mit dem Begriff »Welt« als nur konstruierte Einheit benannt wird. Zugleich auch deren »Sichtbarkeit«, die sich in Relationen zwischen den Einzelbildern verwandelt: in eine nicht wirklich lineare Folge von Ähnlichkeits- und temporären Differenzbeziehungen. Als eine Bilderfolge, die in anderen Künstlerbüchern ihre Vorbilder hat, 3 wird die oder die eine Welt als eine oder die Welt in diesem Buch präsentiert — als eine, die sich in diesem Ansichtsalbum sichtbar als eine von Differenz und Wiederholung darstellt. 4 Unentscheidbar erscheint damit dann, ob Welt überhaupt als unsichtbar oder sichtbar zu sehen ist. Und das erzeugt eine als grundlegend anzunehmende fundamentale Unentscheidbarkeit angesichts von Fotografien, die sich nicht nur als konstitutiv als für jede Form der Wahrnehmung von technisch reproduzierter Bildlichkeit verstehen lässt. Zwingend nämlich macht sie es notwendig, Bilder nie für sich allein sprechen zu sehen — sondern diese, und jedes für sich, als Bestandteile von Texturen und als Produzenten von Texten zu beschreiben.

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2. Dreimal Bilderbuchwirklichkeiten zum Begreifen
des Realen der Fotos

[7] 

2.1.

[8] 

Bilder der Wirklichkeit in der Wirklichkeit der Bilder kommentiert zu finden, 5 dabei zugleich die Konstruktionsbedingungen und Konstituierungskontexten ihrer Diskurse erläutert zu bekommen, dazu bieten sich drei weitere bemerkenswerte Fototheoriebücher zur Betrachtung an. Vielmehr: zur Lektüre. Denn sie liefern eben nicht einfach Widergaben von Ansichten, sondern lesenswerte Bildbeschreibungen, die der Frage nach der Darstellbarkeit von Wirklichkeit, und eben damit eigentlich der Frage der Beobachtbarkeit von Beobachtungen gelten, wenn Welt an sich (nach Niklas Luhmann) uns nicht anders als eigentlich immer unbeobachtbar erscheinen muss. Immer ganz gegenwärtig, wo sie historisch argumentieren und von Rückblicken aus der Früh- und Vorgeschichte des Mediums Fotografie über die Moodboards der TV-Berichterstattung der jüngsten Vergangenheit Ausblicke auf unsere aktuellen Bilderwelten zu versprechen suchen, ergänzen sich diese drei Bücher aufs Konstruktivste: Wenn in dem einen »Montagen der Photographie als Reflexionsmedium des Realen« anhand eklektizistischer Beispiele aus der gesamten Fotogeschichte beschrieben werden (Stiegler: Montagen des Realen). Wenn das zweite den Erscheinungen der Fotografie eine »korrespondierende Geschichte ihrer Symptome, ihrer labilen Sichtbarkeit und ihrer potenziellen Störung« an die Seite stellt, die ein Beitrag zur Frage nach den Bedingungen apparativ erzeugter Bilder sein will (Geimer: Bilder aus Versehen). Und wenn im dritten — ausgehend von der These, dass »der soziale, politische und kulturelle Zeit-Raum, in dem Bilder unterschiedlichster (Inter-)Medialität operieren, zugleich diese Bilder maßgeblich konstruiert« — Aussicht auf eine »kritische Souveränität der Bildbenutzer/innen« erzeugt werden soll, um die »Phantasie der Ikonokritik« neuerlich beflügeln zu lassen (Holert: Regieren im Bildraum). Dreimal handelt es sich um verweisreiche Bildansichtsbeschreibungen von ausgewiesenen Foto- und Bildmaterialbetrachtern, in denen Analytiker des Visuellen kenntnisreich und mit klar konturierter eigener Perspektiven argumentieren, 6 die in all ihren gegenseitigen Widersprüchen und spannungsreichen Kontrasten einander ihre Gegenstände im Kontext von Fototheorie und Geschichte und Gegenwartsbezogenheit als einander komplementäre Bildlektüren anbieten. Sie laden zu Lektüren ein, in denen sich zeigen kann, wie sich im Vor-Augen-Stellen von Wirklichkeitsvorstellungen in den visuellen Vorstellungen der Bilder »die rhetorischen Konzepte Aktualität, Persuasion und Macht« (Rüdiger Campe) fortschreiben.

[9] 

2.2

[10] 

Fern einer immer noch nicht gänzlich verabschiedeten Vorstellung, in Fotografien jenes »Es ist so gewesen« (Roland Barthes) zur Ansicht zu bekommen, dabei gleichermaßen auf aktuelle wie historisch gewordene Positionen zur bildlichen Darstellung von Realität rekurrierend und über Betrachtungen nur fotografischer Stills hinausgehend, ergänzen sich diese drei mit ihren vielfach einander korrespondierenden wie auch Gegenpositionen beziehenden Erläuterungen aufs Produktivste. Die drei Fototheoriebücher sind, jedes für sich klug argumentierend, instruktive Beiträge zu einer zeitgemäßen, vielperspektivischen medialen Historiographie, die längst einstige Widerstreite zwischen unvereinbaren Bildautonomiepostulaten mit ihrem Idealisierung des Bildes jenseits des Bildlichen (Gottfried Boehm) einerseits und den Behauptungen eines rein medienarchäologisch und bildinformatik-generierten Bildwissens jenseits der ikonologischen Fixierung des humanen Blicks (Wolfgang Ernst) andererseits hinter sich gelassen hat. Die deutende Sichtung spezifischer Konstellationen und Situationen, in denen sich im weiteren und engeren Sinne eine ›Politik des Visuellen‹ zeigt, lässt diese drei Bildstudien tatsächlich gemeinsam zu »Potentialen einer kritischen Beobachtung und Bearbeitung von Bildlichkeit« (Holert) gelangen. So werden sie auch zu so wichtigen weil kritischen epistemologischen Begleitkommentaren jener Visual History, die die visuellen Reproduktions- und Kommunikationsmedien als wichtigste Lieferanten jenes Rohmaterials sieht, »an das sich das kulturelle Gedächtnis heftet und mit dem Geschichte modelliert wird.« 7

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3. Die Wahrheit im Bild ist immer performativ: Bernd Stieglers Montagen des Realen

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3.1.

[13] 

»Wir glauben nicht länger an die Objektivität der Photografie, wohl aber daran, dass Photographien in spezifischer Weise unsere Wirklichkeit sind.« 8 An diese Behauptung am Ende seines Buches Theoriegeschichte der Photographie schließt Bernd Stiegler mit seinen Ausführungen in Montagen des Realen unmittelbar an. In der Fotografie versichert sich der Betrachter, las man dort, fortwährend der Welt wie auch der Art und Weise, »sie zu betrachten, auszuwählen, aufzunehmen und aufzuzeichnen.« Ihr Kennzeichen: Medium einer Beteuerung gegenüber dem Realen zu sein, »indem jeder Wirklichkeitsbezug als Konstruktion aufgezeigt wird.« (Stiegler: Theoriegeschichte, S. 422) Auch nach der für Stiegler entscheidenden digitalen Zäsur, die »den Mythos des Realen« nicht mehr weiterzuschreiben zulasse, ist für seine Bildausdeutungen weiterhin ein nicht aufkündbarer Wirklichkeitsbezug der Fotos blickbestimmend: »Als Medium des Realismus bleibt die Photographie immer mit der Wirklichkeit verknüpft und kann, was auch immer sie unternimmt, nicht von ihr abgelöst werden.« (Stiegler: Montagen des Realen, S. 27) Fotos betrachtet er als »Montagen des Realen«, bezeichnet die Fotografie als das »Reflexionsmedium des Realen« überhaupt, als das »Universalmedium der Gegenwart« (Montagen, S. 9). Um dies plausibel zu machen, zieht Stiegler unterschiedlichste Bilder und Bildstrecken heran, und diese aus allen Zeiten der Fotografiegeschichte (von William Henry Fox Talbot, 1844, bis Erik Niedling, 2007). Verweisreich und informativ, wie von ihm als Fotokundigen zu erwarten, betrachtet und analysiert er sie jeweils im Wechselverhältnis ihrer Funktionen im Fundkontext wie auch für Diskurs, Institutionen, Wissen und Gedächtnis.

[14] 

3.2

[15] 

Sein Buch versammelt exemplarische, nicht ganz ausnahmslos bereits veröffentlichte Bildlektüren, Druckfassungen von Vorträgen zumeist, die so etwas wie die Paralipomena für eine größere Studie abgeben könnten, die mit Blick auf die Frage der Montage als grundlegender Kulturtechnik bereits versprochen wird. Wohl um sie in ihrer Heterogenität einzufassen, sind die fünfzehn Einzelbeiträge drei größeren Blöcken zugeordnet: »Photographie als Reflexionsmedium«, »Momentaufnahmen aus der Geschichte der Photographietheorie« und »Montagen des Realen«. Gemeinsam sei allen Texten der Versuch, so heißt es im Vorwort, »die Photographie als ein Reflexionsmedium zu bestimmen, das immer auch eine Form von kulturelle Praxis ist, eine Kulturtechnik ist, die erlernt werden will und die eigenen Regeln gehorcht.« (Montagen, S. 9) Stieglers interpretatives Verfahren kann man mit einem Begriff von ihm als ›praktizierte Polyfokalität‹ nennen (Montagen, S. 297). Es entspricht wohl dem, was Hans Blumenberg als »Mitlesen des hintergründigen Sinnes am vordergründigen Text« 9 beschrieb und steht dabei offenkundig Verfahrensweisen des New Historicism nahe. Wobei es hier Bilder und Bildstrecken sind, die als Phänomene einer Entzifferung und Entschlüsselung fungieren, um mit abstrakten Begriffen belegt zu werden. Die Bildlektüren zielen darauf, Fotografien — seien es künstlerische Bilder oder Pressefotografien, illustrative Fotos aus den Bilddatenbankbeständen einer digitalen Gegenwart oder solchen aus dem Kanon der Fotogeschichte — in ihrer kulturellen und visuellen Evidenz auszulegen. Diese werden als Produkte kultureller Handlungen betrachtet, in denen sich vollziehe, was Stiegler wiederholt mit dem Begriff »Performanz des Realen« zu fassen sucht (Montagen, S. 104, auch 9). Beispielhaft illustriert durch die Fotos eines Andreas Gursky, die er dank ihres Inszenierungscharakter als solche herausragende »Performative des Realen» deutet, als »pikturale Abbreviaturen der Gegenwart« (Montagen, S. 105). Wie in den Modellierungen von Wirklichkeit eines Thomas Demand, die als Bildungen einer in Bildern vorgeblich dokumentierten Realität doch tatsächlich Fiktionen einer Abbildbarkeit von Wirklichkeit sind. In beiden Fällen jedenfalls — und das gilt für Stieglers Bebilderungen seiner These von Fotografien als der »Performative des Realen« im Allgemeinen — bleibt das »alte und immer neue Versprechen der Fotografie«, 10 eine Wiedergabe der Wirklichkeit herzustellen, paradoxerweise sozusagen als Negativfolie weiterhin präsent. Wie man sehen soll, ist die Realität den Bildern nicht auszutreiben — und sei sie nur Versprechen oder Vorstellung.

[16] 

3.3

[17] 

Dass die konkrete Fotografie und Positionen der Appropriation Art oder Re-Photography in der Fülle des von Stiegler vorgezeigten Fotomaterials weitgehend abwesend bleiben und ihnen eigentlich keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wird, scheint als ihr blinder Fleck bezeichnend für die Interpretationen, die immer um das »Reale« kreisen, welches es in den Griff zu bekommen gilt (vgl. Montagen, S. 41). Würden solche anti-realistischen Stile doch auch die Behauptungen eines wie immer gebrochen mimetischen Charakters des fotografischen Bildes als zumindest fragwürdig erscheinen lassen und zu einem Reflexivwerden dieser Thesen zur Fotografie als dem »Reflexivmedium des Realen« auffordern, wenn man an ihnen das rein Materielle oder auch Allegorische im und am Fotografischen vorgezeigt sieht. Besonders überzeugend wirken Stieglers Bildinterpretationen hingegen nach, wenn sie sozusagen philologisch genau, nachvollziehbar elegant argumentierend dem von Brecht und Benjamin zitierten leninschen Diktum »Die Wahrheit ist konkret« entsprechen: mithin am Exemplarischen nachvollziehbar machen, wie Bilder und Bildwirkungen im Zusammenspiel von Kontext, Bildeigentümlichkeit und Rezeption einander bedingend entstehen und sich verändern (wie bei seinem Blick in Walter Benjamins Fotoalbum und auf Ernst Jüngers Bildpolitik). Das zeigt Stiegler geschichtsbewusst. Für Stiegler sind es zuvorderst die fotografischen Bilder, die Geschichte in der Gegenwart lesen lassen (Montagen, S. 103). So liest er ihnen eine »eigentümliche Form von Realpräsenz der Vergangenheit in der Gegenwart« ab. Betrachtet er sie doch als das seit dem 20. Jahrhundert unbestritten eigentliche Medium der Geschichte, sieht in ihnen Geschichtsmodelle sich abbilden (Montagen, S. 79). Beispielhaft wird dies an Jewgeni Chaldeys berühmter Fotografie des die sowjetische Flagge hissenden Rotarmisten auf dem Berliner Reichstag ersichtlich gemacht. In der Rekonstruktion der Geschichte dieser fotografischen Ikone des 20. Jahrhunderts zeigt Stiegler, wie die vermeintliche historische Authentizität sich als Konstruktion mit zahlreichen Nachgeschichten erweist, die mit dem historischen Index des Bildes in Konflikt geraten. »In der Photographie kommt es zu einer Selbstverständigung darüber, was zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kontexten als Wirklichkeit und als visuelle Wahrheit zu fassen ist,« formuliert Stiegler (Montagen, S. 25), und will daher seine Ausführungen insgesamt mit Verweis auf eine deswegen unerlässliche Fotokundigkeit, auf die bereits sein Gewährsmann Walter Benjamin als Autor der Kleinen Geschichte der Fotografie verwies, 11 als eine Einübung von gegenwärtig unabdingbarer Bildlektürekompetenz verstanden wissen. Wenn aus so gutem Grund der unzweifelhafte »diskurs-medialer Charakter der Photographie« betont wird, geht das in der Argumentation an einzelnen Stellen mit der allerdings etwas kurzschlüssigen Behauptung eines Primats der Bilder gegenüber dem Text einher (Montagen, S. 286–287 u. S. 87). Es gehört zu den Aporien der Argumentation, dass es vieler Worte zu den Bildern bedarf, um dieses Primat der Bilder als von nun an dauerhaft zu beteuern. Auch wenn man sich den Wechselbeziehungen zwischen Bild und Text mehr reflexive Aufmerksamkeit gewünscht hätte, insbesondere hinsichtlich der eigenen Ekphrasis, so lesen sich Stieglers Betrachtungen als überaus ergiebige Bilddeutungen und Belege für eine produktive Praxis der Ansichtsfindung angesichts der Bilder eines Jahrhunderts, die Harun Farocki einst als die Bild für Bild herausfordernde Problematik der Foto-Lese so beschrieb: »Ein Bild aus Vietnam. Ein interessantes Bild. Man muß viel hineinsprechen, dann lässt sich viel herauslesen.« 12

[18] 

4. Bildgeschütztes kritisches Argumentieren angesichts bewegter Gegenwarten: Regieren im Bildraum mit Tom Holert

[19] 

4.1

[20] 

Die »mediale Konstruktionen der Wirklichkeit« (Montagen, S. 24) ist Tom Holerts kulturwissenschaftlichen Überlegungen zu Repräsentation von Bildern und deren Instrumentalität von vornherein ein Gemeinplatz. Seine aus Perspektive der bild-wissenschaftlichen Abteilung geschriebene, aus versammelten Aufsätzen der Jahre 2002 und 2008 bestehende Studie ist motiviert von der weiterführenden Frage, wie aus den Ansichten von Bildern eine »Theorie der Regierungsweise des Visuellen« gemacht werden kann (Holert: Regieren im Bildraum, S. 16) Innerhalb beschreibbarer Rahmen ihres Erscheinens das Funktionieren von Bildern als den Abbildungen einer außerbildlichen Wirklichkeit (Regieren, S. 22) und zugleich als Darstellungen von Interessen und der Ausübung von Macht in den Blick zu nehmen (ebd., S. 27), ist ihr erklärtes Ziel. Derart Kritik an den soziotechnischen Systemen, Protokollen und Apparaturen zu üben, die das Auftauchen und die Verteilung einzelner Schemata und Klassifikationen, Bilder und Bild-Cluster ermöglichen und organisieren, setzt voraus, die politischen und ökonomische Dimension dieser Bildlichkeit in den Blick zu bekommen (Regieren, S. 16). Dies verlangt für Holert notwendigerweise danach, die Prozessualität und Eigenproduktivität der Bilder anzusprechen, diese nicht in ihrer Abbildfunktion allein wahrzunehmen (Regieren, S. 29). In konkreten Worten: »Die Wahrheit des Bildes wird in dessen Produktion und Funktion entdeckt. Herauszufinden, wie und von wem es hergestellt wurde, welchen Interessen es dient und wie es wirkt, macht das einzelne Bild zum Gegenstand eines Wissens-über-Bilder.« (Regieren, S. 33) Daher seine Aufmerksamkeit für Dynamiken. Darum widmet er seine Bildanalysen den »instrumentellen Bildräumen«, in denen Bilder entstehen und die durch sie entstehen: Zeitungsseiten, Bildschirmen, immer noch auch Straßen und Plätzen, auf denen bei Demonstrationen »getragene Bilder« als bewegliche Parerga und mobile Displayelemente zu einer Reterritorialisierung des öffentlichen Raumes führen (Regieren, S. 59–76), der für Holert als ein Bildraum zu denken ist — mit einem Begriff, den er nach Walter Benjamin produktiv umdeutet (Regieren, S. 331 ff.).

[21] 

4.2

[22] 

Holert redet, wie Stiegler, dem Primat der fotografischen Bilder, einer »Suprematie des Visuellen« das Wort (Regieren, S. 148). Doch für ihn sind es die Bilder im Vollzug, die eine »szenographische Praxis« (Jean-Luc Nancy) begründen, unter zeitbeschleunigten Sichtverhältnissen Gesellschaft als einen sozialen Bildraum konstruieren: »Wie sich Bildtechnologie und Bildkultur zueinander verhalten, ist eine Frage der Bildpolitik, das heißt der politischen Verfügung über die visuelle Repräsentation des Gesellschaftsprozesses und über deren Darstellung, Reflexion oder Kritik in der Öffentlichkeit der kapitalistischen Demokratie.« 13 Zustimmend zitiert Holert eine Aussage Otto Karl Werckmeisters, um eigene Akzente entfernt von einer Konzentration auf reine Bildlichkeit, deutlicher hin zum Visuellen zu setzen: »in Richtung auf eine Analyse der Prozesse und Praktiken, in denen Bilder vorkommen können, instrumentalisiert oder unterdrückt werden, aber immer so, dass die kritische Konzentration auf das Visuelle in ihrer diskursiven Bedingtheit erkennbar bleibt.« (Regieren, S. 47) Zunehmend werden nämlich Bilder zu visuellen Ereignissen. Der Akt der Evidenzerzeugung vollzieht sich in Bewegungen, im Raum. Holerts besonderes Interesse gilt daher jenen Szenarien, wo sich in den Medien verschiedener Visualisierungstechniken bedient wird, die das Vertragsverhältnis »zwischen dem Blick und Realen« sichtbar machen (Regieren, S. 87). Die ihn bewegende Frage lautet: Welchen Status genießt »visuelle Evidenz« nach dem Ende fotografischer Evidenz? (Regieren, S. 89)

[23] 

4.3

[24] 

Wie Stiegler nimmt auch Holert eine medien-komparatistische Perspektive ein, um das Wirken des Visuellen zu beschreiben, setzt dabei mehr noch auf ein Erfassen von Relationalitäten und Funktionalitäten, statt deutend am isolierten Einzelbild festhalten. Den an Foucaults Suchbewegungen nach Strukturbezügen geschulten Holert 14 interessiert zuvorderst die Formierung neuer Bildräume und visueller Verhaltensformen, die durch die Verbreitung von Reproduktionstechniken und von ihnen ermöglichter audiovisueller Massenkulturen seit dem 19. Jahrhundert entstanden sind. Die visuelle Evidenz und das Ende der fotografischen Evidenz mit ihren Folgen für die darstellenden Wiedergabe einer immer als konstruiert zu verstehenden Realität macht er dabei weniger allgemein an der Digitalisierung der Bilder fest, unter deren Bedingung seit geraumer Zeit visuelle und nichtvisuelle Zeichen, Effekte und Intensitäten prozessiert werden (Regieren, S. 89). Für ihn ist ein zeithistorisches Datum die entscheidende Markierung: der 11. September 2001. Dieses Datum gilt ihm als wichtigste Zäsur, da sich an ihr zeige, dass sich die »Einheit von Geschichte, Politik und Visualität endgültig erwiesen« habe (Regieren, S. 13). Holert bezieht durch diese Setzung einen klaren Standpunkt: »Die Massenmedien, denn um nichts anderes handelt es sich bei den ›sogenannten Informationsmedien‹, prozessieren das gesellschaftliche und politische Geschehene in verzerrender, manipulativer, inszenatorischer Weise, aber indem sie es derart, prozessieren, produzieren sie das Geschehen zugleich: retroaktiv.« (Regieren, S. 167)

[25] 

4.4

[26] 

In Regieren im Bildraum wird genau dagegen versucht, durch die deutende Sichtung spezifischer Konstellationen und Situationen, in denen sich im weiteren und engeren Sinne eine ›Politik des Visuellen‹ zeigt, zu »den Potentialen einer kritischen Beobachtung und Bearbeitung von Bildlichkeit« zu gelangen (Regieren, S. 17). Das macht es für Holert erforderlich, den kommunikativen Gebrauch von Bildern und Bildlichkeit als einen untrennbar ins Soziale eingelassen Raum politischen Handelns und Verhaltens sichtbar werden zu lassen. Es ist diese selbsterklärte Aufgabe, die Holert anderswo auch als Reaktion auf die »antiintellektualistische Kampansage an die journalistische und akademische Welt« benennt, welche der Bush-jr.-Berater Karl Rove nach dessen Aussage »zur ewigen Nachträglichkeit verdammt und damit jeglicher historischer Funktion und Handlungsmacht beraubt« behauptete. 15 Dem etwas zu entgegnen, heißt für Holert, »das hierachische Verhältnis von Produktion und Rezeption, von Kreation und Kritik, von Bild und Interpretation (...), auf die je eigene Arbeit der Analyse und des Kommentars von Bildern (im weitesten Sinn des Wortes) zu beziehen, also zu fragen, wie sich aus der Beleidigung der eigenen kritischen Identität eine Anleitung für eine Methode der Behandlung von Bildern und Metaphern ableiten ließe.« (ebd., S. 71) So sind seine Bildanalysen Protokolle einer Gegenansichtsarbeit, die sich an der Wirklichkeit der Anderen abarbeiten. Diese kann mit der amerikanischen Filmemacherin und Theoretikerin Trinh T. Min-ha als Resultat eines Verdinglichungsprozesses des Sozialen angesehen werden, mit der Folge, dass der Abstand zwischen dem Realen und dem Bild (dem Bebilderten) oder Realem oder Rationalem bis auf einen Punkt der Unwirklichkeit schrumpft und die Frage nach den Produktionsverhältnissen von Wahrheit zu einer Frage nach Darstellungsmodalitäten von Bildern wird: »Wie wird das Reale (oder das gesellschaftliche Ideal einer guten Repräsentation) produziert? Wichtiger als das Reale zu umwerben, es einfangen und seine Wahrheit wie ein verborgenes oder verlorenes Objekt entdecken zu wollen, ist es, auch weiterhin die Fragen zu stellen: Wie wird die Wahrheit reg(ul)iert?« 16 Durchaus aufklärerisch, weil von einer konjunktivisch kritisch-utopistischen Perspektive bestimmt, tragen Holerts Bildanalysen ihren Teil dazu bei, diese Frage anhand vielfältiger Bild-Szenen präsent zu halten.

[27] 

4.5

[28] 

Unter bewusster Auslassung von visuellen Kunstwerken, da diese einer »anderen Ordnung der Sichtbarkeit angehören« und die ostentative Reflexivität künstlerischer Visualität ausstellen (Regieren, S. 33), bilden Holert Bildmitschriften als ein »narratives Vor-Augen-Stellen« 17 eine nacherzählende Gegengeschichte wider das Vergessen, mit dem die Bildgenierungsmaschine rechnet, wenn sie immer neue Bilder aktuell macht. Wenn hier auf den Tsunami im Indischen Ozean aus dem Winter 2004 zurückgeblickt wird, auf beinahe vergessene Protestbewegungen wie die in der Ukraine von 2004/2005 oder die anlässlich diverser G8-Gipfel, führt ein solches Nachlesen nicht zuletzt auch vor Augen, wie schnell massenmedial aufbereitete Ereignisse, die ihre Effekte nicht zuletzt einem Einsatz der Bilder im Wettbewerb um Aufmerksamkeiten verdanken, wieder vergessen werden. Und dann bei Bedarf mittels der aus den Bildarchiven wieder hervorgeholten Bildern ihre Re-Aktualisierung erfahren. Big Brother und George Michael, Georg Bush jr. mit Truthahn, Ultra Red und Rudolf Scharping, Joseph Fischer und Madonna, ein Plastiktüte als Protagonist im Film American Beauty und Colin Powell vor der UN, Angelina Jolie als Goodwill-Botschafterin und Rodney King — die Visuals in seinem Fundus, an denen er die Sichtbarmachungen und Zurschaustellungen, der Handlungsfähigkeit, von Macht und von Technologien des Selbst und der Wahrheit vorzeigt (Regieren, S. 265), sind so vielfältig wie sie unterschiedlichsten Kontexten entstammen. An close readings von Fotopräsentationen wie an Pressekonferenzen wird die inszenatorische Praxis nachvollziehbar gemacht, mit der Lichtbilder als beweiskräftig in politische Meinungsbildungsprozesse eingespeist, einer interessierten Öffentlichkeit als »Versatzstücke einer Evidenz« vorgeführt werden. Der Effekt des Dokumentarischen bemisst sich, so Holerts These, in der Gegenwart immer mehr am Grad der erkennbaren Reflexivität, mit dem die Bilder präsentiert werden (Regieren, S. 192). Die zeigt sich in ihrer Ambivalenz zwischen der Proliferation des Dokumentarischen — »auf allen Kanälen der Fernsehgegenwart«, wie es da noch und heute in Zeiten des Streamens schon nicht mehr ganz so gegenwärtig heißt —, und einer medienkritische Infragestellung der Authentizität der Bilder, die zum Gemeinplatz geworden ist.

[29] 

4.6

[30] 

»Je mehr die Kritik die Differenzen und Details eines Bild-Ereignisses sichtbar werden lässt, desto flagranter erscheinen die Vereinheitlichungsmanöver der politisch-ideologischen Kontrollinstanzen.« (Regieren, S. 17) Diesen gegenüber bezieht Holert mit seinen Bildinterpretationen und Hinweisen auf einschlägige Theorieentwürfe – Pierre Bourdieu, Gilles Deleuze, Giorgio Agamben haben wie Michel Foucault ihre erwartbaren Auftritte — kritisch Position. Holerts Analysen lösen ein, was sie für die Kulturwissenschaften und besonders deren Bildwissenschaft als Umdenken einfordern (Regieren, S. 16). Als illustrative Vorüberlegungen zu einer Theorie des politischen Bildes und der Visualität des Politischen oder der Regierungsweisen des Visuellen, wie Holert sie noch vermisst. Dadurch dass die in ausführlichen Beschreibungen illustrierten Bilder im Buch selbst nicht abgebildet werden, führt Holert zudem die von ihm kommentierten Darstellungsverfahren höchst reflexiv vor: das Nichtzeigen der besprochenen Bilder führt mit Worten besonders eindrücklich die vielen kontextuellen Einbettungen vor Augen, denen jedes von ihnen — und eben nie als ein Einzelbild für sich — ihre Wirkungen verdanken. Ganz so wie er es den Objekten seiner Interpretationen unterstellt, geht es Holert dabei selbst erkennbar um die Erzeugung von Überzeugungen. Findet sich doch in seiner Studie ein aus exemplarischen Bildbeschreibungen zusammengefügtes vereinheitlichendes Weltbild vermittelt — das einer ›Kontrollgesellschaft‹, wie er sie mit jenem Begriff aus jenem stichwortliefernden Essay von Gilles Deleuze bezeichnet.

[31] 

Fasziniert und geradezu angezogen zeigt sich Holerts analytischer Blick von visuellen Ereignissen, die ihm als Betrachter mit Ansichten aus der Ferne eine einheitliche Bild-Welt konstruieren lassen. Diese Faszination verführt ihn selbst zum Großen und Ganzen. Holerts Reflexionen darüber, wie mediale Kontrolle in Selbstkontrolle bei den Betrachtern übergeht, läuft auch immer Gefahr, selbst als Entwurf einer totalisierenden Optik gesehen zu werden. Auch erfahren Holerts eigener informiert-wissender Zeigegestus und die Bedingungen seiner persuasiven Praxis des Vor-Augen-Stellens kaum selbstkritische Standpunktkommentierungen, die den starken interpretativen Aussagen gut angestanden hätten, um die Gemachtheit von Wahrheit auch der Worte zu unterstreichen. Die figurale Deskriptionen von Einzelbildern, die man mit ausgestellter Beweiskräftigkeit in ein Beschreibungsschema mit deutlich erkenntnistheoretischer Ausrichtung eingefügt sehen kann, lassen das Verhältnis von Einzelfall und Generalisierung wie der Verfasstheit des Beispielgebenden dabei an mancher Stelle ein wenig unterbelichtet. Man könnte — mit Georges Didi-Huberman — von einem »Mythos von der Allübersetzbarkeit der Bilder« sprechen, vom dem Holerts Argumentation nicht restlos getilgt ist. Lässt sie sich doch mehr als nur stellenweise als eine »Rhetorik der Gewissheit« verstehen, 18 in der ein Nicht-Wissen so gut wie keinen Platz findet. Wie für Zufall und Abweichung wird etwas wenig Raum gelassen auch für andere überraschende Ansichten, die und an denen sich Abweichungen, Risse und Schründe zeigen könnten.

[32] 

5. Keine ungestörte Fortschreibung mehr: Peter Geimers Bilder aus Versehen

[33] 

5.1

[34] 

Unvorhergesehenen Effekten, Unfällen und Interventionen, die intendiert oder zufällig ihre Spuren auf fotografischen Bildern hinterließen oder zu ihrem Entstehen beitrugen, gilt Peter Geimers Interesse in seiner Studie Bilder aus Versehen. Seinen Ausgang immer vom Materiellen des Fotos nehmend, nicht von allgemeinen Typologien, nach denen sich Bilder so vielfach klassifiziert sehen, versteht es die Argumentation bildbezogen und reflexiv überzeugend wie dem eigenen Anspruch entsprechend eine »Darstellung der irreduziblen Verschränkung von Künstlichkeit und Natürlichkeit, Konstruktion und Vorfall, Anteil des Fotografen und Anteil des Apparats« zu liefern (Geimer: Bilder aus Versehen, S. 350). In so genannten Fehlern und solchen Phänomenen, in denen sonst oftmals bloß die Verhinderung oder Auslöschung eines intendierten Bildes gesehen wurden, macht Geimer die eigentlich entscheidenden Elemente des Bildgeschehens aus (Versehen, S. 133). Gerade mit einem konzentrierten Blick auf Störungen, die er als konstitutiv für die fotografische Bildherstellungspraxis beschreibt, weiß Geimer eine faszinierende, durch medien- und erkenntnistheoretische Reflexionen angereicherte Geschichte des Fotografischen zu erzählen. Seine Kritik gilt einer fotografischen Ontologie und vereinfachenden Referentialitätsbehauptungen, so zielen Geimers Bildbetrachtungen entsprechend darauf, Fotografie nicht fraglos als mimetisches Medium anzusehen, sondern besonders dessen immer vorauszusetzende materielle Gemachtheit hervorzuheben.

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5.2.

[36] 

Wie Geimers detailreiche Analysen zu zeigen verstehen, ist die Geschichte der Fotografie nicht so einfach wie vormals weitgehend praktiziert als eine zumeist teleologische Erzählung, die mit intendierten, dauerhaften, mimetischen Bilder illustriert wird, fortzuerzählen: ist sie nämlich nicht von der korrespondierenden (Parallel-)Geschichte der Zerstörungen, Vergänglichkeiten, der Unfälle, der Kontaminierungen, der Störungen zu trennen. Und wird zu einer Geschichte des Unvorhersehbaren, in der Fotos Unbestimmbarkeiten eintragen, mit entsprechenden Effekten für alle Versuche ihrer Deutung. Eine effektvolle Unbestimmtheit, wie sie beispielsweise an Walter Evans »Torn Movie Poster« beobachtet wird (Versehen, 126 f.). Geimer sieht in dieser ikonischen Fotografie, die das Entsetzen ausdrückende Gesicht einer Filmheldin zeigt, das von einer zerrissenen Papierbahn durchlaufen wird, das »gemalte Melodram des Kinoplakats in einen spannungsreichen Dialog mit den Spuren seiner Zerstörung« treten. Zwei logisch getrennte Ebenen der Darstellung — das Gesicht der Darstellerin und die sich in ihm zeigende ablösende Bildschicht — werden, obwohl logisch falsch und doch »plausibel, zufällig und unabweisbar«, zu einem »einzigen und einheitlichen Wahrnehmungsbild« (Versehen, S. 127). So wie es der Zufall will, und die Rahmungen es sehen lassen, zeigt sich Geimer im Blick auf die versehrte Bildoberfläche die entscheidende Ununterscheidbarkeit von Motiv und Träger: »Die Entstellung haust im Material, lässt sich von dorther aber auch als Eigenschaft des Dargestellten lesen.« (Versehen, S. 127) Instruktiv hinsichtlich der Unbestimmtheit, mit der Fotos provozieren, und dabei jeweils spezifisch eigen, auch die Betrachtungen, die Geimer an so unterschiedlichen Bildern wie von Sigmar Polke, Nobuyoshi Araki, Arthur M. Worthington, Henry Fox Talbot und André Kertész’ Broken Plate natürlich, dem man wie August Strindberg und anderen auch in Stieglers Montagen des Realen begegnen kann, unternimmt. Hinzukommen schöne wie unbekannte Funde, Zufallsaufnahmen, Fotogramme und Beispiele aus der abstrakten Fotografie, die doch nur scheinbar auf sich selbst verweist: in der Auslöschung von Referenz eben Referenz doch über die ausgestellte Medialität erzeugen (Versehen, S. 71). Was sich in ihnen allen abbildet: die Realität der Bilder zeigt sich für Geimer mit der Zeit und als Zeitabbildung.

[37] 

5.3.

[38] 

Für Geimer kommt es darauf an, beides ins Auge zu bekommen: »die Herstellung und die notwendige Unvorhersehbarkeit des Hergestellten, das Intentionale und den Vorfall, die Repräsentation und ihre mögliche Unterbrechung.« (Versehen, S. 351) Gerade wo diese unmögliche Gleichzeitigkeit unterstrichen wird, wird Geimers Studie weit mehr als nur eine Beschreibung der epistemischen Bedingungen fotografischer Sichtbarkeit samt einer Kritik der fotografischen Ontologie und Referenzialität. Auch ihn kann man an »Geschichte, Politik, Visualität« interessiert sehen, die Stiegler und Holert gegenwärtig sind, wenn seine Bilddeutungen zeigen, dass Ansichten auf Fiktionen beruhen und sie hervorrufen, ihre Deutungen auf Einbildung angewiesen sind (Versehen, S. 345). Das fotografische Bild als etwas Hergestelltes zu sehen, dem keine »epistemische Leere« voraus geht (Versehen, S. 267), und das weder aus dem Nichts Entstandenes ist noch »als im Unsichtbaren bereits latenten Vorhandenes« (Versehen, S. 273 u. S. 263), stellt jede einfach positive Bestimmung von Gegenwärtigkeit in Frage, auf die sich alle visuellen Machtbehauptungen berufen müssen. Geimers luzide Ausführungen geben mehr als eines zu erkennen: dass die Prozesse der Bilderentstehung nicht steuerbar sind, nicht das Auge des Betrachtersubjekts das Bild macht, dass Fotos immer im Werden zu begreifen sind, was sie auch vergehen lässt. Dies bei den Ansichten von Fotos nach Geimers mikrologischer Bildkommentierungen mitzubedenken, erzwingt eine gesteigerte Aufmerksamkeit für jene vielfältigen Vermittlungsinstanzen und Zwischenschaltung der Instrumente, dank derer Bilder entstehen und vervielfältigt werden, in Zirkulation geraten und archiviert, ausgestellt, zerstört werden und alle Bilder ungleichzeitig sehen lassen (Versehen, S. 245). Somit auch für die macht- und ökonomischen Verhältnisse, die sich in Fotos zeigen, und bei Geimer leider nur Nebenbemerkungen wert sind. Dies zu tun markiert — und seine Schlussfolgerungen seien auf Stieglers und Holerts Bildinsichtnahmen mit zu beziehen — »kein Scheitern der Repräsentation, sondern eine ihrer Bedingungen: ›je mehr Instrumente, je mehr Vermittlung, desto besser das Begreifen der Realität‹ [Bruno Latour].« (Versehen, S. 351) Wobei die im Zitat zitierte Metapher vom »Begreifen der Realität« wohl unintendiert auf einen doch bezeichnenden Auslassungspunkt verweist, der hier wie in allen Bildstudien so erblickt werden kann: das effektiv alle Bilder bestimmende irgendwo ›Dazwischentreten‹ der Schrift, die von den Bildern doch nicht so einfach fernzuhalten ist.

[39] 

6. Eine Abschlussaussicht

[40] 

Wo zeigt sich die Wirklichkeit der Bilder, wenn ein jedes Bild für Bild die Fugen erkennbar macht, die es auch aus einem es in Serie fixierten Zeitgefüge und Raumordnung herausnehmen erlauben? Wenn keines der Bilder je für sich allein existiert, weder als ein filmisches oder fotografisches einen »Substanzbegriff« bezeichnet? Sondern — nach Alexander Kluge — »eine Beziehung«, durch die erst Zusammenhang und Kategorie wie Vollständigkeit, Natürlichkeit, Struktur, Kohärenz geschaffen werden. Oder eben ihr Gegenteil: »Alle Einzelheiten eines Bildes reden miteinander; sämtliche Bilder eines Bildzusammenhangs sprechen miteinander. Sie tun dies lediglich nicht in diskursiven Sprachen.« 19 Indem sie so untereinander korrespondieren, produzieren Bilder fortgesetzt jenes ›Zwischen‹, das jedes einzelne von ihnen in Folge und zugleich sie alle in räumlicher und zeitlicher Differenz zueinander bestimmt. Das ›Zwischen‹, wie es sich im unübersehbaren Weißraum auf den Seiten Fischli / Weiss’ Bilderalbum zeigt. So muss man wie im Theoriebuch Unsichtbare Welt zwischen den Bildern zu lesen verstehen, um den Vorstellungen auf die Spur zu kommen, die die Wirklichkeit der Bilder vor- und nachbilden. Entsprechend fordern die Fotokommentare von Stiegler, Holert und Geimer ein Bildermitlesen, das anhand der Relationen zwischen den in ihnen jeweils vertretenen Positionen gegenüber, vor und nach den Bildern erkennt, wie Welt und Wirklichkeit der einen Einheit der Beobachtung immer wieder entziehen. Mittels fotografischer Bilder, die als gegeben materielle wie als möglich metaphorische Manifestationen ihrer eigenen Wirklichkeit die Ungleichzeitigkeit der Welt Bild für Bild in den Lücken zwischen ihnen sichtbar vorzeigen. Als Träger visueller Eindrücke führen die beschriebenen Fotos visuell vor, und genau dies eben lassen die Bildbücher nachlesen, was Lektüre immer retroaktiv schafft: die Ungleichzeitigkeit von Betrachtungen, die allen finalen Realitätsbehauptungen Bild für Bild gegenüber Distanz anzeigen.

 
 

Anmerkungen

Anselm Haverkamp: »Lichtbild. Die Metapher der Photographie«. In: Anselm Haverkamp: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S.177–200, hier S. 179 und 178.   zurück
Die »sichtbare Welt, das große Lebewesen Platons, der Horizont aller Horizonte im Sinne der Phänomenologie Husserls« gilt Niklas Luhmanns Bestimmung der Welt als einer, die nur an Beobachtungen der Beobachtern zu beobachten ist, zufolge: »eine Kunstwelt, nur das Artefakt ihrer Selbstbeschreibung.« (Niklas Luhmann: »Weltkunst«, in: Niklas Luhmann, Frederick D. Bunsen, Dirk Baecker (Hgg.): Unbeobachtbare Welt: über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 7–45, hier S. 38) An den Abbildungen, den Darstellungen der eigentlich unbeobachtbaren Welt lässt sich so denn die Reflexionsbegrifflichkeit ablesen, mit der Beobachter operieren, um ihre Realität als Wahrheit zu beschreiben.   zurück
Vgl. Sol LeWitt: Sunrise & Sunset at Praiano. New York: Rizzoli 1980; Gerhard Richter: Atlas, hg. von Fred Jahn. München: Jahn 1989 und Gerhard Richter: Atlas. Köln: König 2006.    zurück
»Andy Warhols identischer Vervielfachung des Realen (›Twenty are better than one‹) setzen Fischli und Weiss,« so heißt es in einer Rezension des Buches, das im Moment des Erscheinen »schon jetzt« zum »Standardwerk einer ›Archäologie der Gegenwart‹« erklärt wurde, »eine Form der unmerklich abwandelnden Wiederholung entgegen, die das Gleiche immer wieder etwas anders aussehen lässt. Dabei scheinen die Variationen nicht unbedingt den Informationswert des Bildes zu erhöhen, eher forcieren sie seine semantische Entleerung.« (Andreas Ruby: »Wozu Worte, wenn man Bilder hat«. In: Die Zeit, 29/2001, 12.07.2001) – und scheinen etwas zu zeigen, über das sich noch viele Worte verlieren ließen.    zurück
Wie dies im Medium Film geschieht, lassen exemplarisch Filme der Reihe Wirklichkeit der Bilder. Bilder der Wirklichkeit sehen, in denen Wirklichkeitsdarstellungen als Bildkommentierung fungieren, siehe URL: http://www.dielinse.de/dielinse/projekte+reihen/wirklichkeit/index.html (letzter Zugriff am 1.5.2013)   zurück
vgl. u.v.a.: Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie. München: Fink 2006; Bernd Stiegler: Bilder der Photographie: ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006; Bernd Stiegler: Randgänge der Photographie, Paderborn: Fink 2012; Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Theorie der Fotografie. Stuttgart: Reclam 2010; Tom Holert: Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit. Köln: Oktagon 2000; Tom Holert, Mark Terkessidis (Hgg.): Entsichert: Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2002; Holert, Mark Terkessidis (Hgg.): Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006; Peter Geimer: Theorien der Fotografie zur Einführung. Hamburg: Junius 2009; Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit: Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Frankfurt/M. Suhrkamp; Peter Geimer: Derrida ist nicht zu Hause: Begegnungen mit Abwesenden. Hamburg: Philo Fine Arts 2013; Peter Geimer, Isabelle Graw: Über Malerei: Eine Diskussion. (Kleine Edition 12). Köln: August Verlag 2012.   zurück
Gerhard Paul: »Das Jahrhundert der Bilder. Die visuelle Geschichte und der Bildkanon des kulturellen Gedächtnisses«. In: Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. Band 1: 1900 bis 1949. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 14–39, hier: S. 32.   zurück
Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie. München: Fink 2006, S. 422.   zurück
Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 11.   zurück
10 
»Die Neuheit der Fotografie besteht noch hundert Jahre nach ihrer Erfindung in dieser faszinierenden und zugleich bedrohlichen Macht des fotografischen Bildes über die des Wortes, die in ihrem Versprechen einer unverfälschten Wiedergabe der Wirklichkeit besteht.« (Petra Löffler: »Bilderindustrie: Die Fotografie als Massenmedium«. In: Albert Kümmel, Leander Scholz, Eckhard Schumacher (Hg.): Einführung in die Geschichte der Medien, München: Fink 2004, S. 95–123, hier S. 120).   zurück
11 
Vgl. Florian Zeyfang, »Benjamin Project« (2008), URL: http://www.florian-zeyfang.de/slow-narration-moving-still/benjamin/ (letzter Zugriff am 1.5.2013)   zurück
12 
Harun Farocki: »Hund von der Autobahn«, In: Filmkritik 1/1982, S. 5: »Ein Bild aus Vietnam: mit diesen Bildern hat es angefangen. Von 1965 an erschienen diese Bilder, zuerst in den USA, Schweden, Frankreich, später auch hier. Dieses Bild und diese Bilder. Das Bild ist aus einer Serie, es wird sogleich Exemplar einer Gattung, Ausfertigung eines Bildtyps, wie es den Bildtyp Konzentrationslagerfoto, Hungerkinderfoto, Sozialismusschlangestehensfoto gibt. Der Text unter dem Bild kann es mit den Amerikanern halten oder mit den Vietnamesen, immer gibt es noch den zweiten Text: warum so viele Bilder aus einem Krieg?« (ebd., S. 7).   zurück
13 
Otto Karl Werckmeister: Der Medusa-Effekt. Politische Bildstrategien seit dem 11. September 2001, Berlin: Form und Zweck 2005, S. 7.   zurück
14 
vgl. Regieren, S. 224; auch: Tom Holert: Künstlerwissen. Studien zur Semantik künstlerischer Kompetenz im Frankreich des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. München: Fink 1997.   zurück
15 
Tom Holert: »Werkzeuge der Wirklichkeit. Zu W.J. Mitchells Cloning the Terror«. In: Cargo, 10/2011, S. 71–72, hier S. 71.   zurück
16 
Trinh T. Minh-ha: »Die verabsolutierende Suche nach Bedeutung«. In: Eva Hohenberger (Hg.): Bilder des Wirklichen: Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. Berlin: Vorwerk 8, aus dem Amerikanischen von Mo Beyerle, Eva Hohenberger, S. 304–326, hier S. 312.   zurück
17 
Regieren, S. 92; vgl. auch Rüdiger Campe: »Vor Augen Stellen«. In: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart &Weimar 1997, 208–225.   zurück
18 
Den Blick auf einem künstlerischen Bild ruhen zu lassen, läuft – so Didi-Hubermans Unterstellung – darauf hinaus, »alles, was man sieht – genauer: alles, was sich vom Sichtbaren ablesen lässt – benennen zu können.« (Georges Didi-Huberman: »Fragestellung«. In: Georges Didi-Huberman. Vor einem Bild. München: Hanser 2000, aus dem Französischen von Reinold Werner, S. 9–17, hier S. 11) Didi-Huberman lässt dies von einem »Einschluß des Sichtbaren in das Lesbare und beider in ein allgemeinverständliches Wissen« sprechen. (ebd.) Was er in Reaktion dem gegenüber stark zu machen versucht, ist eine »unveräußerliche Negativität des Nicht-Wissens«, um so jenem »Einschluß«, der Einordnung in ein Schema, einer Überführung in Synthesen zu entgehen. Diesen Diskurs des Wissen über die Kunst sieht er angetrieben von einer Philosophie, und von der kann man auch Holerts Ausführungen bestimmt finden: »Sie basiert auf Worten und nur auf Worten, deren besonderer Gebrauch darin besteht, Lücken zu schließen, Widersprüche zu leugnen und, ohne auch nur einen Augenblick lang zu zögern, alle Aporien zu lösen, welche die Welt der Bilder für die Welt des Wissens bereithält.« (ebd., S. 14) Sich hingegen einem Zwang zum ›Nicht-Wissen‹  ausgesetzt zu sehen, darin gerade besteht nach Didi-Huberman das Entscheidende bei der Bildbetrachtung. Gilt es doch, dieses Nicht-Wissen bei der In-Sicht-Nahme der Bilder mitzudenken: »Sich noch jenseits des Wissens der paradoxen Prüfung zu unterziehen, etwas nicht zu wissen (was genau darauf hinausliefe, es zu verleugnen), sondern zu denken, und zwar das Element des Nicht-Wissens, das uns jedes Mal betört, wenn wir unseren Blick auf ein künstlerisches Bild richten.« (ebd., S. 15) Das Nicht-Wissen aber schließen Holerts Erörterungen zum Visuellen bewusst aus, denn seine Bildbeschreibungen wollen primär eines: selbstbewusste Widerworte an die Mächtigen – vgl. Anm. 15 – adressieren.   zurück
19 
Alexander Kluge: Die Macht der Gefühle, Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1984, S. 383.   zurück