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„Was macht der Galvanismus daselbst?
- hier florirt er sehr.“

Der erste Doppelband der Naturwissenschaftlichen Schriften Achim von Arnims ist erschienen

  • Ludwig Achim von Arnim: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Band 2/1 und 2/2: Naturwissenschaftliche Schriften I. Veröffentlichungen 1799-1811. Tübingen: Max Niemeyer 2007. XIX, 1639 S. 19 Abb. Leinen. EUR (D) 220,00.
    ISBN: 978-3-484-15602-9.
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Arnim-Editionen

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Achim von Arnim zählt immer noch zu den großen bekannten Unbekannten der romantischen Literatur. Mit seinem Namen verbindet man »Des Knaben Wunderhorn« und einige Novellen. Dies stellt jedoch nur einen Bruchteil seines Schaffens dar. Das verengte Bild vom Werk Arnims hat ihre Hauptursache in dessen immer noch vergleichsweise geringen editorischen Erschließung. Es dürfte wohl keinen der kanonischen Autoren der Romantik geben, von dem ein so umfangreicher noch nicht publizierter, handschriftlicher Nachlass existiert. Viele Schriften sind lediglich in den heute teilweise schwer greifbaren Erstdrucken oder in textkritisch problematischen Editionen des 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts zugänglich. Seit gut zwanzig Jahren aber wird Arnims Schaffen zusehends von einem Forscherkreis der Öffentlichkeit in modernen Ausgaben erschlossen. Ein erster Meilenstein war die sechsbändige Frankfurter Ausgabe, die 1989–1994 im Deutschen Klassiker Verlag erschienen ist. 1 Seit 2000 erscheint die auf etwa 40 Bände angelegte »Weimarer Arnim-Ausgabe«. Als historisch-kritische Edition präsentiert sie das Werk nun fast vollständig und nimmt sich viel Raum für die Kommentierung.

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Aus dieser Edition ist im Herbst 2007 der erste Band von Arnims naturwissenschaftlichen Schriften erschienen, der von Roswitha Burwick herausgegeben wurde. Er enthält die von Arnim selbst publizierten Arbeiten; ein Band, der seine unpublizierten Notate erschließt, ist in Vorbereitung.

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Arnim als Naturwissenschaftler

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Achim von Arnim hatte 1798 das Studium der Kameralwissenschaften in Halle aufgenommen, wandte aber sein Hauptinteresse schnell der Physik zu, die eigentlich nur als Nebenfach gedacht war. Unter der Ägide seines Lehrers Gren führten seine Forschungen bald zu ersten Publikationen. Den Veröffentlichungen des eifrigen Studenten wurde von den Koryphäen seines Fachs durchaus Anerkennung gezollt, und er galt als großes Nachwuchstalent. 1801 beendete Arnim sein Studium in Göttingen und wandte sich verstärkt dem zu, wofür er heute bekannt ist, nämlich der Dichtung. Die naturwissenschaftlichen Schriften stellen dennoch einen integralen Bestandteil seines Werkes dar, der auch für das Verständnis seines poetischen Schaffens nahezu denselben Status beanspruchen kann, wie es mit der Naturforschung bei seinen Zeitgenossen Novalis und Goethe der Fall ist.

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»Was macht der Galvanismus daselbst? – hier florirt er sehr. – Eben recht sehr. -« 2 schreibt Arnim 1800 freudig über seine Forschungen in einem Brief an den seinerzeit sehr bekannten Physiker Ritter. Tatsächlich führt der hier besprochene Band mitten ins Zentrum der naturwissenschaftlichen Diskussion der Zeit. Prominentestes Thema ist natürlich die Elektrizität, doch finden sich auch Studien zu Fragen des Magnetismus, des Luftdrucks und der Temperaturmessung, der Lichttheorie, genauso wie einige chemische Versuche.

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Die Naturwissenschaftlichen Schriften I enthalten 71 Texte Arnims, die überwiegend aus den Jahren 1799–1801 stammen. Der Band vermehrt den Textbestand der Frankfurter Ausgabe um ein Vielfaches; dort wurden im Band »Schriften« nur sechs naturwissenschaftliche Texte abgedruckt. Die Weimarer Ausgabe erschließt erstmals die wichtige »Theorie der elektrischen Erscheinungen«, die bislang nur in einer der seltenen Erstdrucke oder auf Mikrofiche zugänglich war. Darüber hinaus publiziert sie die Zeitschriftenaufsätze aus den »Annalen der Physik«, dem »Allgemeinen Journal der Physik« und der »Chemischen Annalen der Literatur«, die bisher mühsam zusammengesucht und in den Originaldrucken gelesen werden mussten. Während die Frankfurter Ausgabe eine Auswahl der sicherlich prägnantesten Aufsätze druckte, ermöglicht es die Weimarer Ausgabe nun, die ganze Breite von Arnims Interessen zu entdecken. Sie schafft erstmals die Voraussetzungen dafür, von der praktischen Seite der Experimentalforschung her seine epistemologischen Überlegungen zu verstehen. Dafür stehen Aufsätze wie »Vorschläge zur Vervollkommnung der Aerometer« oder die »Beobachtungen über die scheinbare Verdoppelung der Gegenstände für das Auge«.

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Die in dem Band versammelten Texte sind für die Arnim-Forschung in mindestens viererlei Hinsicht wichtiges Quellenmaterial. Für den Historiker der Naturwissenschaften und die Naturphilosophin bieten Arnims Aufsätze eine Möglichkeit die Wissensentwicklung v. a. des Forschungsfeldes Elektrizität um 1800 im Kontext naturphilosophischer Spekulation mikrologisch zu studieren. 3 Auch der Zusammenhang von mechanischer und organischer Natur ist dabei ein zentraler Diskussionsgegenstand. Arnims Erstlingspublikation »Versuch einer Theorie der elektrischen Erscheinungen« kann hier natürlich als der zentrale Text angesehen werden. Auch der an epistemologischen Fragen Interessierte findet interessantes Material. In vielen Aufsätzen untersucht der junge Physiker die Argumentationen aktueller Forschungsartikel auf mögliche Fehler bei der Wahrnehmung und durch technische Apparate verursacht und versucht so unzureichend begründeter, metaphysischer Spekulation entgegenzuarbeiten.

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Der Wissenschaftssoziologe wird dies im Kontext der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen deuten. In Arnims Schriften kann man einerseits sehen, wie langsam die verschiedenen naturwissenschaftlichen Fächer ihre disziplinäre Identität ausbilden. Andererseits kann man aber auch die immer stärkere Trennung von empirischer Forschung der Naturwissenschaften und spekulativer Naturphilosophie verfolgen. 4 Zuletzt findet auch der Literaturwissenschaftler zentrale Referenztexte für die Deutung von Arnims poetischen Schaffen. Beispielsweise wird das Figurenverhalten in Arnims erstem Roman »Hollin’s Liebeleben« (1801) verständlicher, versteht man es – ähnlich Goethes »Wahlverwandtschaften« – als ein Experiment mit der Übertragbarkeit von Naturgesetzen auf den Bereich des Sozialen. Ebenso gewinnt man Arnims Verständnis von Dichtung als eigener Wissensform erst umfassend, wenn man seine Poetik vor dem Horizont der epistemologischen Überlegungen, die sich in seinen naturwissenschaftlichen Schriften finden, entfaltet und vom wissenschaftlichen Wissen und der Philosophie abgrenzt. 5

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Edition und Kommentar

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Der erste Band der Naturwissenschaftlichen Schriften ist in zwei Teilbände (Text und Kommentar) untergliedert. Da es sich um von Arnim selbst publizierte Schriften handelt, folgt der Textbestand fast immer dem ersten Druck. Die Texte werden orthografisch unverändert abgedruckt; lediglich kleinere graphemische Eigenheiten der Zeit wurden modernen Druckgewohnheiten angeglichen. Weitere kleinere Eingriffe in die Texte (wie z.B. hinzugefügte Überschriften) sind kenntlich gemacht und plausibel begründet. Es konnten einige anonyme, Arnim zugeschriebene Artikel, ausgesondert werden, teils aufgrund ihrer für Arnim untypischen Argumentation, teils auch aufgrund stilistischer Merkmale. Die Begründung, die die Editorin Roswitha Burwick gibt, überzeugt durchgehend und zeigt ihre große Expertise in Arnims naturwissenschaftlichem Denken, wenn sie neben anderem als Ausschlussgrund angeben kann: »Auch das Wort ›Kraftmehl‹ gehört nicht zur Arnimschen Nomenklatur« (S. 486).

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Der um gut ein Drittel umfangreichere Kommentarband wird seinen Anspruch, »Arnims naturwissenschaftliche Schriften [, die] dem Literaturwissenschaftler größtenteils unbekannt sind«, zu kontextualisieren und im »Kommentar [mit] ausführlich[n] wissenschaftshistorische[n] Erläuterungen« (S. 484) zu versehen, durchgängig gerecht. Einen ersten Zugang zur naturwissenschaftlichen Welt um 1800 bietet nicht zuletzt ein ausführliches Glossar (S. 526–567), das die zeitgenössische Nomenklatur erläutert. Ein Strukturkommentar situiert die Publikationen mehrdimensional in ihrem Entstehungskontext, nämlich sowohl im Kontext der Wissenschaften, dann in Arnims Bildungsbiographie und weitergehend im Zusammenhang ihrer Erscheinungsorte. Zuletzt wird noch ein Ausblick auf die zeitgenössische Rezeption des Naturwissenschaftlers Arnim gegeben (S. 571–599). Diese Erläuterungen versorgen den Leser in Kürze mit wichtigen Hintergrundinformationen, die zum Verständnis der Texte unabdingbar sind. Daran schließt sich ein detaillierter Stellenkommentar an.

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Die Kommentare zu den Einzelbeiträgen folgen einem einheitlichen Schema. Nach Angabe der Druckvorlage und gegebenenfalls des Bezugswerks, folgen Ausführungen zum Entstehungskontext. Bereits hier verortet die Herausgeberin die Texte mit großer Kenntnis in der zeitgenössischen Diskussion. Ist der Text Armin nicht völlig sicher zuzuschreiben, wie es bei den Zeitschriftenartikeln bisweilen vorkommt, wird die Attribution einzeln begründet und in einem weiteren Abschnitt Angaben zur Überlieferung gemacht. Ein daran anschließender Abschnitt über die zeitgenössische Rezeption benennt nicht nur Rezensionen und Referenzen, wo sie vorhanden sind, sondern macht die z.T. abgelegen veröffentlichten Texte durch Abdruck direkt zugänglich. Unter „Kontext« wird der Problemgehalt der Texte nun systematisch entfaltet. Es folgen Drucknachweise und Varianten. Die immer präzise, transparente und benutzerfreundliche Kommentierung lässt insgesamt keine Wünsche offen.

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Fazit

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Dank der umfangreichen Erläuterungen wird ein zunächst sperriger Gegenstand, wie historische Naturwissenschaftsaufsätze nun einmal sind, zur spannenden Lektüre selbst für Literaturwissenschaftler. Roswitha Burwick ist mit ihrer Edition geglückt, Arnims naturwissenschaftliche Schriften wieder zugänglich zu machen und gibt mit ihrem ausführlichen Kommentar dem Leser einen Schlüssel in die Hand, der schnell, detailliert und kenntnisreich den historischen Kontext eröffnet.

 
 

Anmerkungen

Achim von Arnim: Werke. 6 Bände. Werkausgabe hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack, Paul Michael Lützeler, Renate Moering, Ulfert Ricklefs, Hermann F. Weiss. Frankfurt/M.: Niemeyer 1989–94.   zurück
Brief Achim von Arnim an Johann Wilhelm Ritter vom 18.12.1800. (Achim von Arnim: Weimarer Arnim Ausgabe. Bd. 30 Briefwechsel 1788–1801. Werkausgabe hg. von Heinz Härtl. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 134.    zurück
Vgl. dazu Walter Ch. Zimmerli / Klaus Stein / Michael Gerten (Hg.): ›Fessellos durch die Systeme‹. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling. Stuttgart: Frommann-Holzboog 1997. Klaus Stein: Naturphilosophie der Frühromantik. Paderborn u.a.: Schöningh 2004.   zurück
Vgl. dazu Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen: Physik in Deutschland 1740 – 1890. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984.   zurück
Vgl. Roswitha Burwick / Frederick Burwick: ›Hollins’s Liebeleben‹: Arnim’s Transmutation of Science into Literature. In: Elionor S. Shaffer (Hg.): The Third Culture. Literature and Science. Berlin, New York: de Gruyter 1998, S. 103–152.   zurück