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Gebündeltes Epochenwissen: deutsche Literatur
des Barock

  • Volker Meid: Geschichte der deutschen Literatur Bd. 5: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570-1740. München: C. H. Beck 28.05.2009. XVI, 984 S. Leinen. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-406-58757-3.
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Eine lang beklagte Lücke ist geschlossen: Die Literaturgeschichte des Barock, die in den vergangenen Jahrzehnten so intensiv erforscht wurde, dass man von einer Neuentdeckung ganzer Kontinente sprechen darf, hat durch Volker Meid erstmals eine auf aktuellem Kenntnisstand gründende Darstellung aus einem Guss gefunden. Denn Meids Buch ragt nicht nur durch seinen Umfang und die in ihm vermittelte Faktenfülle über das einzig nennenswerte Konkurrenzwerk – den von Albert Meier herausgegebenen und von manchen konzeptionellen Brüchen geprägten Sammelband zur Literatur des 17. Jahrhunderts in Hansers Sozialgeschichte der Literatur (1999) – deutlich heraus, sondern eben auch dadurch, dass hier ein einzelner Autor die herkulische Aufgabe auf sich genommen hat, das verstreute Epochenwissen zu bündeln und zusammenhängend vor Augen zu stellen.

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Summe eines Forscherlebens

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Gelingen freilich konnte das Unternehmen nur, weil der Verfasser mit der Materie aus langjährigem Umgang vertraut ist, weil er sich nicht ex nihilo ans Schaffen machen musste, sondern in vielen Sektoren auf eigene quellenintensive Arbeiten zurückgreifen konnte: Angefangen von seiner Dissertation zu Zesens Romankunst (1965) und der anschließenden Edition mehrerer Bände der Zesen-Ausgabe über sein 1974 vorgelegtes Metzler-Bändchen Der deutsche Barockroman und sein Arbeitsbuch zu Grimmelshausen (1984), die bis heute im universitären Unterricht unersetzliche Ausgabe der Gedichte des Barock (1980) und die kürzlich in zweiter Auflage erschienene Einführung in die Barocklyrik (1986, 2008) bis hin zu den von ihm herausgegebenen Realienbänden des Killy (1992/93), zur Metzler-Literatur-Chronik (1993, 2006) und zum Reclam Buch der deutschen Literatur (2004) hat sich Meid in den zurückliegenden Dezennien weniger als modischer Trendsetter denn als profunder Arbeiter im Weinberg der Literaturgeschichte profiliert, dessen Editionen, Nachschlagewerke und Handreichungen sich im akademischen Alltag bestens bewähren.

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Eine Lücke schließt Meids Barock-Buch, die Summe seiner Forschungen und doch eine überwiegend neu geschriebene, einheitlich perspektivierte Darstellung aber auch, weil es endlich den bisherigen Band V der von Helmut de Boor und Richard Newald begründeten Geschichte der deutschen Literatur ersetzt. Richard Newalds Die deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit (1570–1750) war zuerst 1951 erschienen, wurde bis 1967 punktuell überarbeitet und zuletzt 1975 nur noch unverändert nachgedruckt, sodass sie kaum mehr Anteil nehmen konnte am damaligen enormen Aufschwung der sozialgeschichtlich neu basierten Barockforschung. Der nach und nach auf aktuellen Stand gebrachte »de Boor / Newald« gab mit den umliegenden Bänden zugleich den zeitlichen Rahmen vor. Mehr als mit der leicht verkürzten Zeitspanne (1740 statt 1750), die der längst etablierten Profilierung der Aufklärung als einer literarischen Großepoche geschuldet ist, setzt die neue Darstellung einen deutlichen Akzent mit dem vorangesetzten Haupttitel Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Das ist nicht nur ein Tribut an Albrecht Schönes fast titelgleiche Textsammlung (1968, 1988) und ein Plädoyer dafür, nach allen ideologischen Debatten den ›Barock‹-Begriff als verständigungssichernde Epochenbezeichnung pragmatisch zu gebrauchen, sondern auch ein klarer Fingerzeig darauf, wo Meids zentrales Interesse liegt: auf den literarischen Entwicklungen, die seit den 1620er Jahren durch die mit dem Namen Opitz verbundenen kulturpatriotischen Reformschübe in Gang gekommen sind und von dort aus bis zum Ende des 17. Jahrhunderts ihre Wirkung entfaltet haben.

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Diese Fokussierung spiegelt sich in der Anlage des Bandes wider: Nach einem als »Epoche« überschriebenen Aufriss (S. 1–79) zu den historischen Verhältnissen im 17. und frühen 18. Jahrhundert, zum literarischen Leben und zu den Institutionen sowie den Methoden der seinerzeitigen Wissensvermittlung, spannen zwei kürzere Kapitel zu den früh- und spät- oder vor- und nachbarocken ›Übergangszeiten‹ (S. 81–123: »Die literarische Situation um 1600 und die Literaturreform«; S. 881–912: »Vom Barock zur Aufklärung«) den weiten Bogen um den gattungssystematisch untergliederten Kern der Darstellung. Um zu verdeutlichen, wie sehr die Epochenkonstruktion schon im Selbstverständnis der Zeitgenossen an die Autorität des »bahnbrechenden« Opitz gebunden war, behandelt Meid in zwei korrespondierenden Abschnitten das früh, nicht zuletzt von Opitz selbst eingeführte und noch um 1740, hundert Jahre nach dessen Tod ungebrochen gepflegte Klischee vom »Vater unsrer Dichtkunst« (S. 116–118 und S. 910–912).

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Gattungssystematische Gliederung

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Eingelagert in diese Rahmenkomposition, mit der Meid die chronologischen Ränder seiner Epoche mitbehandelt und zugleich auf das barocke Zentrum bezieht, breitet er die literarischen Entwicklungen des 17. Jahrhunderts in einer im wesentlichen gattungstriadisch aufgefächerten Systematik aus. Indem er damit, wie er ausdrücklich sagt, ein erst viel später etabliertes Einteilungsmuster auf die im Banne der Renaissancepoetik stehende Barockzeit zurückprojiziert, bedient Meid fraglos konservativ-traditionelle Lektüreerwartungen. Dass sich das Lyrik-Drama-Epik-Raster gleichwohl auch objektiv gut für die Beschreibung einer Epoche eignet, die weder den Oberbegriff ›Lyrik‹ kannte noch ein klar konturiertes Gattungsverständnis vom Roman hatte, ergibt sich aus der zweckmäßigen Anordnung und Modellierung des Musters: Die Lyrik (S. 125–324) an den Eingang zu stellen, erweist sich schon deshalb als sinnvoll, weil dies einen trefflichen Anschluss an die zuvor skizzierte Literaturreform gewährt und weil sich das ja stark mit Opitz’ metrischen Regeln verbundene Innovationspotential volkssprachiger Kunstpoesie zuerst in den kleineren Versdichtungen entfaltete. Als ebenso sachgerecht gelten darf die Aufspaltung der Epik in eine poetologisch favorisierte, dichtungspraktisch aber weniger produktive »Epische Versdichtung: Epos, Lehr- und Zeitgedicht« (S. 499–525), den umgekehrt dichtungstheoretisch weniger diskutierten, aber zunehmend das literarische Leben prägenden Roman (S. 527–714) und schließlich in das große Sammelbecken der »Fiktionalen und nichtfiktionalen Prosa« (S. 715–880).

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Garantiert das flexibel gehandhabte Muster, dass alle irgendwie bedeutsamen literarischen Genres und Phänomene ihren Platz und eine wenigstens kursorische Behandlung finden, so lässt sich über die Gewichtungen und Untergliederungen im Einzelnen selbstverständlich streiten. Der Versepik, sowohl der heroischen Variante wie besonders der auf nicht einmal zwei Druckseiten abgehandelten Bibelepik (S. 515 f.), hätte Meid gewiss etwas mehr Platz einräumen dürfen und dafür umgekehrt beim Roman, der sich durch noch so knapp gefasste Handlungsskizzen doch relativ breit macht, entsprechend einsparen können. Auch fragt man sich, weshalb die Darstellung bei der Lyrik vorrangig einer chronologischen Linie folgt – und dabei als Leitfaden die sicher lohnende, durchaus sinnvoll strukturierende Frage nach Tradition und Innovation stellt –, während dagegen bei Drama und Epik die Gliederung hauptsächlich nach typologischen Gesichtspunkten vorgenommen ist. Und schließlich zeugen kleinere Wiederholungen davon, wie schwierig es in der Tat ist, gerade die amorphe Kompilationsliteratur des Spätbarock eindeutig zu rubrizieren: Die großen Sammelwerke des Erasmus Francisci etwa sind ohne letzte Stringenz unter den Stichwörtern »Varia« (hier S. 756 f.), »Dialogische Wissensvermittlung« (S. 767–770) und »Fernreisen« (S. 855) verteilt besprochen.

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Neue Akzente und revidierte Klischees

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Im Ganzen aber, das sei nochmals betont, kann Meid mit der von ihm gewählten Disposition die kaum zu bändigende Fülle des Materials und der sozial wie regional unterschiedlich stark florierenden Genres höchst zweckmäßig anordnen. So gelingt ihm etwa beim Drama (S. 325–497), bei dem er sich nicht an eigenen älteren Arbeiten orientieren konnte, eine sachgerechte Auffächerung, die zunächst der zeitgenössischen Theaterpraxis der Wandertruppen, der Jesuiten- und Benediktinerorden sowie dem protestantischen Schuldrama eigene Kapitel widmet. Damit unterläuft er die lange gängige Konzentration auf das »schlesische Kunstdrama«, korrigiert schon mit seiner Stoffverteilung eindimensional-lineare Vorstellungen vom gattungsgeschichtlichen Verlauf und zeichnet ein angemessen buntes Bild barocker Dramenformen – ein gutes Exempel dafür, dass auch und gerade eine quellengesättigte, interpretatorisch zurückhaltende Darstellung überkommene literarhistorische Klischees einlässlich und fundiert zu revidieren vermag.

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Dass Meid sachlich, also im Blick auf die belastbaren Fakten und die biobibliographischen Skizzen zu einzelnen Autoren, die er am jeweils gemäßen Orte einstreut, stets auf der Höhe des Forschungsstandes schreibt, konnte man erwarten, darf es aber doch lobend hervorheben. Ausdrücklich zu begrüßen ist gleichermaßen, dass die internationalen Kontexte der Barockliteratur, also ihre maßgebliche Prägung durch das Neulateinische sowie ihre übersetzerische, imitatorische und aemulative Orientierung an den Leistungen der weiter fortgeschrittenen europäischen Literatur, durchgehend in den Blick kommen: Wo immer es sich anbietet und als inhaltlich geboten erscheint, konturiert Meid den europäischen Hintergrund der literarischen Entwicklungen im deutschen Sprachgebiet, nennt zentrale Prätexte und wichtige Vorbilder, an die deutsche Dichter anknüpfen konnten und mit denen sie sich auseinandersetzten. Wie er mit dieser Akzentsetzung, die sein Buch wie ein roter Faden durchwirkt, aktuelle Forschungstendenzen aufnimmt, so bezieht er auch sonst den gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs eher stillschweigend als explizit mit ein. Jüngere Forschungskontroversen diskutiert Meid nicht, ebenso wenig referiert er ausdrücklich auf neuere Publikationen. Dennoch muss man die Nennung Albrecht Schönes auf der ersten Seite des Vorwortes und Richard Alewyns in dem letzten Satz der Darstellung nicht als Ausdruck eines literarhistoriographischen Konservatismus lesen. Denn der Verzicht auf explizite Nachweise, gar auf Fußnoten, bedeutet nicht, dass Meid neuere methodische Ansätze ignoriert hätte. Ein einziges Beispiel für deren implizite Verarbeitung: Kühlmanns epochemachende Forschungen zu Moscheroschs frühneuzeitlicher Intertextualität, in denen er präzise das komische Zwielicht beschrieben hat, in das der barocke Satiriker sowohl die fremdkulturelle Orientierung seiner Gegenwart als auch den grobianischen Atavismus altdeutscher Helden getaucht hat, werden von Meid konzise dazu genutzt (S. 723 f.), ein differenziertes Bild der Gesichte Philanders von Sittewalt zu entwerfen.

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Forschungsgesättigtes Fundament

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Wie stark das vorliegende Buch nicht nur auf einem quellen-, sondern auch auf einem forschungsgesättigten Fundament aufruht, verdeutlicht die Bibliographie (S. 915–957), genauer ihr erster Teil: Da es anscheinend nicht möglich war, die 1000-Seiten-Marke zu überschreiten, enthält der gedruckte Band lediglich die allgemeine Literatur zur Epoche und ihren Gattungen, während die bibliographischen Angaben zu einzelnen Autoren und zu anonymen Werken auf die Internet-Adresse www.chbeck.de/downloads/Bibliographie Autoren_Anonyme Werke.pdf ausgelagert sind (die im Buch S. 915 angegebene Adresse: www.meid.beck.de existiert nicht) – bleibt zu hoffen, dass sich diese Adresse als ähnlich dauerhaft erweisen wird wie das vom Verlag sicher gut anwandte alterungsbeständige Papier und dass der Autor die mediale Möglichkeit zur Aktualisierung seiner Bibliographie nutzen wird.

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Das Register, das bei den »größeren« Autoren zusätzlich nach Werktiteln differenziert, erlaubt einen raschen Zugriff auf den auch sonst weitgehend benutzerfreundlich eingerichteten Band. Etwas gewöhnungsbedürftig ist einzig die Ansetzung der Kolumnentitel, die links jeweils das übergeordnete Kapitel (etwa »Drama«), rechts aber nicht die Titel der Hauptkapitel (wie »Trauerspiel« oder »Komödie«), sondern die der untergeordneten Abschnitte nennen – dadurch finden sich etwa in einigem Abstand zwei identische Kolumnierungen »Drama – Andreas Gryphius« (S. 404–419 und S. 440–447), wo doch zunächst vom Trauerspieldichter und dann vom Komödienschreiber die Rede ist. Abgesehen von marginalen Druckfehlern (S. 547: »Vernuft-Trutz«; S. 617: fehlendes Anführungszeichen vor dem schönen Kompositum »Ziegen-Hirsch«; S. 938: versehentlicher Akzent auf »Wínterkönig«) vermittelt der Band auch formal jenen Eindruck höchster Gediegenheit, den man bei seiner Lektüre gewinnt.
Da der Rezensent sein Fazit an den Anfang gestellt hat, kann er sich hier nur wiederholen: Eine lange beklagte Lücke ist geschlossen.