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Kulturkontakte im Mittelmeerraum
in aktueller und historischer Perspektive

  • Beate Burtscher-Bechter u.a. (Hg.): Grenzen und Entgrenzungen. Historische und kulturwissenschaftliche Überlegungen am Beispiel des Mittelmeerraums. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. 372 S. Geheftet. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 978-3-8260-3449-7.
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Das Mittelmeer und die Frage nach der Grenze

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Der vorliegende Band setzt sich anhand des Mittelmeerraums mit Fragen der Konstruktion und Repräsentation von staatlichen und kontinentalen Grenzen wie imaginär-ideologischen Grenzziehungen auseinander. Er siedelt sich dabei im Schnittfeld von zwei Forschungsfeldern an, die in den letzten Jahren quer durch viele Disziplinen Gegenstand kulturwissenschaftlicher Auseinandersetzung geworden sind: der Kulturkonfliktforschung und der Raumtheorie.

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Die HerausgeberInnen des Bandes greifen den Fall der Berliner Mauer als konstitutiven Einschnitt auf, der einerseits eine materielle, sichtbare Grenze, die in Richtung Osteuropa, hat verschwinden lassen, andererseits die Grenzfunktion des Mittelmeerraums unter sicherheitspolitischen und ökonomischen Vorzeichen verstärkt hat. Dies gilt trotz aller rhetorischer Beteuerungen um das Wiederauflebenlassen eines Mittelmeer-Dialogs auf EU-Ebene, wie dies u.a. von französischer Seite immer wieder betont wird. Die Herausgeber verstehen den Mittelmeerraum im Kontext der interkontinentalen Migration als »Raum [...], in dem Grenzen gleichzeitig gezogen und überschritten werden« (S. 12) und der insofern als exemplarischer Untersuchungsraum für Grenzfragen dienen kann. Dementsprechend widmet sich der Band der Grenzfrage in einem konstruktivistischen Sinn: Grenzen und Grenzziehungen werden hier als historisch-politisch ›gemacht‹ verstanden.

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Nationale und kontinentale Grenzen im Umbruch

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Die 13 Beiträge des Bandes entstammen disziplinär gesehen v.a. den Literatur- und Geschichtswissenschaften und sind Ergebnis einer mehrjährigen Forschungsgruppe an der Universität Innsbruck, die sich mit Fragen des Kulturkontakts auseinandergesetzt hat. Die sechs Abschnitte, die den Band strukturieren, verlaufen meist quer zu den Disziplinen und sind thematisch orientiert: Die Beiträge der Komparatistinnen Monika Schmitz-Emans und Beater Burtscher-Bechter sowie der Romanistin Birgit Mertz-Baumgartner eröffnen das Buch mit dem Kapitel »Von Grenzen und Grenzräumen«. Erstere setzt sich v.a. mit der Etymologie und Philosophie der Grenze, aber auch ihrer Ästhetisierung in der Literatur ab der griechischen Antike auseinander. Sie betont u.a. die schon in der Antike virulente Unterscheidung zwischen quantitativen und qualitativen Begrenzungen, thematisiert die Dekonstruktion solcher Unterscheidungen (und des Prinzips des Differenzierens selbst) in der Moderne und bietet so einen Überblick über die etymologischen, philosophisch-konzeptionellen und ästhetischen Aspekte der Grenze / Grenzziehung bis in die Gegenwart. Die beiden anderen AutorInnen beschäftigen sich mit Fragen des kulturellen Übersetzens im Hinblick auf zeitgenössische Texte, u.a. marokkanischer Provenienz, die Fragen der kulturellen Verortung in den Mittelpunkt rücken. Sie stellen aktuelle Forschungen, die sich mit dem Mittelmeerraum unter postkolonialen Vorzeichen auseinandersetzen und ihn als hybriden Raum der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Sinne kultureller Übersetzungsprozesse sehen, in eine Tradition, die spätestens seit Fernand Braudel besteht.

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Der Politikwissenschaftler Anton Pelinka und die Romanistin Ursula Mathis-Moser beschäftigen sich im folgenden Kapitel »Territorium – Grenze – politische Einheit« mit den politischen und imaginären Grenzen Europas. Pelinka stellt die Frage nach der ambivalenten Funktion von territorialen, aber auch nicht-territorialen (z.B. religiösen) Grenzen, die Identität stiften, aber dabei auch ex negativo abgrenzen. Er weist im Kontext der Erweiterungsdebatte (Zypern, Türkei) darauf hin, dass auch geographisch außereuropäische Territorien seit langem zu Europa gehören (griechische Inseln – Asien, französische Überseeterritorien – Karibik) und Grenzen immer auch politisch-ideologische Festlegungen implizieren. Mathis-Moser hinterfragt demgegenüber das nationalkulturelle Selbstverständnis Frankreichs, das sich als universalistisch-zentralistisch begreift, gleichzeitig aber mediterrane Traditionen (je nach Institution unterschiedlich stark) marginalisiert. Sie problematisiert die Grenzziehung zwischen einer französischen und einer frankophonen Literatur, u.a. weil hier grundsätzlich unterschiedliche Zuweisungskriterien angelegt werden (territoriale bzw. sprachliche Aspekte) und zudem die Zuordnung von AutorInnen nicht immer nach sachlichen und identischen Gründen erfolgt.

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Grenzfragen in historischer Perspektive:
Orient vs. Okzident

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Die Historiker Robert Rollinger und Reinhold Bichler gehen der »Wahrnehmung des ›Anderen‹« in Texten der Antike nach. Rollinger setzt sich anhand von ›orientalischen‹ Quellen im Sinne eines ›fremden Blicks‹ mit der Repräsentation von Griechen und Persern im 5. und 6. Jh. v. Chr. auseinander. Der Fokus liegt dabei auf der Darstellung der Kulturkontakte zwischen der griechischen und der achämenidischen Welt im Sinne eines Aufbrechens des Mythos der Einheit des griechischen Weltreichs und der Einmaligkeit des griechischen Geistes. Er plädiert dabei dafür, diese Ost-West-Dichotomie im Stil eines Gräkozentrismus durch eine neue Blickweise zu überwinden. Bichler zeigt demgegenüber anhand von historiographischen Texten Herodots die Relativität und Historizität von Grenzen auf – am Beispiel der Grenze zwischen Europa und Asien sowie der zwischen Hellenen und Barbaren. Er fragt nach der Wahrnehmung von historiographischen Grenzziehungen und von kulturellen Grenzen und führt dabei an, dass bei Herodot ethnozentrische Tendenzen zu vermerken sind, die das ›Fremde‹ als Abweichung definieren, allerdings nicht ohne auch ein gewisses Maß an Selbstreflexion einfließen zu lassen.

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Das umfassendste Kapitel steht unter dem Motto »Stereotyp und Diskurs: Abgrenzungen und deren Brüchigkeit«. Hier sind Beiträge von den RomanistInnen Gerhild Fuchs und Angelo Pagliardini sowie von der Anglistin Leona F. Cordery, des Sprachwissenschaftlers Manfred Kienpointner sowie des Historikers Wolfgang Scheffknecht versammelt. Gemeinsam ist den Beiträgen, dass sie sich mit der Frage der Identitätserzeugung oder -stabilisierung mittels Abgrenzung auseinandersetzten. Im Mittelpunkt stehen dabei Texte aus dem Mittelalter bzw. der frühen Neuzeit: Fuchs, Pagliardini und Cordery untersuchen anhand der (Kreuz-)Ritterliteratur der Renaissance bzw. des Mittelalters Formen der Relativierung dogmatischer Grenzziehungen zwischen Kategorien des Eigenen und des Fremden. Die beiden Erstgenannten analysieren anhand von Ritterepen von Pulci, Boiardo und Ariosto, die stofflich auf Erzähltexte des karolingischen Sagenkreises zurückgreifen, kulturelle Norm- und Raumfragen. Insbesondere sind die kulturellen Umdeutungen Thema, die die Texte (bei einem Vergleich mit dem Rolandslied) vollziehen, sprich: die Relativierung bipolarer Gegenüberstellungen von Christen und Heiden / Sarazenen, die sich nicht nur auf Figurenebene, sondern auch in den Raumkonzepten niederschlagen. Leona F. Corderys Beitrag macht ähnliche Tendenzen in einem anderen Kontext, dem der englischen Kreuzritterliteratur deutlich. Sie stützt sich auf einen breiteren Korpus, der vom 13. bis zum späten 15. Jh. reicht. Cordery betont, dass in Texten von Chaucer u.a. zwar das Imaginäre des edlen Ritters und des »hässlichen« Sarazenen dominiert, aber diese Polarität passagenweise auch ideologisch (und ironisch) aufgebrochen wird. Das religiös-ethnische ›Fremde‹ erscheint nicht nur als ›barbarisch‹, sondern die Texte machen auch die geographisch-kulturelle Anziehungskraft des ›Orients‹ deutlich.

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Grenzziehungen im Zeichen
von Transformation und Akkulturation

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Die folgenden beiden Beiträge widmen sich zeitgenössischen sowie innergesellschaftlichen Phänomenen der Grenzziehung. In Form einer diskursanalytischen Untersuchung macht Kienpointner anhand einiger Sprachen des Mittelmeerraums klar, dass die Sprache aktiv nicht nur an der Benennung von geographisch-politischen, sondern auch an der Erzeugung / Aufhebung von imaginär-mentalen Grenzen beteiligt ist – sowohl auf der Ebene von Eigennamen (Eigen- vs. Fremdbezeichnungen) und Phraseologismen (Wortverbindungen) als auch auf der von argumentativen Texten. Dabei wird auf den prägenden Zusammenhang von Sprache, Kultur und Identität u.a. in Bezug auf (ethnozentrische) Stereotypiebildungen eingegangen. Scheffknecht untersucht demgegenüber anhand der Scharfrichter die Grenzverläufe zwischen der ›ehrlichen‹ bzw. ›unehrlichen‹ Gesellschaft der frühen Neuzeit, sprich: zwischen als ehrbar empfunden Handwerkszünften und den per Profession als unehrbar empfundenen Scharfrichtern. Er verdeutlicht dabei, dass die Auseinandersetzung von Zunftmitgliedern mit Scharfrichtern oft harte Konsequenzen nach sich zog, gleichzeitig die gesellschaftlichen Grenzverläufe nicht unabänderlich-statisch waren. D.h. die Auslegung der Unehrlichkeit, der sozial-rechtlichen Beschränkungen der als Heilkundigen beliebten Scharfrichter war regional, funktionell und situationell unterschiedlich.

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Mit »Integrations- und Transformationsprozessen« beschäftigt sich der folgende Abschnitt, in dem die Historiker Peter W. Haider und Roland Steinacher noch einmal der Frage der Durchlässigkeit von Grenzziehungen nachgehen – allerdings mit einem starken Fokus auf Aspekten der Integration und Akkulturation. Haider fokussiert dabei den Kulturtransfer zwischen dem phönizischen Reich und dem nordwestlichem Mittelmeerraum (9. bis 6. Jh. v. Chr.). Er beschreibt den Transfer von materiellen und geistigen Gütern im Rahmen der Handels- und Siedlungsaktivitäten der Phönizier, der gerade auf Inseln wie Malta, Gozo oder Ibiza im Sinne einer kulturellen, ökonomischen und politischen Dominanz sehr prägende Auswirkungen hatte. Steinacher untersucht anhand der Vandalen und Heruler (5./6. Jh.) Prozesse politischer und ethnischer Identitätsbildung. Er problematisiert Forschungstraditionen, die zur Herausbildung von Mythen des Ursprungs bzw. Endes von Völkern und Reichen beigetragen haben und zu stark auf klare materielle wie identitäre Grenzziehungen fixiert waren. Steinacher betont demgegenüber, dass es gerade in grenznahen Gebieten des Römischen Reiches auf der Ebene der (militärischen) Eliten vielfach zu Formen der Akkulturation und Integration gekommen ist.

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Ausblicke

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Der Band schließt mit einem »Ausblick«, dem Beitrag des Soziologen Bernd Weiler, dem der Band auch posthum gewidmet ist. Er stellt die Frage nach der Grenze noch einmal in einem zeitgenössischen Zusammenhang und schließt somit an die beiden einleitenden Kapitel an. Weiler untersucht ethnisch-kulturelle Grenzziehungen in Zeiten »›Neuer Völkerwanderung‹« und geht dabei auf demographische Verschiebungen in europäischen Metropolen ein, z.B. den Stellenwert kinderstarker Migrationsfamilien in Hinblick auf gesellschaftliche Transformationen. Gleichzeitig erstellt er historische Rückblicke und Prognosen, die eine Umkehrung der kontinentalen Verteilung der Weltbevölkerung zwischen 1900 und 2100 deutlich machen.

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Grenzen und Entgrenzungen. Historische und kulturwissenschaftliche Überlegungen am Beispiel des Mittelmeerraums enthält nicht nur historisch breit gestreute Auseinandersetzungen mit der Grenzfrage, sondern bietet auch eine deutlich interdisziplinäre Perspektive. Eine Stärke ist sicherlich, dass sich das Buch nicht, wie so oft in den Kulturwissenschaften, auf rezente Epochen beschränkt, sondern einen Einführungsbeitrag aufweist, der einen weiten historischen Bogen spannt. Der Band lässt darüber hinaus Vertretern der Altertumswissenschaften einen breiten Raum und weist auch Beiträge zum Mittelalter und zur Renaissance auf. Kritisch angemerkt werden kann, dass das Buch wie viele interdisziplinäre Sammelbände deutschsprachiger Tradition keinen einheitlichen methodisch-theoretischen Rahmen bietet und einige wenige Beiträge im Rahmen der Schwerpunktsetzung der einzelnen Kapitel daher etwas isoliert wirken.