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Von unredlichen Paladinen und
ihren Schildknechten

Norbert Mecklenburgs fulminantes Pamphlet
gegen die Droste-Forschung

  • Norbert Mecklenburg: Der Fall 'Judenbuche'. Revision eines Fehlurteils. Bielefeld: Aisthesis 2008. 128 S. Kartoniert. EUR (D) 14,80.
    ISBN: 978-3-89528-693-3.
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Das Oeuvre Annette von Droste-Hülshoffs gehört wohl nicht zu jenen, die in der aktuellen germanistischen Forschung das größte Interesse genießen. Und bei den Arbeiten, die sich mit Droste beschäftigen, ist eine Konzentration auf das opus magnum der ›größten deutschen Dichterin‹, die Judenbuche, auffällig. Prominentestes Beispiel dafür ist sicherlich das nun bereits fast dreißig Jahre alte Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie aus dem Jahre 1980, dessen Aufsätze sich ausschließlich der bekannten Novelle widmen. 1

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Das mag nicht sonderlich verwundern, schließlich ist es dieser mit Abstand prominenteste Text Droste-Hülshoffs, der, weil er in vielen Schulen Pflichtlektüre ist, der Autorin einen Platz im Kanon und damit auch im kulturellen Gedächtnis sichert – neben der unbestrittenen Qualität des Textes wohl ein Grund, warum die Judenbuche im Rahmen der Droste-Philologie stets immense Aufmerksamkeit erhalten hat. Thematisiert wurden dabei unter anderem Genrefragen, Stoffquellen, Epochenzuordnungen und poetologische Aspekte, stets aber auch die (zentrale) Schuld- bzw. die Mordfrage. 2 Wer erschlug den Juden Aaron und wer kam schließlich aus osmanischer Gefangenschaft zurück in die westfälische Heimat, um sich in der titelgebenden Judenbuche zu erhängen? Das Gros der Interpreten ist sich einig, dass die Antwort auf beide Fragen nur ein Name sein kann: Friedrich Mergel, der Protagonist der Erzählung.

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Norbert Mecklenburg widerspricht in seinem nun vorgelegten Band Der Fall »Judenbuche«. Revision eines Fehlurteils dieser Antwort mit selten gesehener Vehemenz. Seine These dabei: Die Annahme, Friedrich sei der Mörder Aarons, kann nur das Ergebnis einer kollektiven Fehllektüre der »Paladine« und »Schildknechte« (S. 36) der Droste-Forschung sein.

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Zum Aufbau

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In insgesamt zwölf Kapiteln widmet sich Mecklenburg dieser Revision. Nach einem engagierten – und hier später noch genauer diskutierten – Vorwort und einer Einleitung wird zunächst die Handlung der Novelle und die der Stoffquelle, der Geschichte eines Algierer-Sklaven 3 von August von Haxthausen, rekonstruiert. Anschließend benennt Mecklenburg allgemeine und spezielle Aspekte einer Textanalyse, die es ermöglichen sollen, eine Interpretation auf eine möglichst objektive Grundlage zu stellen. Im vierten Kapitel wird die Rezeptions- und Forschungslage dargestellt, bevor im fünften Kapitel dreizehn Argumente gegen die Mörder-These aufgezählt und kurz erläutert werden.

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Die Textelemente, an denen sich diese ›neue‹ Deutung bewähren muss, sind laut Mecklenburg das Inkognito-Motiv, das Selbstmord-Motiv und der ominöse Schluss der Erzählung. Jedem dieser drei Aspekte wird ein eigenes Kapitel gewidmet, bevor Mecklenburg auf die ethische Dimension des Textes eingeht und die Bedeutung der Begriffe ›Gewissen‹, ›Angst‹ und ›Ehre‹ für den Verlauf der Erzählung klärt. Nach einem Exkurs zu antisemitischen beziehungsweise christlich-antisemitischen Diskursen in der Judenbuche schließen didaktische Überlegungen zur Vermittlung der Novelle im Unterricht den Band ab.

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Intention(en)?

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In einem in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten und deshalb hier auch länger besprochenen Vorwort erläutert Mecklenburg die Intention der Untersuchung, die sich auch als ein Pamphlet gegen die Droste-Forschung und wissenschaftliche communities im Allgemeinen lesen lässt. Im Rahmen eines Projekts, das sich mit christlich-antisemitischen Diskursen in verschiedenen Texten der deutschen Literatur befasste, kam es – so erläutert Mecklenburg – zu einer Relektüre der Judenbuche. Daraus resultierte, dass die Annahme, Friedrich Mergel habe den Juden Aaron erschlagen, nur das Ergebnis eines kollektiven Fehlurteils sein kann, dass seit Jahrzehnten so propagiert werde.

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Mecklenburg stellt der Droste-Forschung ein vernichtendes Zeugnis aus: »In diesem Fall sticht besonders krass ein dreifacher Mangel hervor: an ästhetischer Lesefähigkeit, literaturhermeneutischem Methodenbewusstsein und intellektueller Redlichkeit« (S. 8). Eine harsche Kritik, die Mecklenburg im Verlaufe des Textes immer von Neuem wiederholt und die dabei an Verve sogar noch zunimmt.

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Neben dem manchmal zu harten Ton ist aber auch die theoretische Herangehensweise, die im Vorwort zum Teil bereits entwickelt wird, zumindest zur Diskussion zu stellen. So führt Mecklenburg das »Konzept der Autorintention« ein:

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Wie immer man theoretisch über das Konzept der Autorintention denken mag, praktisch kommt kein Interpret an ihm vorbei. Wer es verwirft oder ignoriert, kann nicht den nötigen Respekt vor dem Text als einem literarischen Werk (Hervorhebung im Original, T.W.) entwickeln, also einem intentionalen Objekt und einem Produkt menschlicher Erfahrung und künstlerischer Arbeitskraft. Es bedarf einer behutsamen hermeneutischen Balance, um Intentionales und Nicht-Intentionales im Text gegeneinander abzuwägen. Texte können Fallen enthalten, welche der Autor dem Leser stellt. Die Judenbuche enthält, wie sich zeigen wird, mindestens eine solche Falle. Aber Texte können auch – das mussten uns nicht erst die Dekonstruktivisten lehren – Widersprüche enthalten, die sich gleichsam hinter dem Rücken des Autors ergeben, z.B. infolge einer langwierigen Werkentstehung. (S. 9 f.)
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Um es gleich zu sagen: Das prekäre Konzept der Autorintention soll hier nicht noch einmal diskutiert werden. Wie problematisch das ›Herausarbeiten‹ einer Autorintention sein kann und wie unlösbar die Unterscheidung zwischen einer mit dieser Intention gleichgesetzten »Autorperspektive« im Gegensatz zu einer Erzählerperspektive ist, macht gerade die Lektüre von Mecklenburgs Text deutlich.

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Ein »arm verkümmert Sein« –
Der Vorspruch als Lektüreschlüssel

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Neben der ausführlichen Analyse der Mikro- widmet sich Mecklenburg auch der Analyse der Makrostruktur des Textes. Hier untersucht er zum einen die Bedeutung des lyrischen Vorspruchs der Erzählung und nutzt diesen als Lektüreschlüssel, der seine Interpretation, die von Friedrichs Unschuld am Judenmord ausgeht, unterstützen soll.

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Des Weiteren charakterisiert Mecklenburg sehr ausführlich die Erzählhaltung in der Judenbuche als auktoriales Erzählen, das sich durch eine gewisse Beweglichkeit auszeichne. Diese Beweglichkeit liege darin, »dass sich die ›allwissende‹ Erzählinstanz immer wieder für kürzere oder auch längere Passagen ›zurücknimmt‹« (S. 23). Sehr genau bestimmt Mecklenburg, dass der Erzähler den Leser stets mehr wissen lasse als die Figuren, aber ihm immer auch Wichtiges gezielt vorenthalte. Dies lege den Fokus auf die zentrale psychologische und moralische Ebene des Erzählens und schaffe gleichzeitig die Möglichkeit einer teilweise ironisch geprägten Distanz zum Erzählten. Interessant auch die Beschreibung der »gezielten Fokalisierung« der Erzählhaltung, die Mecklenburg mit den Bachtin’schen Begriffen des »Autorworts« für die Erzählerperspektive und des »objekthaften Wortes« für die Figurenperspektive benennt (S. 25 f.). Für Mecklenburg wird diese »Abblendungstechnik« wichtig, wenn er sich mit der Idee des ›Fallenstellens‹ durch die Autorin auseinandersetzt (vgl. S. 27). Doch dazu später.

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In den abschließenden Ausführungen streicht Mecklenburg verschiedene Kategorisierungsvorschläge – wie etwa, die Judenbuche als Kriminal- oder als Dorfgeschichte zu lesen – durch und konstatiert:

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Die Judenbuche ist aber am zwanglosesten als eine ›moralische Erzählung‹ benennbar, d.h. als eine narrative Erkundung menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Verhältnisse unter ethischen Gesichtspunkten, wie sie sich in der ›Achsenzeit‹ um 1800 ausgeprägt hatte. (S. 33)
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Eine solche Zuschreibung lässt sich vornehmen, ist aber nicht zwingend. Dass auch andere Zuordnungen durchaus Plausibilität beanspruchen können, hat im letzten Jahr Claudia Liebrand in ihren Kreativen Refakturen gezeigt. 4

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Die Judenbuche oder die mörderische Frage,
wer wen erschlug

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Mecklenburg stellt sich gegen den Kanon der Droste-Forschung, die Friedrich Mergel für den Mörder Aarons hält. Die Forschung lässt sich allerdings wohl nicht so homogen darstellen. Die wenigen Interpreten, die Friedrich des Mordes an Aaron für unschuldig halten, werden von Mecklenburg explizit erwähnt. 5 Allerdings ist festzuhalten, dass viele der Texte, die Mecklenburg als falsch und misslungen bezeichnet, weil sie Friedrich für den Mörder halten, betonen, dass diese Annahme aus dem Text heraus nicht endgültig verifiziert werden kann. Auch diese Interpreten verweisen auf die vielen Leerstellen des Textes, die einen endgültigen Schuldspruch erschweren.

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Genau hier setzt aber Mecklenburgs Analyse ein. Die Zahl der Leerstellen, so argumentiert er, ließe sich extrem reduzieren, ginge man nicht von einem schuldigen, sondern von einem – zumindest am Judenmord – unschuldigen Friedrich aus. Die Judenbuche sei dann als sozialkritischer Text zu lesen, der seine Aktualität, seine Gegenwärtigkeit, gerade aus der Qualität der psychologischen Darstellung der Figuren ziehe (vgl. S. 108).

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Insgesamt führt Mecklenburg dreizehn Argumente gegen die Mörder-These auf, die hier nur zum Teil kurz rekapituliert werden sollen: Die äußere Einteilung des Textes – lediglich nach der Förstermord-Episode findet sich laut der Historisch-kritischen Ausgabe eine Zäsur – lege nahe, dass gerade nicht der Mord an Aaron, sondern die Ermordung des Försters Brandis Höhe- und Wendepunkt der Erzählung sei (vgl. S. 19 f.). Auch das von vielen Interpreten vertretene Nemesis-Konzept und die ›Teleologie zum Mörder‹, die man Friedrich andichte, liefen ins Leere.

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Schließlich führe die Mörder-These zu divergierenden, sich selbst widersprechenden Deutungen, die aufzulösen seien, wenn man den Vorstufen des Textes folge und Friedrich für unschuldig am Mord Aarons halte. Eine Absage erteilt Mecklenburg auch all denjenigen, die die prinzipielle Offenheit und Unlösbarkeit der Mörderfrage postulieren. Damit verliere der Text seine zentrale ethische Dimension und werde der Beliebigkeit ausgeliefert. Vielmehr plädiert Mecklenburg dafür, dem Geständnis des Lumpenmoises, er habe Aaron erschlagen, Glauben zu schenken und Friedrich als in den Förstermord verstricktes, von der Gesellschaft ausgeschlossenes Individuum anzusehen, dessen schlechtes Gewissen einen weiteren Mord verhindert habe (vgl. S. 104 ff.).

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In den drei folgenden Kapiteln versucht Mecklenburg nun, diese These zu untermauern. Als erstes untersucht er die Bedeutung Johannes Niemands als Inkognito Friedrichs. Er hält fest, dass dieses Inkognito für die Erzählung und den Verlauf der Geschichte sowohl eine syntagmatische als auch eine paradigmatische Funktion habe. Zum einen sei es Friedrich so möglich, unter einem falschen Namen in seine Heimat zurückzukehren, zum anderen sei so eine kritische Beleuchtung seiner Sozialisation möglich, indem an Johannes sogar noch eine Steigerung der gesellschaftlichen Ausgrenzung zu beobachten sei.

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Ein versuchter und ein vollzogener Suizid

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Besonders interessant und gelungen ist das siebte Kapitel, in dem sich Mecklenburg mit dem wiederholten Selbstmordmotiv auseinandersetzt. Als erstes negiert er alle mystischen Interpretationen: Friedrich habe sich erhängt oder sei erhängt worden, »Tertium non datur« (S. 64). Anschließend plädiert er für ersteres. Es bedürfe keiner metaphysischen Deutung, keiner Nemesis und auch keines Killers, stattdessen hätten einige bodennahe Äste es dem verkrüppelten Friedrich Mergel ermöglicht, sich selbst im Baum zu erhängen.

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Muss man dieser Argumentation auch nicht unbedingt folgen, so ist doch die anschließende Interpretation der Hausdurchsuchung durch den Gutsherrn nach der Flucht Friedrichs bemerkenswert: Mecklenburg argumentiert, dass der Schock, der dem Gutsherrn ins Gesicht geschrieben stehe und die Auflösung, in der Margret sich befinde, damit zu erklären sei, dass Friedrich und seine Mutter wegen der hohen Schulden Friedrichs einen Selbstmord geplant hätten, der durch die Hausdurchsuchung aber verhindert worden sei. Eindeutiger Hinweis darauf sei der ordentlich gepackte Koffer, in dem nicht nur die Papiere, die die Verschuldung bestätigen, zu finden sind, sondern auch zwei ordentlich gefaltete Leichenhemden. Sehr präzise und detailgenau analysiert Mecklenburg diese Szene. Diese Interpretation, die für die Judenbuche-Forschung mit Sicherheit Innovationspotential hat, weiß zu überzeugen.

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In einem letzten Schritt widmet sich Mecklenburg dem Teil der Judenbuche, der in der Forschung die größte Aufmerksamkeit erhalten hat: dem Schluss. Die Frage, wer sich schließlich im Baum erhängt oder wer dort von wem erhängt wurde, hat die Forschung stets umgetrieben. Auch für Mecklenburgs Interpretation erweist sich der Schluss als schwierigster Punkt, denn er muss zugeben, dass der jüdische Text, der der Buche eingeschrieben wird, darauf verweist, dass der Mörder Aarons an diesem Baum sein Ende finden soll (von einem Selbstmord ist darin nicht die Rede!). Auch Drostes Stoffquelle, die Geschichte eines Algierer-Sklavens, ist eindeutig: Hier ist es Winkelhannes, der Mörder Aarons, der sich schließlich selbst richtet.

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Mecklenburg liest den Schluss anders: Zwar geht auch er davon aus, dass es Friedrich Mergel ist, der sich schließlich im Baum erhängt. Aber er liest den Suizid Friedrichs und die ›Verurteilung‹ durch den Gutsherrn als Überbleibsel vorheriger Textstufen und damit als eine ›Falle‹, die der Leser zu umgehen habe: Versteht man den Vorspruch, der der Judenbuche als Lektüreschlüssel vorangestellt sei, richtig, so sei klar, dass man den Vorurteilen der Dorfbewohner nicht folgen und Friedrich zum Mörder erklären dürfe. Macht man es doch – so wie es die meisten Interpreten getan haben –, so tritt man in diese dem Leser vom Text gestellte Falle. Der Selbstmord in der Judenbuche ist – so Mecklenburgs Fazit – kein Schuldeingeständnis mehr, sondern Ergebnis jahrelanger Diskriminierung und Ausgrenzung durch die Dorfgemeinschaft (vgl. S. 82 ff.).

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Die Judenbuche als antisemitische Erzählung?

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Vor allen Dingen in jüngeren Forschungsbeiträgen US-amerikanischer Provenienz wird immer wieder auf die antisemitischen Diskurse hingewiesen, die die Judenbuche verhandle und transportiere. 6 Auch Mecklenburg widmet sich diesem Kapitel der Forschung. Er würdigt die US-amerikanischen Beiträge 7 und wirft der deutschen Literaturwissenschaft vor, dieses Thema bewusst verschwiegen, ignoriert und banalisiert zu haben.

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Dabei ordnet Mecklenburg die antisemitischen Diskurse des Textes allerdings in einen breiten Kontext des christlichen Antisemitismus ein und relativiert die Kritik: »Die Erzählerin greift [...] antisemitische Stereotype auf, unterläuft sie hier und da gezielt, kann sich jedoch von einer insgesamt vorurteilsbefangenen Sicht auf Juden nicht frei machen« (S. 113). Und weiter: »Allerdings wäre es weit übers Ziel hinausgeschossen, diese vergleichsweise wenigen und nebensächlichen Befunde zu einer gezielten Strategie (Hervorhebung im Original, T.W.) antisemitischen Schreibens hochzustilisieren« (S. 117). Gerade in diesem Kapitel können die unaufgeregten Passagen der Analyse, die die Forschung rekapitulieren und die christlich-antisemitischen Diskurse in einen breiteren Kontext einordnen, überzeugen. Die manchmal etwas zu schrill geratenen Vorwürfe sowohl an die Forschung als auch an die Autorin, wie etwa derjenige, die Judenbuche transportiere ihr »christlich-antisemitisches Denken […]« (S. 117, vgl. auch S. 121), trüben dieses Bild aber ein wenig.

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Den abschließenden didaktischen Überlegungen Mecklenburgs ist wenig hinzuzufügen. Gelungen und pointiert weist er auf die verschiedenen Möglichkeiten der Lektüre in der Schule hin, von der ergebnisoffenen Diskussion, die die Meinung und Lese-Erfahrung der Schüler wertschätzt, bis hin zur szenischen Umsetzung der Gerichtsepisoden. Der Schluss, den Mecklenburg vorher ja als Falle, die die Autorin dem Leser stellt, beschrieben hat, wird hier zum »Lese-Intelligenz-Test« (S. 122), den die Schüler, genau wie alle wissenschaftlichen Interpreten, zu bestehen haben und wahrscheinlich – so Mecklenburgs These – besser bestehen als mancher Germanist. 8

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Fazit

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Mit großem Engagement und scharfem Ton widmet sich Norbert Mecklenburg der Revision eines Fehlurteils. Mit seiner Lektüre zeigt Mecklenburg, dass die Frage, wer wen erschlug, tatsächlich nicht so einfach zu klären ist. Die Leerstellen, die den Text durchziehen und ihn damit auch auszeichnen, können unterschiedlich gefüllt werden. Mecklenburgs Argumentation ist in sich schlüssig, allerdings könnte man die Frage stellen, woher er sich so sicher sein kann, dass es tatsächlich Friedrich ist, der sich zum Schluss suizidiert. Zwar erkennt ihn der Gutsherr an einer Narbe, doch war von dieser Narbe nie vorher die Rede. Soll man den Vorurteilen der Dorfbewohner und der Figurenrede – wie Mecklenburg richtig feststellt – also nicht immer trauen, wie ist dann zu klären, ob der Gutsherr in seinem letzten Satz tatsächlich die Wahrheit spricht?

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Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass auch die Interpretation Mecklenburgs nicht alle Leerstellen füllen kann und andere etwas prekär, weil über den Text hinausgehend, füllt. Insgesamt aber ist Mecklenburgs Band ein zweifellos innovativer und Diskussionsstoff liefernder Beitrag zur Droste-Forschung. Für den Rezensenten wurde das Lesevergnügen allerdings durch den rauen Ton ein wenig geschmälert.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (Sonderheft 1980): Annette von Droste-Hülshoff. »Die Judenbuche«. Neue Studien und Interpretationen.   zurück
Vgl. für einen Überblick über die Droste-Forschung der letzten zwanzig Jahre: Jochen Grywatsch: Droste-Bibliographie 1981–2003 (= Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen Bd. 16), Bielefeld 2005. Außerdem die seit 2004 monatlich aktualisierten Bibliographien auf der Seite URL: http://www.droste-forschung.de (10.05.2009).    zurück
Vgl. August Freiherr von Haxthausen: Geschichte eines Algierer-Slaven. In: Christian Begemann (Hg.): Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westphalen. Frankfurt/M.: 1999, S. 67–80.   zurück
Vgl. Claudia Liebrand: Kreative Refakturen. Annette von Droste-Hülshoffs Texte (= Reihe Litterae Bd. 165), Freiburg im Breisgau 2008.   zurück
Mecklenburg nennt unter anderem: Maruta Lietina-Ray: Das Recht der öffentlichen Meinung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980): Sonderheft: Annette von Droste-Hülshoff »Die Judenbuche«. Neue Studien und Interpretationen. S. 99–109; Herbert Kraft: »Mein Indien liegt in Rüschhaus«. Münster 1987; Villö Dorothea Huszai: »Denken Sie sich, der Mergel ist unschuldig an dem Morde« – Zu Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 116 (1997), S. 481–499.   zurück
Vgl. z.B.: Jefferson S. Chase: Part of the Story. The Significance of the Jews in Annette von Droste-Hülshoff’s Die Judenbuche. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), S. 127–145.   zurück
Nur die Interpretation von Martha B. Helfer kritisiert Mecklenburg scharf und bezeichnet sie als »[i]ndiskutabel, weil permanent willkürlich gegenüber dem Text und wild drauflos spekulierend« (S. 112). Dem muss man nicht zustimmen. Vgl.: Martha B. Helfer: »Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen?«: Reading Blood in Annette von Droste-Hülshoff’s Die Judenbuche. In: German Quarterly 71 (1998), S. 228–253.   zurück
Einzuschränken ist jedoch die Kritik, die er abschließend an den »didaktischen Hilfen« übt: Die von Christian Begemann in der Suhrkamp BasisBibliothek herausgegebene Ausgabe beispielsweise ist alleine schon wegen des hervorragenden Kommentars zu empfehlen. Vgl. Christian Begemann (Hg.): Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westphalen. Frankfurt/M. 1999.    zurück