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Die Familie ist tot. Lang lebe die Familie!

  • Thomas Martinec / Claudia Nitschke (Hg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur. (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B: Untersuchungen 95) Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2009. 292 S. Broschiert. EUR (D) 51,50.
    ISBN: 978-3-631-58184-1.
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Totgesagte leben länger

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Die Familie ist ein Kampfplatz endloser Streitigkeiten – so könnte man, Kant abwandelnd, beginnen. Als erste menschliche Sozialisationsinstanz hat die Familie eine Scharnierfunktion zwischen Individuum und Gesellschaft beziehungsweise Individuum und Gemeinschaft inne. Diese vermeintlich »selbstverständlichste Form gesellschaftlicher Nahwelt« (S. 9) stellt nicht nur ein soziales, sondern – um es mit Foucault zu sagen – auch ein Machtgefüge dar, welches in den jeweiligen historischen und kulturellen Konstellationen (ideologisch) umkämpft und unterschiedlich gestaltet wird. Damit wäre der Kern der Problems umrissen, und doch nichts wirklich Neues gesagt.

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Familie scheint – so auch die Herausgeber/innen des vorliegenden Bandes – kein »diskursives Verfallsdatum« (S. 9) zu kennen: Wenngleich es mittlerweile schon fast zum guten Ton gehört, den Abgesang auf die Familie (die bürgerliche Kleinfamilie allemal) anzustimmen, so wird häufig im gleichen Atemzug, wenn auch womöglich in anderer Tonlage, ihre Wiederauferstehung konstatiert. Angesichts der Zählebigkeit des Gegenstandes scheint es umso schwieriger, sich dem Phänomen Familie differenziert zu nähern. Es gelingt auch im Fall von Familie und Identität in der deutschen Literatur – soviel sei bereits an dieser Stelle verraten – nur teilweise.

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Nun versucht dieser Band nicht in erster Linie, den gegenwärtigen Funktionsverlust der Familie nachzuzeichnen oder gar zu erklären. Die Beiträge – Ergebnisse einer internationalen Tagung am Lincoln College der Universität Oxford – untersuchen vielmehr literarische Texte, in welchen »der Einfluss von Familien auf die Konstitution individueller Identitäten gestaltet wird« (S. 9). Es geht mithin, dem Titel entsprechend, um Familie und Identität, allerdings nicht in der deutschen, sondern in der deutschsprachigen Literatur: denn die Artikel setzen sich nicht nur mit Werken deutscher Autorinnen und Autoren, sondern unter anderem auch mit Werken der Schweizer Conrad Ferdinand Meyer und Thomas Hürlimann sowie der ÖsterreicherInnen Marlene Streeruwitz und Arno Geiger auseinander. Mehr Genauigkeit im Titel wäre wünschenswert gewesen.

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Dem Fokus auf das Verhältnis von Familie und personaler Identität entsprechend gliedert sich der Band in vier Sektionen: (1) Unter dem Titel »Familie zwischen Utopie und Dystopie« versuchen zwei Beiträge die paradoxe Dialektik von Identitätskonstruktion und Identitätsverlust beziehungsweise -auslöschung näher zu bestimmen; (2) die drei unter »Liebe und Ehe« versammelten Texte befassen sich mit Identitätskonstitution innerhalb bestimmter Liebes- und Ehevorstellungen; (3) in der Sektion »Väter, Mütter, Kinder« rücken sechs Autorinnen und Autoren unterschiedliche familiale Positionen und deren je spezifische Funktion(en) in den Mittelpunkt ihrer Analysen; (4) schließlich betrachten vier weitere Beiträge »historische und ästhetische Konfigurationen im Spiegel der Familie«.

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Das 19. Jahrhundert und kein Ende

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Zeitlich reichen die untersuchten literarischen Texte von zeitgenössischen Familienromanen bis zur Übertragung antiker Liebesromane in der frühen Neuzeit, wobei sich die Mehrheit der Beiträge – immerhin acht von insgesamt fünfzehn – auf das ›lange‹ 19. Jahrhundert bezieht. Das ist angesichts der bis in die Gegenwart hineinreichenden Bedeutung jener Epoche für die europäischen Gesellschaften und ihre spezifische ›Ordnung der Familie(n)‹ wenig überraschend, fördert im Großen und Ganzen gesehen aber leider auch wenig Überraschendes zu Tage. Was hier an Aussagen über Familie und ihr je spezifisches literarisches Gepräge im 19. Jahrhundert getroffen wird, ist Bekanntes, allzu Bekanntes: Da gibt es wenig, was über Karin Hausens Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben – immerhin ein Text von 1976 – hinausgeht; entsprechend oft wird Hausen auch bemüht. Dass bürgerliche Frauen – ob als Unverheiratete, Ehefrauen, Mütter, oder Töchter – salopp gesagt nicht zu den Gewinnerinnen der naturalisierten und naturalisierenden ›Ordnung der Geschlechter‹ 1 in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts zählten, ist mittlerweile common sense. Will man dennoch das Augenmerk auf literarische Texte jener Zeit, und dann auch noch ausgerechnet auf die bürgerliche Familie richten, sollte man schon ein merklich neues Erkenntnisinteresse im Sinn haben.

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Ein eben solches hat Thorsten Fitzon, der sich in seinem Beitrag »Zwischen Familiarisierung und Desintegration. Hohes Alter in Wilhelm Raabes Auf dem Altenteil« dem Thema Alter und Familie nähert. Anhand von Raabes Erzählung aus dem Jahr 1878 zeichnet Fitzon nach, dass und wie es im Diskurs des 19. Jahrhunderts zu einer Familiarisierung des hohen Alters kommt: Parallel zur Verbannung der Frauen verschwindet auch das »politische Prinzip der Anciennität« (S. 128) aus der öffentlichen Sphäre, um in den privaten familiären Kreis verwiesen zu werden. Nützlich, so der Duktus, sind die Alten allein in der und für die Familie – eine Argumentationslinie, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund gegenwärtiger Debatten um die demographische Entwicklung westlicher Gesellschaften von Interesse sein dürfte. In etwa ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominiert schließlich die Gleichsetzung von Alter und Großelternschaft; inwiefern es dadurch auch zur Gleichsetzung von Alter und Heterosexualität kommt, wäre interessant gewesen, unterbleibt aber als Frage.

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Die beiden Großelternfiguren in Raabes Auf dem Altenteil widersetzen sich der – zumeist aus der Perspektive der Nachkommen erfolgenden – Zuschreibung von Alter als emotionalem Rückgrat der Familie. Besonders spannend ist in diesem Zusammengang, wie Fitzon intertextuelle Bezüge herausarbeitet, die auf ein Zeitbewusstsein hohen Alters verweisen, das »intergenerationell nicht vermittelbar ist und die Altersidylle unterläuft« (S. 139). So wird beispielsweise der linearen und chronologischen Abfolge von Zeit ein inneres, mit Erinnerung angereichertes Zeitempfinden des Großelternpaares gegenübergestellt, wodurch es in der Erzählung zu einer Rollenpluralität kommt, die dem konventionellen Generationenwechsel innerhalb der Familie zuwider läuft. Gerade jene Fähigkeit der Alten zur Erinnerung, welche Familienidentität über lange Zeiträume sichert beziehungsweise sichern soll, schießt hier quer zu dem beliebten Bild der Großeltern und ihrer integrierenden Funktion.

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Bemerkenswert in der Zahl der Beiträge zum 19. Jahrhundert ist auch Claudia Nitschkes Auseinandersetzung mit Theodor Fontanes Familienroman Die Poggenpuhls von 1896. Ungewöhnlich im Hinblick auf seine Genrezugehörigkeit erscheint bereits seine Länge, oder eigentlich Kürze: Die Poggenpuhls ist kein epochaler Wälzer, sondern ein vergleichsweise schmales Büchlein von rund 100 Seiten. Man könnte dies – wie auch die Abwesenheit des Familienoberhaupts – als symptomatisch für den Bedeutungsverlust lesen, den die titelgebende Familie Poggenpuhl als Teil des preußischen Kleinadels erlebt, ohne sich jedoch darüber im Klaren zu sein, was und wie ihr geschieht. Denn das, was sich in und bei den Poggenpuhls ereignet – und was Nitschke entsprechend in den Blick nimmt –, ist nichts Dramatischeres als der »Verlust der Fraglosigkeit« 2 des sozial generierten Habitus.

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Wenn ein Familienroman die individuelle Suche nach Identität innerhalb eines Familiennarrativs zum Thema hat, dann stellt sich die Frage, wie sich personale Identität in einer Familie vermitteln beziehungsweise gestalten lässt, der die wesentlichen orientierenden und identitätsstiftenden Elemente abhanden gekommen sind. Zwar scheinen die literarischen Figuren den gesellschaftlichen Umbruch und den damit einhergehenden Sinnverlust vordergründig durch die rhetorische Instrumentalisierung spezifischer Werte (Protestantismus, Nationalität, etc.) zu ignorieren und zu leugnen. Dennoch verbirgt sich, wie Nitschke treffend ausführt, »hinter dem hilflosen Insistieren auf alten Erklärungsmustern und dem Reklamieren von Identitäten nur notdürftig die Reaktion auf neue Bedürfnisse und Handlungskoordinaten« (S. 241).

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Familiengeschichte(n)

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Da ist er also – und sozusagen früher als erwartet –, der viel beschworene Funktionsverlust der Familie, der bei genauerer Betrachtung womöglich als Funktionswandel zu charakterisieren wäre. Folgt man Foucault, dann ergibt der Rückgriff auf Geschichte nur in dem Maße Sinn, »wie die Geschichte zur Funktion hat zu zeigen, dass das, was ist, nicht immer gewesen ist«. 3 Was also gegenwärtig abhanden kommt, ist eine historisch und kulturell geprägte Art und Weise, Familie zu gestalten und zu leben; ein Familienmodell mithin, das weder allgemein gültig noch selbstverständlich ist beziehungsweise war. Erst eine historische Rückschau ermöglicht dann unter anderem die Erkenntnis, dass die Dinge, die den Eindruck vermitteln, die selbstverständlichsten zu sein, alles andere als selbstverständlich sind. Einen solch differenzierten Blick in die Vergangenheit erlaubt Sebastian Möckel in seinem Aufsatz zum antiken Liebesroman und dessen Übertragung in der frühen Neuzeit. Umso bemerkenswerter – diesmal im negativen Sinn – ist die generalisierende Abhandlung der Zeit vor dem 18. Jahrhundert in Jürgen Daibers Beitrag, die beinahe schon im Widerspruch zu Möckels vorangehenden, detaillierten Ausführungen steht.

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Familie hat in den von Möckel untersuchten griechisch-antiken Liebesromanen – Heliodors Aithiopika sowie Leukippe und Kleithopon von Achilleus Tatios –, insofern eine exponierte Stellung, als sie Ausgangspunkt und Ziel einer zirkulären Erzählung bildet: »Der Weg der Helden beschreibt über einen Statuswechsel vom heranwachsenden Familienmitglied zum erwachsenen Träger einer eigenen Familie eine personale Entwicklung« (S. 60). Familie strukturiert die Romane also zweifach: auf formaler und inhaltlicher Ebene. Mithilfe von Arnold van Genneps Konzept der Übergangsriten bestimmt Möckel innerhalb dieser Rahmenhandlung drei konstitutive Phasen: Trennung, Schwelle und Angliederung. Damit gelingt es ihm zu zeigen, dass es innerhalb des relativ schematischen und starren Strukturmusters der Romane durchaus auch Raum für Ambivalenz(en) gibt – Ambivalenzen, die durch die Übersetzung und Übertragung der antiken Texte in der Frühen Neuzeit teilweise getilgt werden. Leider skizziert Möckel die »protestantisch eingefärbten Übersetzungen und Bearbeitungen« (S. 75) und das spezifische »Interesse der Bearbeiter an den antiken Romanen« (S. 74) nur mehr exemplarisch; es bleibt dementsprechend noch genügend Bedarf und Neugier für weitere Untersuchungen in diese Richtung.

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Auch an diesem historischen (Übergangs-)Punkt könnte man also nach dem spezifischen Funktionswandel von Familie fragen; und nach dem Anteil, den die Literatur daran hat oder auch nicht hat. Was aber bei Möckels Beitrag besticht, ist nicht nur die Tatsache, dass hier andere Familienmodelle sichtbar gemacht, dabei aber nicht bewertet werden (zum Beispiel Familie als Ort, der eine »ständische Identität als genealogische Dependenz verfügbar macht«, S. 62). Interessant erscheint insbesondere auch, dass und wie die konkrete Einübung in Familie in den Fokus gerät. Denn Familie heißt gewissermaßen auch ›doing family‹, insofern es bestimmter Handlungen und Haltungen der / des Einzelnen bedarf, um Familie immer wieder zu aktualisieren. Literarische Texte konstituieren dabei einen Raum, in dem verhandelt wird beziehungsweise verhandelt werden kann, wie dieses ›Tun‹ zu gestalten ist.

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Stell dir vor es ist Familie,
und keiner geht hin

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Wie man an Familie immer noch oder immer wieder scheitern kann, darum kreisen die beiden Beiträge von Sigrid Nieberle und Toni Tholen. Einen Band über Familie und Identität gerade mit dem Verlust von Identität durch Familie beginnen zu lassen, kann ein spannender Auftakt sein – und Nieberles Auseinandersetzung mit Heimito von Doderers 1962 publiziertem Roman Die Merowinger, oder Die totale Familie ist zweifellos ein solcher.

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Drei Einträge zum Lemma »Familie« in Doderers Repertorium, das 1969 posthum herausgegeben wird, skizzieren zunächst die spezifisch dystopische Qualität, die der österreichische Autor der Familie zuschreibt. Familie, notiert Doderer 1955, sei »der Persönlichkeit feind« (S. 17); 1961 wiederum erscheint sie als soziales Zufallsgefüge und das Ergebnis (mehr oder weniger) chaotischer Geschlechtswahl, und 1964 schließlich als Ort, an dem man umkommt, wenn man sich darin begibt (vgl. S. 17 f.). Allemal düstere Aussichten also, die schließlich auch die Großwetterlage der totalen Familie jener ›modernen‹ Merowinger zu bestimmen scheinen.

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Anhand der beiden Begriffe der genealogischen Verfilzung und des narrativen Ovismus – Doderers ironisch-kritische Auseinandersetzung mit dem horazschen Prinzip des Erzählens ›ab ovo‹ –, gelingt Nieberle eine sehr stimmige Analyse der Verknüpfung von Gegenstand und Erzählweise im Roman. Die unglaublich anmutende Heirats-, Adoptions- und Familienpolitik des Protagonisten Childerich III produziert so zwar eine totalitäre, aber dadurch gleichzeitig auch ›verfilzte‹ (Unordnung der) Familie, und damit letztlich ihr eigenes Scheitern.

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Im Gegensatz dazu überzeugen Toni Tholens Ausführungen kaum, obschon er – die Erwartungen seines Titels einlösend – stärker als Nieberle die Dialektik von Selbstkonstitution und Auslöschung fokussiert. Allerdings ist fraglich, ob ausgerechnet Thomas Bernhards autobiographische Texte – deren Analyse immerhin fast ein Drittel des Beitrags einnehmen – in diesem Zusammenhang eine besonders originelle Wahl darstellen. Bernhards grausame Kindheit im Schoße der Familie, das hat man denn doch schon einmal zu oft gehört. Entsprechend weniger Raum bleibt leider für die Beschäftigung und Zusammenschau mit den bisher wenig untersuchten Texten Morire in Levitate von Marlene Streeruwitz und Nora Bossongs Gegend. Man mag möglicherweise noch darüber hinwegsehen, dass Tholen gleich auf der ersten Seite die mittlerweile schon mehr als überstrapazierte Sentenz vom postmodernen Tod oder Verschwinden des Subjekts bemüht; ein Subjekt das gegenwärtig, so Tholen, als ein vornehmlich ethisch gedachtes wiederauferstehen darf. Schwieriger wird es dann schon, ihm beim Markieren einer vermeintlichen Konfrontationslinie zwischen Philosophie / Literaturtheorie und Literatur zu folgen: »Ich meine die diametrale Entgegensetzung von (autonomer) Subjektivität und Familie im Diskurs der zumeist männlichen Intellektuellen seit Beginn der Moderne. Im Gegensatz dazu ist in der Literatur der Gegenwart eine starke Hinwendung zu Familiennarrativen […] zu beobachten« (S. 36). Die Entgegensetzung von autonomer Subjektivität und Familie im Diskurs der (phallogozentristischen) Philosophie überrascht – zumindest die in der Frauen- und Geschlechterforschung Bewanderten – wohl kaum noch. Ein Blick in die Theorie(n) der Queer Studies – oder etwa auch in Hannah Arendts Werk – hätte zudem Einblick darin geben können, dass neben Jacques Derrida noch eine Vielzahl anderer TheoretikerInnen versuchen, Familie und Gemeinschaft anders als durch biologische Verwandtschaft zu denken und zu leben.

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Familienroman – ein schwieriges Genre

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Die gegenwärtige Renaissance des Familienromans in der (deutschsprachigen) Literatur wird in den Feuilletons oftmals damit erklärt, dass die Erfahrung des Verlusts starker familialer und ehelicher Bindungen das Bedürfnis erzeuge, diese narrativ festzuhalten (vgl. S. 37). Eine Renaissance, die – zumindest ist dies der Schwerpunkt, den der Band mit zwei Beiträgen zum Thema setzt – in Deutschland unter anderem um die trans- und intergenerationelle Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte kreist. Wesentlich dabei scheint zu sein, dass der Familienroman in das Spannungsfeld von individueller, familialer und nationaler Geschichte und Erinnerung eingelassen ist.

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Eine besonders spannende historische wie thematische Dimension ergibt sich dabei in der – allerdings vom Leser / von der Leserin zu leistenden – Zusammenschau von Thorsten Fitzons und Laurel Cohen-Pfisters Ausführungen. Cohen-Pfister analysiert mit Schlesisches Wetter von Olaf Müller, Die Unvollendeten von Reinhard Jirgl und Himmelskörper von Tanja Dückers drei zeitgenössische, aus der Perspektive der EnkelInnen-Generation geschriebene Familienromane. Bei beiden Aufsätzen rückt so – trotz der gut 100 Jahre auseinander liegenden Primärliteratur – die Familie als Erinnerungsraum, und als deren ›Bewahrer‹ insbesondere die Großelterngeneration, in den Mittelpunkt.

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Diese Verquickung von Zeit und Raum scheint sich, wie Hans-Joachim Hahn in seinem systematischen Beitrag feststellt, in den Familienromanen der Gegenwart exemplarisch im (Eltern-)Haus als Träger bestimmter Emotionen, »als eine Art objective correlative« (S. 280) niederzuschlagen. Familienromane, so Hahn weiter, lassen sich zunächst von ihrem Inhalt her definieren, einem Inhalt, dem aber offensichtlich nur mit spezifischen narrativen Strukturen beizukommen ist: »Das (Auto)biographische führt naturgemäß entweder zur Ichperspektive oder aber zur Form eines allwissenden Erzählers« (S. 278). Familie scheint also nicht nur ein gesellschaftliches / gemeinschaftliches, sondern auch ein narratives Ordnungsmuster zur Verfügung zu stellen. Der gegenwärtigen Krise der Familie entsprechend könne man, Hahn folgend, in zeitgenössischen Familienromanen folgende formale Charakteristika beobachten: (1) die Auflösung der konventionellen Erzählperspektive; (2) die Dekonstruktion kontinuierlicher Zeitstrukturen; (3) und schließlich eine Tendenz hin zum Fragmentarisch-Offenen.

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Was freilich hier deutlich wird – und Hans-Joachim Hahn weiß um dieses Dilemma –, ist die Schwierigkeit, mit der sich das Genre Familienroman vom Roman im Allgemeinen und anderen Romangenres im Besonderen (etwa dem Bildungsroman), unterscheiden lässt. Denn – so könnte man argumentieren – auf formaler Ebene treffen diese drei Merkmale auch auf andere Romane zu. Darüber hinaus gerät man leicht in Gefahr, die ästhetischen Charakteristika der Romane als durch Veränderungen in der ›Realität‹ bedingt zu verstehen. Ein solch eindimensionales Einflussverhältnis von Literatur und Welt liegt freilich nicht nur Hahn, sondern allen Autorinnen und Autoren des Bandes fern. Vielleicht wäre es möglich, den Zusammenhang zwischen gegenwärtiger ›Krise‹ der Familie und Literatur mittels einer Strukturmetapher zu denken: Schließlich ist ja (auch wenn es manchmal nicht so scheint) Ordnung das, was Familie stiftet und verfügbar macht – sowohl ›in der Realität‹ als auch in der Literatur.

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Fazit

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Der Band, den Thomas Martinec und Claudia Nitschke hier vorlegen, hat einen wesentlichen blinden Fleck: Keiner der Beiträge nimmt die spezifische ›Heterosexualisierung‹ von Familie in den Blickpunkt. Angesichts dessen fragt man sich nicht zuletzt, warum und von welcher Warte aus in vielen Beiträgen immer wieder latent ein Funktionsverlust betrauert, und nicht schlicht ein Wandel konstatiert wird. Zugegeben, der gegenwärtige Funktionsverlust oder Funktionswandel der Familie steht erklärtermaßen nicht im Vordergrund des Bandes; dennoch rekurrieren sowohl die HerausgeberInnen als auch eine Vielzahl der Autorinnen und Autoren immer wieder auf dieses Phänomen, ohne sich jedoch (selbst-)kritisch dazu zu verhalten.

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Die thematische Anordnung der Beiträge enttäuscht insofern, als dass dennoch die Auseinandersetzung mit einer spezifischen Epoche – nämlich dem 19. Jahrhundert – klar dominiert. Zudem ist die letzte Sektion, welche historisch zwar einen mehr oder weniger großen Bogen zieht, thematisch sehr unspezifisch – denn um »historische und ästhetische Konfigurationen im Spiegel der Familie« geht es zweifelsohne auch in den anderen Aufsätzen. Da mag man sich des Eindrucks nicht erwehren, bei dieser Anordnung handle es sich um eine Verlegenheitslösung der HerausgeberInnen. Hervorzuheben ist allerdings die durchaus originelle Idee, den Band mit einer Sektion über Identitätsverlust im Zusammenhang mit Familie zu eröffnen, wenngleich einer der beiden Beiträge zu dem Thema (Toni Tholen) und schließlich der gesamte Band den geweckten Erwartungen in großen Strecken nicht gerecht wird. Was unkonventionell beginnt, findet in den meisten Artikeln eine allzu konventionelle und wenig überraschende Fortsetzung.

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Der Band ist dennoch durchaus solide; einige – leider nicht die Mehrzahl – der Beiträge sind überaus spannend (Sebastian Möckels Beitrag etwa). Dennoch bleibt am Ende der Eindruck, dass keine wirklich neuen Perspektiven auf den Gegenstand in Angriff genommen wurden, und daher im Großen und Ganzen leider auch recht wenig Neues gesagt wird.

 
 

Anmerkungen

Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib; 1750–1850. Frankfurt/M. u.a.: Campus 1991.   zurück
Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 82.   zurück
Michel Foucault: Strukturalismus und Poststrukturalismus. In: M. F.: Schriften in vier Bänden. Bd. 4. hrsg. v. D. Defert und F. Ewald. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 521–555, hier S. 545.   zurück