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Zwischen Geistesarbeit und Aschenbrödeltum

Die Professionalisierung der Autorschaft
zwischen 1800 und 1933

  • Rolf Parr: Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930. Heidelberg: Synchron 2008. 136 S. 9 s/w Abb. Broschiert. EUR (D) 14,80.
    ISBN: 978-3-939381-01-3.
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Autorschaft: Aktuelle Debatten und Forschungsfragen

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In der germanistischen Literaturwissenschaft hatte der Begriff der ›Autorschaft‹ in der letzten Dekade Konjunktur. Zwischen biografischen und hermeneutischen Ansätzen auf der einen Seite und poststrukturalistischen Relativierungen der Autorfunktion auf der anderen bemühten sich einige umfassende Veröffentlichungen um eine differenziertere Analyse von Konzeptionen der Autorschaft. 1 Dazu zählen sowohl die produktive Auseinandersetzung mit dem ›Tod des Autors‹ bzw. seiner Relativierung zu einer diskursiven Funktion als auch Ansätze zu einer Skalierung, beispielsweise zwischen den Polen ›schwacher‹ und ›starker Autorschaft‹; die Modifikation der Autorfunktion im digitalen Zeitalter ist ein weiteres, schnell wachsendes Forschungsfeld.

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In diesen Zusammenhängen wurden bislang zwar viele poetologische Programme, literarische Texte und literaturtheoretische Fragen aufgearbeitet, die materielle und somit sozialgeschichtliche Situation der Autoren blieb jedoch weitestgehend ausgeblendet. Wenn es nicht mehr wichtig ist, wer spricht, interessiert auch die Frage nicht mehr, auf welche Weise diese Stimme eigentlich (über)lebt.

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Genau an dieser Stelle setzt nun Rolf Parrs schmaler Band Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930 ein, um zumindest für diesen Zeitraum eine Sozialgeschichte der Autoren zu schreiben – die es aktuell nicht gebe, wie ihm und Jörg Schönert bei der Arbeit am Beitrag »Autoren« für eine Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert aufgefallen war. 2 Der Band soll somit die literaturtheoretischen Debatten über Autorschaft um eine sozialgeschichtliche Dimension erweitern und zugleich als eine »kurzgefasste und als vertiefende Lektüre zu literatur- und auch buchwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen« (S. 7) geeignete Zusammenfassung dienen.

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Methoden: Sozialgeschichte,
System-, Feld- und Interdiskurstheorie

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Parrs kurze Sozialgeschichte der Autorschaft für die Zeit von 1860 bis etwa 1930 beschreibt Autorschaft »im Dreieck von ästhetischen, ökonomischen und juristischen Faktoren« und setzt sich zum Ziel, die »Fremd- und Selbstverständnisse von Autorschaft«, die »soziale Stellung, Autorenhonorare, berufsständische und gesellige Zusammenschlüsse« sowie die Differenzierungen von Autorschaftskonzepten darzustellen. Leider wird einführend nicht näher begründet, weshalb der Text ausgerechnet »die Zeit von 1860 bis etwa 1930« (S. 7) fokussiert – die herausgehobene Bedeutung dieser Periode liegt gewiss in der Differenzierung des literarischen Feldes ab den Bundestagsbeschlüssen zum Jungen Deutschland in den 1860er Jahren einerseits und in der Entdifferenzierung dieses Feldes mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten andererseits. 3

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Für seine Analysen nutzt Parr vier theoretische Zugriffe: Erstens eine sozialgeschichtliche Perspektive, insbesondere die Professionalisierungsforschung, zweitens die Systemtheorie, drittens die Interdiskurstheorie und viertens die Feldtheorie Pierre Bourdieus. Dabei handelt es sich jedoch um Ansätze, die einander zwar teilweise ergänzen, allerdings mitunter nur schwer miteinander zu vereinbaren sind.

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Zur Lösung dieses Problems schlägt Parr beispielsweise vor, die Sozialgeschichte durch die Aufnahme systemtheoretischer Elemente (im Anschluss an die buchwissenschaftliche Münchener Forschungsgruppe um Georg Jäger) sowie um interdiskurstheoretische Ansätze zu ergänzen, die das Verhältnis von Texten sowie sozialer Trägerschaft auch »jenseits simpler Abbildmodelle« (S. 9) differenzierter beschreibbar machen. Insbesondere ein Verständnis von Autoren als Produzenten von Interdiskursen (die Spezialwissen und Spezialdiskurse auszugsweise integrieren und zu individuellen und kollektiven Subjektivitätskonstruktionen nutzen) könne helfen, das Verhältnis von künstlerischen Programmen, individuellem Handeln und literarischen Institutionen zu analysieren. Zudem ersetzt Parr das sozialgeschichtliche Konzept des literarischen Marktes und Lebens durch Bourdieus Beschreibung des ›literarischen Feldes‹ als eines soziologisch konstruierten Raumes, in dem sich die Positionierung und Professionalisierung von Autoren als ein Kampf um Positionen vollzieht.

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Da Parr diese wichtigen methodischen Fragen jedoch nur auf dreieinhalb Seiten abhandelt, kann er diese hochkomplexe Materie nur bedingt klären. Sein Hinweis, dass er im Folgenden »Facetten aller vier theoretischen Ansätze« nutzen werde, diese jedoch »an der Textoberfläche nicht explizit« thematisiere und diese zudem »teils direkt, teils vermittelt über die benutzte Forschungsliteratur« (S. 11) Eingang in den Text finden, verdeutlicht, dass seine Arbeit sich weniger um die Klärung methodischer Fragen als vielmehr um die Aufbereitung und Ergänzung des bisherigen Forschungsstandes bemüht.

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Professionalisierung im 19. Jahrhundert:
Vom ›Genie‹ zum ›Geistesarbeiter‹

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Wesentlich differenzierter erweist sich Parrs Text in der direkten Auseinandersetzung mit seinem Gegenstand, wobei er die bisherigen Forschungsergebnisse in fundierter Weise aufarbeitet und ergänzt. Die Entwicklung von Autorenrollen und -selbstverständnissen zwischen 1870 und 1918 lässt sich für ihn nicht – und hier wendet er sich gegen »die neuere Modernisierungsforschung« (S. 12) – als eine durchgängige linerare und flächendeckende Tendenz zur Professionalisierung beschreiben. Zwar greift er in seiner eigenen Beschreibung selbst auf »die Leitperspektive ›Professionalisierung‹ […] als roter Faden« (S. 13) zurück, er weist jedoch zugleich darauf hin, dass eigentlich verschiedene Autorschaftsformen (von Berufsautoren bis Gelegenheitsdilettanten) und verschiedene soziale Existenzformen der Autorschaft (von Dichterfürsten bis zu reinen Textlieferanten) differenziert werden müssen, und zudem auch ältere, tradierte Rollenbilder der Autorschaft virulent bleiben.

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In dieser notwendigen Differenzierung, die sich auch um die Darstellung von Widersprüchen, Brüchen und nicht-linearen Entwicklungen bemüht, liegt die große Stärke des vorliegenden Buches. Zunächst zeigt Parr, wie sich das Konzept des ›freien Schriftstellers‹, der »als Spezialist in Sachen Nicht-Spezialisierung« (S. 16) fungiert, seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Genie-Ästhetik konstituiert hat. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird dieser Typus dann auch als juristisches und als ökonomisches Subjekt etabliert, indem das literarische Feld rechtlich und politisch abgesichert wird – und mit ihm auch Verleger, Buchhandel, literarische Institutionen und eben auch der ›freie Schriftsteller‹.

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Diese Professionalisierung und Etablierung treibt die Autoren jedoch in eine »anhaltende Spannung von Beruf und Berufung« (S. 18): Je stärker sie sich auf die Erfordernisse des literarischen Marktes einlassen, desto mehr verlieren sie ihre herausgehobene Stellung als unabhängige Denker – ein »sozialgeschichtliches Paradox« (S. 21). Parr verweist an dieser Stelle auf Wilhelm Raabe und Arno Holz, die ihr ›literarisches‹ von einem ›kommerziellen‹ Werk unterschieden haben, um mit diesem Paradox umzugehen.

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Zudem zeigt Parr, dass die Selbststilisierung des ›auratischen Dichtertums‹ in dieser Zeit zunehmend ersetzt wird durch ein Autorschaftsverständnis, das das Schreiben als eine Arbeit bestimmt. Während zwischen 1830 und 1850 die Tätigkeit als »Autoren-Handwerker« (S. 22) – der sich allerdings jenseits etablierter Ausbildungswege oder wirtschaftlicher Regelungen durchschlägt – insbesondere für Aufstiegsorientierte ohne hohen Bildungsabschluss attraktiv ist, setzt sich nach den politischen Aufständen von 1848 das Konzept des Schriftstellers als ›Geistesarbeiter‹ durch, in dem die bürgerliche und intellektuelle Tradition (›Geist‹) mit einer Stärkung des materiellen und handwerklichen Aspekts (›Arbeit‹) vereint wird. Diese Formel hilft nach 1850, »die ›freischwebende Intelligenz‹ des Vormärz zunächst auf das konsolidierende gesellschaftspolitische Programm der Restaurationszeit und dann relativ nahtlos auf das der Reichsgründungsphase einzuschwören.« (S. 27)

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Kaiserreich: Bildungsbürgerliche Kommerzialisierung
und erste Interessenvertretungen

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Hat sich die Untersuchung bis hierhin noch diskursanalytisch mit den Diskursen über Autorschaft bis 1860 beschäftigt, so schreibt Parr im folgenden und ausführlichsten Abschnitt eine Sozialgeschichte der Autorschaft im Kaiserreich, ausgehend von der vorherrschenden Forschungsmeinung, »im Vorfeld der Reichsgründung [sei] eine Zäsur« eingetreten, indem neue gewerbliche und juristische Regelungen durchgesetzt wurden und zugleich das emphatische Kulturverständnis des neuen Reiches »einen deutlichen Zuwachs im Sozialprestige der Autoren« (S. 29) mit sich brachte.

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Diese »bildungsbürgerliche Kommerzialisierung der Literatur nach 1870« (S. 31) differenzierte das literarische Feld in zuvor nicht gekannter Weise: Während einzelne kommerziell erfolgreiche Autoren ein Vielfaches des Gehaltes mittlerer Angestellter verdienten (bis zu 100.000 Mark), erhielt beispielsweise Arno Holz für seinen Gedichtband Buch der Zeit nur 25 Mark, heute kanonisierte Autoren wie Heinrich Mann oder Theodor Fontane verdienten mit einem Roman 3.000 bis 4.000 Mark. Während somit die Professionalisierung des literarischen Feldes einzelnen Autoren, die sich als ›Unternehmer‹ und ihre ›Literatur als Ware‹ verstanden, ungekannte Verdienstmöglichkeiten bot, lässt sich die soziale Situation der meisten Schriftsteller um 1890 – hier zitiert Parr Theodor Fontanes Aufsatz Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller von 1891 – als »Aschenbrödeltum« (S. 38) beschreiben.

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Zur Behebung ihrer schwierigen ökonomischen Situation entwickeln die Schriftsteller um 1890 drei verschiedene Lösungsansätze: Erstens wird der Staat zum Eingreifen aufgefordert, der sich schließlich auch um eine materielle Autorenförderung bemüht, die aber in einer problematischen und impliziten Weise die staatliche Zensur unterstützt, denn gefördert wird, was politisch gefällig ist. Im Gegensatz dazu steht zweitens die ideelle Selbsterhöhung der Autoren, so entwirft sich beispielsweise Michael Georg Conrad als ›Bismarck der Literatur‹ – ein Modell, das natürlich das eigentliche Problem nicht löst. Die erfolgreichste Lösungsstrategie ist drittens die organisierte Interessenvertretung der Autoren, die sich in berufsgenossenschaftlichen Vereinen und Verbänden zusammenschließen, welche sich bewusst an gewerkschaftlichen Strukturen orientieren.

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Mit diesem Punkt setzt sich Parr ausführlich und kenntnisreich auseinander, er listet 32 Interessenvertretungen der Autoren tabellarisch auf, beschreibt exemplarisch den Deutschen Schriftsteller-Verband von 1887 und sein Organ Die Feder (1898–1935), dokumentiert entsprechende Werbeanzeigen und diskutiert die Effekte der Interessenvertretungen, die zwar nicht immer alle erkannten Probleme lösen, allgemein jedoch »für ein verbreitertes Professionsbewusstsein« (S. 58) sorgen.

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Schließlich stellt Parr fest, dass es um 1900 für sämtliche Schichten und Berufe genaue statistische Angaben über ihre Berufsausübung und ihre Einnahmen gebe, jedoch nicht für die Schriftsteller. Er selbst kann – ausgehend von zeitgenössischen Analysen von Georg Hermann und Ernst Freiherr von Wolzogen – ebenfalls nur einige grobe Tendenzen benennen, wie das Aufsplitten des Förder- und Abhängigkeitsmodells »in zwei einander nahezu diametral entgegenstehende Formen«, das verlegerische Vorschussmodell und das der ökonomischen Ausrichtung entgegenstehende Mäzenatentum. Parr weist aber darauf hin, dass noch immer eine differenzierte Untersuchung der Autorenhonorare im Kaiserreich fehlt, die zu klären hätte, »was (…) in welcher Form (…) wofür (…) und auf welcher Berechnungsgrundlage« (S. 64) honoriert wurde.

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Der Erste Weltkrieg: Probleme und Einbrüche

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Die Beschreibung der materiellen Situation von Autoren während des Ersten Weltkriegs ermöglicht Parr, die These von einer kontinuierlichen Professionalisierung und Differenzierung der Autorschaft zu problematisieren. Denn während das Überleben für die meisten Autoren bereits vor dem Krieg sehr schwierig war, spitzte sich deren Situation nun noch zu. Die Verlage, Zeitschriften und Magazine veröffentlichten zunehmend patriotische Texte von Gelegenheitsautoren (für wenig Geld oder gar kostenlos), was die Einnahmemöglichkeiten für Schriftsteller verringerte, gleichzeitig stiegen allgemein die Lebenshaltungskosten an.

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Zudem wandelten sich in den Kriegszeiten die Autorbilder: Einerseits sollten sich Schriftsteller »mit der wiedererstarkten Rolle des ›Sehers‹, ›Propheten‹ oder auch ›geistigen Führers‹« (S. 69) identifizieren, andererseits lässt sich für viele Autoren eine »Politisierung und positiv konnotierte Übernahme der Intellektuellenrolle« (S. 71) beschreiben, die sich in der Herausbildung einer politisch-revolutionären Avantgarde niederschlägt. Dieser Typus des ›politischen Schriftstellers‹, der sich seit den 1910er Jahren etabliert, ist nun auch »wieder Spezialist und nicht mehr nur Spezialist für Entspezialisierung.« (S. 72)

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Beide Tendenzen vereint jedoch, dass der Erste Weltkrieg sowohl einen Einbruch des gesellschaftlichen Status von Schriftstellern bedeutet als auch ihre Etablierung als professionalisierte Berufsgruppe in Frage stellt, was in den Berufsverbänden der Autoren beispielsweise zur Forderung führt, den Zugang zum Schriftstellerberuf zu reglementieren. In einigen wenigen Sätzen über die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg hält Parr fest, dass die Situation für die meisten Autoren materiell schwierig bleibt, denn nun produzieren die Konzentrationstendenzen im Buchhandel und auf dem Zeitschriftenmarkt einen starken ökonomischen Konkurrenzdruck.

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Distinktionen: Autorschaftspositionen,
Geschlechterdifferenzen, Autorengruppen

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Nachdem Parr seinen historischen Durchlauf abgeschlossen hat, wendet er sich – ausgehend von der feldtheoretischen Annahme, dass sich Autorschaftspositionen durch ihre Distinktion auf dem literarischen Feld entwickeln – jenen differenzierenden Konstellationen auf dem Feld der Autorschaft zu, die ›Sonderfälle‹ der Autorschaft jenseits der Belletristik darstellen und sich als spezifische Berufsgruppen beschreiben lassen: Redakteure und Journalisten, (populär-) wissenschaftliche Autoren, Autoren von Kinder- und Jugendliteratur, Übersetzerinnen und Übersetzer sowie Musikschriftsteller. An dieser Stelle wäre es natürlich auch möglich gewesen, andere Kategorien der Differenz – die sich beispielsweise an den literarischen Gattungen, an geografischen Unterschieden oder an der Frage der Generation hätten ausrichten können – näher zu betrachten; da sich Parr aber primär für den Verlauf der Professionalisierungsprozesse interessiert, ist seine Untersuchung der Berufsgruppen-Spezifika plausibel.

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Besonders interessant sind jedoch Parrs folgende Ausführungen über die Geschlechterdifferenz, der er sich – im Gegensatz zur »vorliegenden Forschungsliteratur« (S. 75) – in einem eigenen Unterkapitel zuwendet, da sich die Professionalisierungsprozesse für Autorinnen ab 1860 in anderer Weise darstellten als für die männlichen Kollegen. Einerseits war das Schreiben eine der wenigen Tätigkeiten, die bürgerlichen Frauen ›erlaubt‹ wurde (bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1901 benötigten Frauen die Genehmigung ihres Mannes oder Vormundes zur Wahrnehmung ihrer geschäftlichen Tätigkeit), andererseits wurde »das Schreiben von Frauen in der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht wirklich ernst genommen und gerade auch in der Begrenzung auf bestimmte Genres möglichst dem Bereich der Privatheit zugeschlagen« (S. 77). Zu den für Schriftstellerinnen ›erlaubten‹ Genres zählten Briefe, Gedichte und Erinnerungen, beim Roman gestaltete sich dies bereits schwieriger, und beim Drama und im Journalismus blieb für sie nahezu nur die Möglichkeit, unter einem männlichen Pseudonym zu veröffentlichen.

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Neben der Differenzierung von Autorentypen und Geschlechterstereotypen widmet sich Parr abschließend der Gruppenbildung von Autoren, denn in der »Zeit zwischen Reichsgründung und Beginn des Ersten Weltkriegs gab es kaum einen Schriftsteller, der nicht irgendeiner literarisch-kulturellen Gruppierung angehörte« (S. 101) – wobei diese als Ausdruck einer ästhetischen, politischen oder regionalen Positionierung von der Mitgliedschaft in Interessenverbänden zu unterscheiden ist. Parr arbeitet heraus, dass die Mitgliedschaft in Dichterschulen oder literarischen Gesellschaften sowohl für die ästhetisch-ideologische Selbstbestimmung der Autoren untereinander und gegenüber der hegemonialen Kultur produktiv sein konnte (in der paradoxen Figur einer Individualisierung durch die Mitgliedschaft in einer Gruppe) als auch im Sinne einer ›Seilschaft‹ positive materielle Effekte haben konnte. So zeigt er, dass Theodor Fontane »ohne seine im Berliner ›Tunnel über der Spree‹, in ›Rütli‹ und ›Ellora‹ geknüpften Verbindungen weder zur Veröffentlichung seiner früheren Gedichtbände noch zu Finanzierung und Publikation der ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ gekommen wäre.« (S. 105) Der Erste Weltkrieg, in dem viele männliche Mitglieder der literarischen Gruppen einzogen wurden, sowie die Zeit der Wirtschaftskrise in der Weimarer Republik mit ihrer Papierknappheit sorgen jedoch dafür, dass die Blüte der literarischen Gruppen, die nach 1933 ohnehin aufgelöst oder gleichgeschaltet wurden, ein Ende fand.

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Fazit: Wo Aschenbrödeltum war,
ist Medienprekariat geworden

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Zwar kann die vorliegende Arbeit die methodische Frage, wie heute – unter Bezugnahme auf system-, feld- und interdiskurstheoretische Ansätze – eine Sozialgeschichte der Autorschaft zu schreiben wäre, nur in Ansätzen klären, da weitere – und stärker theoretisch angelegte – Arbeiten als Basis nötig wären. Dafür löst sie aber in differenzierter und kenntnisreicher Weise ihren Anspruch ein, den Forschungsstand über die sozialgeschichtliche Entwicklung der Autorschaft »zwischen 1860 und 1930« (Untertitel) zusammenzufassen und zu ergänzen.

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Sie leistet sogar mehr als das, indem sich erstens ihr Gegenstandsbereich nicht nur auf die genannten Jahre, sondern sogar auf die Zeit zwischen 1800 und 1933 erstreckt. Zweitens gelingt es ihr, die These von einer sich linear und flächendeckend durchsetzenden Professionalisierung der Autorschaft an zahlreichen Stellen zu problematisieren, das literarische Feld selbst zu differenzieren und historische Brüche kenntlich zu machen. Da Schaubilder und Abbildungen den Band ergänzen und der Text in äußerst verständlicher Sprache gehalten ist, eignet er sich vorzüglich als Grundlage für Lehrveranstaltungen.

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Dennoch weist Parr am Ende berechtigterweise darauf hin, dass noch immer viel Forschungsarbeit zu leisten sei. So ließen sich für die Zeit um 1900 keine zuverlässigen Angaben über die Verdienste von Autorinnen und Autoren machen; mit der zu leistenden Pionierarbeit hat Parr hier begonnen.

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Parrs Text sollte zudem eine Warnung sein, auch in aktuellen Debatten um das Urheberrecht und das ›geistige Eigentum‹ mit dem Autor zu argumentieren, dessen Rechte es zu schützen gelte. Die Suggestion, dass – angesichts der Möglichkeiten der digitalen Kopie – nur mit dem bestehenden Urheberrecht und einer Bewahrung des Mediums Buch der Fortbestand hochklassiger Literatur zu gewährleisten sei, impliziert die Unterstellung, dass Buchautoren im Regelfall vom Ertrag ihrer urheberrechtlich geschützten Werke gut leben konnten. Parrs Buch macht jedoch deutlich, dass selbst viele heute kanonisierte Autoren zu einer ›Mischkalkulation‹ gezwungen waren. Bereits in der Gutenberg-Galaxis gestalteten sich somit die Bilder der Autorschaft und ihre Verdienstwege widersprüchlich – und die meisten ›Geistesarbeiter‹ schrieben damals aus einem ›Aschenbrödeltum‹ heraus, das heute als ›junges Medienprekariat‹ wiederkehrt, was die gegenwärtige Situation natürlich keineswegs schöner macht.

 
 

Anmerkungen

Fotis Jannidis: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer 1999. Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matias Martinez / Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000. Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. (Germanistische Symposien. Berichtsbände 24) Stuttgart, Weimar: Metzler 2002.   zurück
Der vorliegende Band basiert auf diesem Artikel, vgl. Rolf Parr unter Mitarbeit von Jörg Schönert: Autoren. In: Georg Jäger (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Das Kaiserreich 1871–1918. Teil 3. München: Saur 2010 (im Erscheinen).   zurück
Parr hat bereits eine Untersuchung zu Literatur- und Kulturvereinen in etwa demselben Zeitraum vorgelegt, an die er hiermit anschließt. Vgl. Rolf Parr: Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Vereinen, Gruppen und Bünden zwischen Vormärz und Weimarer Republik. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 75) Tübingen 2000.    zurück