IASLonline

Werks- und Lebensansichten des Autors Hoffmann

  • Detlef Kremer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben - Werk - Wirkung. Berlin: Walter de Gruyter 2009. XVI, 666 S. 10 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 159,95.
    ISBN: 978-3-11-018382-5.
[1] 

Die deutsche Literaturgeschichtsschreibung hat sich mit E.T.A. Hoffmann lange Zeit schwer getan. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wirkten die abfälligen Schilderungen der Zeitgenossen, die den Spätromantiker als allzu fantastischen, dem Wahnsinn nahestehenden Trunkenbold darstellten, dem bald das Etikett »Gespenster-Hoffmann« zukam. Seit einem halben Jahrhundert hat dieses Klischee einer differenzierteren Sicht Platz gemacht.

[2] 

Der vermeintlich von einer überspannten Fantasie und dem starken Einsatz berauschender Mittel getriebene genialische Phantast ist mittlerweile im schulischen und akademischen Unterricht fest verankert und als einer der bedeutendsten Autoren der deutschen Romantik anerkannt:

[3] 
Für die Forschungslage, die Präsenz der Werke in der Öffentlichkeit sowie ihre Behandlung in Schule und Universität lässt sich ohne Übertreibung feststellen, dass Hoffmann seit den 1980er Jahren zum festen Bestandteil des gehegten literarischen Kanons geworden ist. (S. 614)
[4] 

In Folge dieser Umwertung des vormals gering geschätzten Autors ist die Menge der Forschungsbeiträge in den letzten 30 Jahren »exponential angestiegen« und hat »einen Umfang angenommen […], der kaum noch zu überblicken ist« (S. 593).

[5] 

Dieser veränderten Situation Rechnung tragend, liegt nun, mehr als zwei Jahrzehnte nach einer Gesamtdarstellung des Hoffmannschen Werks durch Brigitte Feldges und Ulrich Stadler 1 ein neues Handbuch zu E.T.A. Hoffmann vor, das seinen Vorgänger in jeder Hinsicht übertrifft. Während sich Feldges und Stadler auf zehn Erzähltexte Hoffmanns sowie Kapitel zum musikalischen Werk, zur Rezeption, zu zeitgeschichtlichen Hintergründen und zur Poetik beschränkten, ist das neue Handbuch weitaus umfangreicher und deckt viele zusätzliche Bereiche ab.

[6] 

Zudem ist die Last dieses schwierigen Geschäfts auf ungleich mehr Schultern verteilt. Neben dem Herausgeber Detlef Kremer, einem der profiliertesten Hoffmann-Kenner unserer Zeit, trugen unter anderem renommierte Spezialisten wie Hartmut Steinecke – Herausgeber der maßgeblichen Hoffmann-Ausgabe im Klassiker-Verlag 2 und Verfasser zweier hervorragender Monographien 3 –, Friedhelm Auhuber, Gerhard Allroggen oder Werner Keil, aber auch jüngere Hoffmann-Forscher Artikel zu diesem großen Wurf bei, der unzweifelhaft alsbald ein Standwerk der Hoffmann-Forschung sein wird.

[7] 

Anspruch und Aufbau

[8] 

E.T.A. Hoffmann fordert zu einer Einzeldisziplinen übersteigenden Forschung heraus, war er doch neben seiner produktiven und zu Lebzeiten überaus erfolgreichen Karriere als Schriftsteller auch als Zeichner, Musikkritiker und ‑theoretiker, Komponist, Kapellmeister und nicht zuletzt als Jurist tätig. Eine Großunternehmung wie das vorliegende Handbuch tut gut daran, diese Herausforderung anzunehmen und, wie geschehen, durch das Einbinden »zahlreiche[r] Literatur-, Musik- und Rechtswissenschaftler und ‑wissenschaftlerinnen […] das facettenreiche Werk Hoffmanns aus verschiedenen, sich ergänzenden Blickwinkeln« zu beleuchten (S. V). Es wird also das ehrgeizige Projekt verfolgt, den ›ganzen‹ Hoffmann zu beachten und ihn zudem nicht als isoliertes Phänomen, sondern als von zeitgenössischen Diskussionen geprägt darzustellen.

[9] 

Leider wurde dabei ein Tätigkeitsbereich Hoffmanns völlig ausgespart: Der bildende Künstler findet keinerlei Berücksichtigung. Freilich: Es herrscht Einigkeit, dass seine Arbeiten als Zeichner und Karikaturist nicht das gleiche Niveau wie seine literarischen Werke aufweisen. Außerdem nahm seine Produktivität als Zeichner seit der Bamberger Zeit ab. Dennoch muss verwundern, dass keinerlei Gründe für diese Nichtbeachtung genannt werden. Neben über 30 Seiten zum musikalischen Werk hätte ein zumindest kleines Kapitel zu Hoffmann als Zeichner diesem Buch gut zu Gesicht gestanden.

[10] 

Die übrigen Schaffensbereiche dagegen finden sich in aller wünschenswerten Ausführlichkeit behandelt, wobei der Schwerpunkt selbstredend auf dem literarischen Werk liegt. Die Hälfte des Gesamtumfangs ist dem Literaten Hoffmann gewidmet. Daneben werden das musikalische Werk, die juristischen Schriften sowie die Briefe und Tagebücher angemessen bedacht. Das Buch begnügt sich indes nicht damit, ein reines Werklexikon zu sein. Neben Werkinterpretationen werden dem Leser auch »Systematische Aspekte« präsentiert. Damit sind Motive und Zusammenhänge wie »Automaten«, »Doppelgänger«, »Ironie / Humor«, »Magnetismus / Mesmerismus«, »Serapiontik«, »Traum und Rausch« oder »Wahnsinn« gemeint, die für Hoffmanns Werk prägend sind. Abschließend informiert das Buch über Rezeptions- und Forschungsgeschichte und stellt ein ausführliches Literaturverzeichnis bereit.

[11] 

Literarische Tradition und zeitgenössische Diskurse

[12] 

Den Anfang macht eine konzentrierte biographische Skizze von Hartmut Steinecke. Darauf folgend werden »Bekannte und Zeitgenossen E.T.A. Hoffmanns« in Kurzbiographien vorgestellt. Neben Freunden und Verwandten sind hier Verleger (beispielsweise Ferdinand Dümmler) oder literarische (Adelbert von Chamisso, Friedrich de la Motte Fouqué) und wissenschaftliche Bezugsautoren wie Philippe Pinel, Carl Alexander Ferdinand Kluge, Johann Christian Reil oder Gotthilf Heinrich Schubert zu finden.

[13] 

In gebotener Ausführlichkeit werden sodann die literarischen und diskursiven Voraussetzungen des Hoffmannschen Werks präsentiert. Die Darstellung von »Hoffmanns Verhältnis zur literarischen Tradition und seine[n] daraus geformten Schreibweisen« (S. 37), die sich nicht in Einflussforschung erschöpfen will, zeichnet die Lektüren des Autors nach, in denen seine Poetik präformiert ist. Die Lieblingsautoren Hoffmanns waren Rabelais, Rousseau, Cervantes, Jean Paul, Kleist, Sterne, Gozzi und natürlich Shakespeare.

[14] 

Hoffmanns Vorliebe galt den hochartifiziellen und selbstreflexiven, zumeist mit einem komisch-parodistischen Gestus versehenen Meister-Texten und den darin verhandelten Narren und Lebenskünstlern mit ungewissen oder verdoppelten beziehungsweise potenzierten Identitäten. (S. 38)

[15] 

Dabei wird von einer »produktiven Rezeption« (S. 42) ausgegangen. Hoffmann lehnte sich an seine Vorbilder an, ging aber auch über sie hinaus. Franz Loquai kommt zu »dem grundsätzlichen Befund, dass sich Hoffmann mit seinem Werk in jene Traditionslinien der europäischen Literatur einschreibt, die mit ihren metafiktionalen Konzepten und Fiktionsironien die Genese der Moderne einleiten« (S. 44).

[16] 

Von dieser literarischen Tradition war auch die frühromantische Poetik geprägt. Hoffmanns Schreibweise wird kenntnisreich an frühromantische Überlegungen rückgebunden, so dass offenbar wird, in welchem Ausmaß sie diesen ästhetischen Reflektionen verpflichtet ist. Sehr zu loben ist dabei, dass die frühromantischen Theorien nicht nur abstrakt als diskursive Voraussetzungen dargestellt, sondern ihre Spuren in den Texten Hoffmanns nachgewiesen werden, etwa wenn Kater Murr als radikalste und avancierteste Umsetzung von Schlegels Konzeption des Fragments gedeutet wird (vgl. S. 52).

[17] 

Nicht nur literaturgeschichtliche und poetologische Einflüsse, auch außerliterarische Wissensbereiche wie romantische Psychologie, Medizin, Natur- und Sprachphilosophie werden von Hania Siebenpfeiffer, Friedhelm Auhuber, Jürgen Barkhoff und Stefan Willer vorgestellt. Die Einbettung von Hoffmanns komplexem und von zeitgenössischem Wissen durchsetzten Werk in die wesentlichen ideengeschichtlichen Kontexte leistet eine kulturwissenschaftliche Fundierung. Mag auch der Inhalt der einzelnen Artikel wenig bieten, was nicht schon aus der Forschung bekannt ist, so entsteht aufgrund der Kompaktheit und Verständlichkeit Handbuchwissen im besten Sinne. Dabei wird erfreulicherweise bei aller kulturwissenschaftlich motivierten Konzentration auf diskursive Voraussetzungen hervorgehoben, dass die literarischen Texte nicht einfach den wissenschaftlichen Diskurs ihrer Zeit verdoppeln, sondern sich bei ihm bedienen und ihn so variieren oder ironisieren, mithin in ein genuin literarisches Spiel integrieren (vgl. S. 69). Durch das Benennen von Abweichungen und Modifizierungen werden die Texte des Literaten Hoffmann nicht auf die Summe ihrer Einflüsse reduziert.

[18] 

Die Auswahl aus dem literarischen Werk

[19] 

Nach den einführenden Artikeln zu den kontextuellen Wissensformationen kommt das literarische Werk zu seinem Recht. Dies kann angesichts der regen literarischen Produktion Hoffmanns selbstverständlich nur in Ausschnitten geschehen. Die getroffene Auswahl ist nachvollziehbar und bietet kaum einen Anlass zur Kritik. Neben Unverzichtbarem wie Der Sandmann, Das Fräulein von Scuderi, Der goldene Topf, Die Elixiere des Teufels oder Meister Floh werden Einführungen zu Texten geboten, die in der bisherigen Rezeptionsgeschichte nicht eben als kanonisch galten. Zu denken ist dabei an oft abfällig bewertete späte Erzählungen wie Die Doppeltgänger oder Die Irrungen / Die Geheimnisse, aber auch an Heimatochare, Die Marquise de la Pivardiere, Der Elementargeist oder Der Magnetiseur.

[20] 

Diese Textauswahl ist nicht nur selbst Zeugnis eines bereits gewandelten Hoffmann-Bildes, das sich nicht mehr auf eine Handvoll kanonischer Erzählungen und Kunstmärchen beschränkt. Sie legt auch Zeugnis von der Ambition ab, das bislang geläufige Textkorpus noch einmal zu erweitern und diese Ausweitung zu beeinflussen. Forschung wird mithin nicht nur resümiert, sie soll auch initiiert werden.

[21] 

Am bemerkenswertesten ist dieser Hinsicht, dass Hoffmanns Dramen-Versuch Prinzessin Blandina eine erhebliche Aufwertung in Form eines eigenständigen Artikels erfährt, obschon die Forschung, wie Stefan Scherer betont, »die Komödie für unwichtig erachtet und bislang kaum beachtet hat« (S. 139). Das in das Kreislerianum Kreislers musikalisch-poetischer Clubb [sic!] in den Fantasiestücken integrierte selbstreflexive Drama in der Nachfolge von Ludwig Tiecks Der gestiefelte Kater dürfte selbst vielen Hoffmann-Kennern bestenfalls flüchtig vertraut sein. Die Aufwertung geschieht allerdings nicht bedingungslos, insofern die »Epigonalität« des »scheiternden Dramenexperiments« (S. 143) nicht verschwiegen wird. Der Tücke, den in Form eines Handbuchs monumentalisierten Autor blind zu verehren, steht eine kritische Haltung entgegen.

[22] 

Sicherlich ließe sich diskutieren, ob – um nur einige Beispiele zu nennen – nicht auch die Briefe aus den Bergen, das Nachtstück Das steinerne Herz oder die Erzählungen Der Einsiedler Serapion und Die Brautwahl aus Die Serapions-Brüder hätten Aufnahme finden sollen. Jedoch ergibt sich aus der Einsicht in die Notwendigkeit der materiellen Begrenzung selbst eines umfangreichen Handbuchs, dass nicht jeder Text in relativer Ausführlichkeit vorgestellt werden kann, so dass Opfer in Form von Nichtberücksichtigungen gebracht werden müssen. Schmerzlich vermisst wird einzig eine gesonderte Betrachtung der Kreisleriana. Diese vor allem in den Fantasiestücken zu findenden Texte, die als fingierte literarische Zeugnisse von Hoffmanns zentraler Figur, des Kapellmeisters Johannes Kreisler, ausgewiesen sind, beinhalten nicht nur bedeutende Ansichten des Autors zur Musiktheorie, sondern müssen auch als avancierte Exempel der artifiziellen Schreibweise Hoffmanns gelten, so dass ein eigener Artikel zu dieser heterogenen Textsorte gerade wegen der hybriden Stellung zwischen literarischem und musikalischem Werk angebracht gewesen wäre.

[23] 

Die einzelnen Artikel sind so unterschiedlich wie ihre Verfasser, weisen aber ein durchgehend hohes Niveau auf. Gemeinsam ist den Artikeln auch, dass ein bereits kundiger Leser vorausgesetzt wird, da auf Inhaltsangaben generell verzichtet wird. Sicherlich ließen sich einige Einzeleinwände formulieren, worauf an dieser Stelle aber verzichtet werden soll, da die klugen und hilfreichen Bemerkungen die zu Widerspruch anregenden Passagen um ein Vielfaches übertreffen.

[24] 

Die Artikel treten zumeist nicht als letztgültige Interpretation auf, sondern bündeln verschiedene Forschungsansätze und ‑meinungen, ohne mit eigenen Ansichten zu geizen. Die Verfasser beschränken sich nicht auf eine Resümierung von Forschungsergebnissen, sondern stellen auch neue An- und Einsichten zur Diskussion. So übertreffen Werner Keils Darlegungen zum musikalischen Gehalt der Rat Krespel-Erzählung (vgl. S. 270–275) die gängigen Einführungen und den Kommentar der Klassiker-Ausgabe hinsichtlich musikwissenschaftlicher Sachkenntnis und innovativer Thesen deutlich.

[25] 

Das musikalische Werk

[26] 

Beträchtlich schmaler als die Beachtung des literarischen nimmt sich die des musikalischen Werks aus, die Auskunft über den Musiktheoretiker und ‑kritiker und den Komponisten gibt. Im Vergleich zu den literarischen Texten sind Gerhard Allroggens Artikel zu den musiktheoretischen Schriften kürzer und von eher einführendem Charakter. Bei aller relativen Knappheit bleibt es jedoch nicht bei bloßem Referieren der musiktheoretischen Ansichten Hoffmanns. Forschungsmeinungen, die ihn als Ahnherren einer »kirchenmusikalischen Restaurationsbewegung« (S. 420) sehen, werden ebenso kritisiert wie Hoffmanns eigene Operntheorie (vgl. S. 418 f.).

[27] 

Besonders für Literaturwissenschaftler, die den größten Teil der Leserschaft des Handbuchs ausmachen dürften, ist von großem Interesse, wenn Werner Keil frappierende Parallelen von literarischem und musikalischem Wirken aufzeigt. Unter anderem hat das Moment des Grauens, das für den Erzähler Hoffmann von großer Bedeutung ist, auch in der Musik seinen Ort (vgl. S. 434 f.). Gleichermaßen scheint das »Mechanische, Uhrwerkartige« (S. 436), das aus Texten wie Der Sandmann vertraut ist, in Kompositionen auf. Entsprechungen zu seiner Kompositionstechnik könne »man im Erzählwerk wohl noch öfter wieder finden, als es bisher geschehen ist, traute man dem vermeintlichen Schnellschreiber Hoffmann ›erzähltechnische Kunststücke‹ überhaupt erst zu« (S. 446).

[28] 

Wie sehr allerdings der Komponist im Schatten des Schriftstellers selbst im Bereich des Musikalischen steht, wird unfreiwillig ersichtlich, wenn es heißt, die »Auseinandersetzung mit dem Komponisten« biete »einen konkreten Zugang zu seinem Musikdenken, zu seiner Auffassung vom musikalischen Handwerk und damit zu einem besseren Verständnis des Musikrezensenten, des Musikästhetikers und des Musikschriftstellers Hoffmann« (S. 429). Der Nutzen zum Verständnis des Autors stellt die Legitimation für die Auseinandersetzung mit dem Komponisten dar.

[29] 

Das Problem der autobiographischen Texte

[30] 

Auf die Bemerkungen zum musikalischen Werk folgt eine Betrachtung der Briefe und Tagebücher Hoffmanns. Gerade weil kein großes Briefkorpus Hoffmanns erhalten ist und die überlieferten Tagebuchaufzeichnungen »[n]och spärlicher« (S. 449) ausfallen, sind die methodisch vorsichtigen Ausführungen zu diesem Gegenstand umso willkommener. Während die ältere Forschung und vor allem Biographik großes Vertrauen in diese Texte setzte, warnt Friedhelm Auhuber davor, die Briefe »ausschließlich als Lebensdokumente zu lesen«, schließlich seien Hoffmanns »Mitteilungen aus seinem Leben und über seine Befindlichkeiten […] meist literarisch umgeformt, eingebettet in Metaphern, stilisiert zu rhetorischen Figuren« (S. 451). Ähnlich verhält es sich mit den Tagebüchern, wobei differenziert darauf hingewiesen wird, dass diese nicht nur fiktional und literarisiert zu lesen seien, zu zahlreich seien schließlich die prosaisch-alltäglichen Einträge.

[31] 

Der Brotberuf

[32] 

Hoffmanns juristisches Wirken wird vor dem Hintergrund des rechtsphilosophischen und wissenschaftlichen Diskurses der Zeit gesehen. Als dominante Motive seines juristischen Wirkens wird der Vorrang des Individuums und dessen Willens- und Handlungsfreiheit genannt. Hartnäckig hält sich die Einschätzung, Hoffmann habe die Juristerei nur widerwillig betrieben. Dem entgegnet Hartmut Mangold, dass die »wechselvolle und spannungsreiche Beziehung zwischen Künstler- und Juristenexistenz […] wohl nicht so problematisch und heillos [war], wie sie gerade die frühen Hoffmann-Biographien gezeichnet haben« (S. 468). Hoffmann wird als strebsam und ehrgeizig geschildert, er habe »durchaus zielgerichtet an seiner juristischen Karriere gearbeitet« (S. 470). Außerdem sei das literarische Werk in großem Ausmaß von Hoffmanns Beruf geprägt.

[33] 

Wie bei kaum einem anderen Schriftsteller, der im Hauptberuf Jurist und als solcher in den klassischen Feldern der Justiz tätig war, haben Hoffmanns rechtspraktische Erfahrungen und seine rechts- und staatstheoretischen Anschauungen Niederschlag in seinen Erzählungen und Romanen gefunden. (S. 467)

[34] 

Zu bedauern ist allerdings, dass dennoch bei der Frage nach der Einwirkung juristischer Erfahrungen auf das literarische Werk einzig Meister Floh angeführt wird. Angesichts Hoffmanns bedeutender Rolle in der Geschichte der Verbrechensliteratur und der wiederholten Thematisierung der Justiz in literarischen Texten (man denke an Das Fräulein von Scuderi oder an die satirische Beschreibung willkürlich-monarchischer Rechtssprechung in Nußknacker und Mausekönig) hätte man sich eine Betrachtungsweise gewünscht, die auf breiterem Textfundament die Übernahme juristischer Motive in fiktionale Texte fokussiert.

[35] 

Systematisierung des Unsystematischen?

[36] 

Die Idee, in einem solchen Handbuch »Systematische Aspekte« aufzuführen, geht mit der Gefahr einher, verschiedene Umsetzungen eines Aspektes über Gebühr zu vereinheitlichen, mithin das Unsystematische zu systematisieren. Es fällt jedoch angenehm auf, dass viele Artikel Hoffmanns Prosa gerecht werden, indem sie sehr differenziert argumentieren, unterschiedliche Bewertungen des gleichen Motivs benennen und dadurch vorschnelle sowie einseitige Festlegungen vermeiden. Wenn auch einzelne Artikel eher enttäuschen – etwa wenn Thomas Weitins Eintrag zu »Verweigerte Identität«, als handle es sich um eine Einführung zu Ritter Gluck, die biographischen Hintergründe bei der Entstehung dieser Erzählung präsentiert, was an dieser Stelle schlichtweg irrelevant ist –, kann doch die Mehrzahl überzeugen.

[37] 

Skizze der Rezeption

[38] 

War Hoffmann im 19. Jahrhundert in Deutschland nahezu vergessen, entfaltete sein Werk in Frankreich, Russland oder Amerika große Wirkung, so dass es »im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem herausragenden Beispiel von Weltliteratur wurde, dessen Spuren ebenso durch die europäischen wie die lateinamerikanischen Dichtungen führen« (S. 563). Die Wirkung des Hoffmannschen Werks bis in die Gegenwart wird exemplarisch skizziert, indem Jörg Marquardt, Andreas Kilcher und Detlef Kremer Rezeptionsspuren unter anderem bei Edgar Allen Poe, Gustav Meyrink oder Leo Perutz nachweisen.

[39] 

Nach einem kursorischen Überblick, der Hoffmanns Wirkungen in der Literatur nach 1945 aufzeigt, wird durch Arno Meteling die filmische Adaption Hoffmanns angerissen. Dabei ist nicht nur an Hoffmann-Verfilmungen im engeren Sinn zu denken, da es »vor allem isolierte Stoffe, Figuren, Motive und Settings der Hoffmann’schen Literatur sind und weniger ihre Erzählweise, die in Filmen Verwendung finden« (S. 584). Abschließend folgt ein Überblick über »Grundzüge der Hoffmann-Forschung«, der kaum genug zu loben ist, da er deren Verzweigungen auf »einige wenige Entwicklungslinien« (S. 593) zusammenfasst und nachvollziehbar macht.

[40] 

Bei allen aufgezeigten Wandlungen in der Bewertung und des damit einhergehenden Bildes Hoffmanns – vom überreizten Geisterseher hin zum gleichsam semiologisch versierten, poststrukturalen und präfreudianischen Meistererzähler – verdankt er seine Attraktivität zu gewichtigen Teilen noch immer den gleichen Gründen:

[41] 
Man kann nicht umhin, festzustellen, dass es wahrscheinlich die schon im 19. Jahrhundert zum Klischee geronnene Figur des »Gespenster-Hoffmanns« ist, die nicht nur im kulturellen Imaginären, sondern in der deutschen, aber auch internationalen Literatur am sichtbarsten fortlebt. (S. 582)
[42] 

Würdigung und Kritik

[43] 

Bei allem hoch verdienten inhaltlichen Lob muss festgestellt werden, dass das Buch bedauerlicherweise nicht einlöst, was der Herausgeber im Vorwort ankündigt. Es ist die Rede davon, dass eine »Zeittafel […] sowie verschiedene Register« (S. VI) die Benutzerfreundlichkeit des Bandes unterstreichen. Allein: Es gibt weder eine Zeittafel noch verschiedene Register. Nur ein Personenregister findet sich am Ende des Bandes, während ein Werkregister zwar äußerst wünschenswert gewesen wäre, aber schlechterdings nicht enthalten ist. Insbesondere die »Systematischen Aspekte« führen vor Augen, wie nötig ein solches Werkregister gewesen wäre. Eine Erzählung wie Ritter Gluck dient in den verschiedensten Artikeln als Exempel. Ein Leser, der das Handbuch womöglich gerade wegen des Interesses an diesem Text konsultiert, kann aber wegen des Fehlens eines Werkregisters nicht wissen, wo der fragliche Text über das Gluck-Kapitel hinaus Erwähnung findet, weshalb ihm wertvolle Informationen entgehen.

[44] 

Gleichermaßen wird ein Sachregister vermisst. Darüber hinaus fehlt eine Liste der Beiträgerinnen und Beiträger. Weshalb ein Buch dieses Umfangs und – soviel Polemik sei erlaubt – dieses stolzen Preises (der erheblich über dem der im Unfang und Anspruch vergleichbaren Autoren-Handbücher des Metzler-Verlages liegt) auf solche Standards verzichtet, die in der Tat die Benutzerfreundlichkeit des Buches unterstrichen hätten, leuchtet nicht ein und vermittelt gerade wegen der anders lautenden Ankündigung im Vorwort einen unangenehmen Beigeschmack.

[45] 

Ebenfalls nicht allzu benutzerfreundlich ist das Literaturverzeichnis. Nach »Hoffmann-Ausgaben«, »Bibliographien« und »Quellen« folgt auf über 30 Seiten »Forschungsliteratur«. Hinsichtlich Umfang und Gründlichkeit lässt dieses Verzeichnis keine Wünsche offen. Dennoch hätte eine Gliederung nach Themenfeldern oder Texten den Gebrauchswert deutlich erhöht. Sucht der Leser im Literaturverzeichnis nach einschlägigen Untersuchungen zu Hoffmanns Verhältnis zur zeitgenössischen Medizin oder nach Interpretationen einer bestimmten Erzählung, bleibt ihm keine andere Wahl, als mühsam die gesamte Liste durchzusehen.

[46] 

Von diesen formalen Mängeln abgesehen steht mit diesem Lexikon ein in der Hoffmann-Forschung in dieser Form noch nicht da gewesenes Hilfsmittel bereit, das gerade hinsichtlich einer zunehmend unübersichtlichen Forschungslage gleichermaßen Orientierung wie Anreize zur weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen E.T.A. Hoffmann bietet, zumal wiederholt auf Forschungsdesiderate verwiesen wird. Neben diversen thematischen Forschungslücken ist vor allem an die editionsphilologische Situation zu denken. Zwar liegt mittlerweile eine hervorragende Werkausgabe vor, doch »eine historisch-kritische Gesamtausgabe bleibt […] auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein philologisches Desiderat« (S. 615).

[47] 

Die Essenz der Resultate der breiten und methodisch anspruchsvollen Forschung der letzten Jahrzehnte darzustellen und, davon ist auszugehen, anregend auf künftige Forschungen zu wirken, ist eine enorme Leistung dieses Lexikons. Dies veranschaulicht nicht zuletzt, in welchem Ausmaß der Herausgeber Detlef Kremer, der wenige Wochen nach dem Erscheinen des Buches unerwartet verstarb, die Hoffmann-Forschung der jüngeren Vergangenheit geprägt hat 4 und wie sehr ihr künftig seine Impulse fehlen werden.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Brigitte Feldges, Ulrich Stadler u. a.: E.T.A. Hoffmann. Epoche – Werk – Wirkung. München: C.H. Beck 1986.

   zurück

Vgl. E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. v. Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Gerhard Allrogen, Friedhelm Auhuber, Hartmut Mangold und Ursula Segebrecht. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985–2004.

   zurück

Vgl. Hartmut Steinecke: E.T.A. Hoffmann. Stuttgart: Reclam 1997; Ders.: Die Kunst der Fantasie. E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 2004.

   zurück

Besonders hervorgehoben seien Kremers Publikationen: Romantische Metamorphosen. E.T.A. Hoffmanns Erzählungen. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993 sowie E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin: Erich Schmidt 1999.

   zurück