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Die verschlossenen Räume des Gedächtnisses und die Mimesis des Erinnerns

  • Carsten Gansel (Hg.): Rhetorik der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in den 'geschlossenen Gesellschaften' des Real-Sozialismus. (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 1) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 453 S. Gebunden. EUR (D) 57,90.
    ISBN: 978-3-89971-543-9.
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Der theoretische Rahmen

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Das Konzept des kulturellen Gedächtnisses, wie es durch die Arbeiten von Maurice Halbwachs, Aleida und Jan Assmann und anderen konturiert worden ist, gehört heute zum festen Bestand der Kulturwissenschaften. Dadurch hat sich der kulturelle Umgang mit Geschichte stark gewandelt. Neben der Rekonstruktion der historischen Verläufe, der traditionellen Aufgabe der Geschichtswissenschaft, haben sich die unterschiedlichen Formen der kulturellen Erinnerung zu einem eigenständigen Thema entwickelt. Damit ist zugleich die Frage, wie wir mit Geschichte umgehen, selbst zu einem Gegenstand der Diskussion geworden. Aleida Assmann hat diese Diskussion im Titel einer ihrer jüngeren Veröffentlichungen auf die Formel Geschichte im Gedächtnis gebracht. 1 Damit erfasst sie treffend jene neue Sicht auf Geschichte, die nicht mehr danach fragt, ›wie es gewesen ist‹, sondern danach, ›woran und wie wir uns erinnern‹. Ruht jene Frage auf einem fortschreitenden Zeitmodell, nach dem die Vergangenheit die Voraussetzungen für die Gegenwart geschaffen hat, so verweist die zweite Frage auf ein konstruktives Verständnis, dem zufolge sich jede Gegenwart ihre Vergangenheit erst schaffen muss. Dies erfolgt durch retrospektive Erinnerungsakte, die ›Geschichte‹ gegenwartskonform gestaltet. Es geht mithin darum, wie und aus welchen Motiven sich eine Gegenwart ihre Geschichte entwirft, welche Aspekte sie daran betont und als unverzichtbar erachtet, welche sie vernachlässigt oder vergisst. Aleida Assmann koppelt diesen Paradigmenwechsel ausdrücklich an das gestiegene Bewusstsein für die Bedeutung kultureller Brüche und Traumata – die Folie bildet also nicht mehr eine kontinuierlich fortschreitende Zeit, sondern eine diskontinuierliche Zeit, die immer wieder abbricht und ihr Zukunftsversprechen vernichtet. Das neue Paradigma, das sich als Ergänzung zur traditionellen Historiographie versteht und zugleich deren Vorrang als ›Meistererzählung‹ des Historischen negiert, fragt danach, wie sich eine Kultur – in der Abfolge der Generationen – zur ihren oft von Gewalt begleiteten Einschnitten stellt und für ihr Selbstverständnis nutzt.

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Es ist das Verdienst des vorliegenden Bandes, diese ›neue‹, kulturalistische Sichtweise auf Geschichte für die ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Realsozialismus fruchtbar gemacht zu haben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der DDR. Vergleichend kommen vor allem Polen und mit einem Seitenblick auch Ungarn und Rumänien vor. Ferner widmen sich die im dritten Block versammelten Beiträge, wieder mit Blick auf die DDR, der Zeit nach 1989 – mit Aleida Assmann also der entscheidenden Zäsur im kulturellen Gedächtnis der DDR, durch die es, über vier Jahrzehnte staatlich errichtet und durch einen starken Machtapparat kontrolliert, in sich zusammenbricht und einem Kampf um die Erinnerung ausgesetzt wird. Alle – oder zumindest sehr viele Beiträge, und das ist ein weiterer Vorzug des Bandes, der eine hohe redaktionelle Betreuung verrät, – verfolgen nicht nur dasselbe Thema; sie verwenden auch alle die etablierte Terminologie der kulturellen Gedächtnisforschung, so dass sich zwischen ihnen vielfache Bezüge ergeben. Für den Leser hat dies zur Folge, dass er nicht einen der unzähligen disparaten Tagungsbände liest, die einen nur allzu bald auf die eigenen, mitunter festgefahrenen Interessen zurückwerfen. Vielmehr wird man als Leser von einem Beitrag zum anderen weitergereicht und man verfolgt mit Lust und Neugier, wie der Faden im nächsten Beitrag wieder aufgenommen und weitergesponnen wird. Ein dritter Vorzug sei an dieser Stelle noch kurz erwähnt. In den Band sind auch Materialien aufgenommen – zwei Interviews je mit Hans Lauter und Gustav Just sowie ein Essay zum Thema ›Trauma und Gedächtnis‹. So liegt auf der einen Seite ein netzartig verwobener, auf der anderen Seite ein im besten Sinne ›offener‹ Band vor.

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Das kulturelle Gedächtnis
im »Literaturland« DDR

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Zwei Charakteristika konstituierten das kulturelle Gedächtnis der DDR, solange der Staat intakt war. Zum einen unterlag es einer hohen staatlichen Kontrolle, zum anderen wurde der Literatur eine hohe Bedeutung daran zugesprochen. Erich Loest benannte einmal im Zusammenhang mit den Querelen um seinen Roman Es geht seinen Gang die vier Zensurstufen, die das Literatursystem DDR durchzogen: (1) die Selbstzensur der Autorinnen und Autoren, (2) der Lektor, (3) die Verlagsleitung und (4) das Ministerium der Staatssicherheit. Es handelte sich also um ein stark hierarchisiertes, von einem enormen Machtapparat überwachtes kulturelles Gedächtnis, das einige wenige hegemoniale Erinnerungsdiskurse zuließ und unliebsame Gegenerinnerungen bekämpfte und unterdrückte. Wie stark dieses Gewaltsystem bis in das Innere der Schreibenden in der DDR vordrang, zeigt eine Formulierung von Christa Wolf, die in ihrem Roman Kindheitsmuster von den »verschlossenen Räumen in unseren Gedächtnissen« sprach. Der Versuch, gegen die vorgeschriebenen, ideologisch geprägten Erinnerungsmuster anzuschreiben und andere, tabuisierte Aspekte zu thematisieren – etwa die dunkle Seite des Zweiten Weltkriegs, der nicht nur ein heroischer Befreiungskampf der vereinten Antifaschisten war, sondern von den einzelnen Soldaten im Feld wie von den Frauen in den Dörfern und Städten in all seiner Brutalität erlitten worden ist –, setzte immer dann ein, wenn politische Einschnitte das System für einen Momente lockerten – so in Folge des 17. Juni 1953, des Ungarn-Aufstands 1956 oder des Prager Frühlings 1968.

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Carsten Gansel, der Herausgeber des Bandes, legt mit seinem einleitenden Aufsatz die Grundlage für die weiteren Beiträge, die dann verschiedene Themen weiterführen und differenzieren. Zunächst unternimmt er es, die Terminologie der kulturellen Gedächtnisforschung mit einer spezifisch darauf abgestimmten Narratologie, fußend auf Gérard Genette, zu verbinden. Damit schafft er ein geeignetes Analyseinstrumentarium, mit der »Literatur als Symbolsystem« untersucht werden kann. Leitend hierbei ist die Einsicht, dass literarische Texte durch den Modus des Erzählens nicht nur eingängige Narrative kreieren können, das »Was des Erinnerns«, sondern zugleich durch die Form ihres Erzählens, dem »Wie des Erinnerns«, ein Modell entwerfen, wie kulturelle Erinnerung funktionieren könnte – und mithin ein Modell des kulturellen Gedächtnisses schaffen. Dieser auf die einzelnen Texte gerichteten Untersuchungsperspektive ist eine andere zur Seite zu stellen, die, so Gansel, »Literatur als Handlungssystem« in den Blick nimmt. Damit ist eine literatursoziologische und institutionenanalytische Herangehensweise verbunden, die komplementär die Bedingungen der Literaturproduktion und der Literaturrezeption in Betracht zieht.

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Mit dieser theoretischen und methodischen Ausrüstung geht es Gansel im nächsten Schritt darum, jenes Modell des Erinnerns in der Literatur herauszuarbeiten, das sich im Aufbau des kulturellen Gedächtnisses durchgesetzt hat. Mit Blick auf konkurrierende, aber zunehmend ausgegrenzte Modelle kann er zeigen, dass die Akzentuierung des Erinnerungsaktes – narrativ umgesetzt in metadiegetischen Einschüben analeptischen Charakters – zurückgenommen und in das kontinuierlich fortlaufende Zeitmodell des Entwicklungsromans gegossen wird, an dessen Ende das Vergangene überwunden und der Protagonist in der zukunftsoffenen Gegenwart des Sozialismus angekommen ist. Damit einhergehend wird, durch einen verstärkten Einsatz einer heterodiegetischen Erzählinstanz, die mit einer letztlich didaktischen Autorität ausgestattet ist, das Individuelle, das Erinnerungen eignet, zugunsten des Typischen ausgetrieben. Exemplarisch für dieses Modell nennt Gansel die Romane von Dieter Noll Die Abenteuer des Werner Holt (1960) und Günter de Bruyn Der Hohlweg (1963).

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Ist diese Form der Erinnerung bis Mitte der 1960er Jahren zur hegemonialen geworden, bildete sich seitdem ein weiteres Erinnerungsnarrativ heraus, das Gansel die »Befragung der eigenen Geschichte« nennt. Hierbei bekommt der Akt des Erinnerns für die literarischen Texte nicht nur ein neues Gewicht, hierbei wird zudem der Akt des Erinnerns selbst in Frage gestellt und auf seine Zuverlässigkeit überprüft. Die Leittexte hierfür stellen die beiden Bücher von Christa Wolf Nachdenken über Christa T. (1968) und Kindheitsmuster (1976) bereit.

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Dieser innovative Aspekt der DDR-Literatur seit Mitte der 1960er Jahre wird im Beitrag von Jens Priwitzer wieder aufgenommen und an literarischen Texten der Autoren Franz Fühmann, Christa Wolf und Günter Kunert weiter differenziert. In seinen genauen Textanalysen zeigt Priwitzer, wie die untersuchten Autoren gerade durch eine Mimesis des Erinnerns – also durch den Versuch, für den Akt des Erinnerns eine narrative Form zu finden, die diesen nicht nur darstellt, sondern zugleich reflektiert – bisher ausgeschlossene und tabuisierte Aspekte thematisiert und darüber hinaus die Individualität der Erinnerungen wieder in ihr Recht gesetzt haben. Die drei Autoren leisten dies jeweils am Beispiel der Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus auf unterschiedliche Weise: Fühmann, indem er in seinem Buch 22 Tage oder Die Hälfte des Lebens aus dem Jahr 1974 von der fiktionalen in die autobiographische Erzählweise wechselt, Christa Wolf durch die Errichtung eines mehrfach gebrochenen und reflektierten poetischen Raums der Selbstbeobachtung und Günter Kunert durch eine Inspektion der Erinnerungsorte – zum Beispiel der Gedenkstätte Buchenwald – und eine Introspektion auf die individuellen Prozesse, die durch diese Orte ausgelöst werden.

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Die Analysen von Priwitz werden nun wiederum in anderen Beiträgen fortgeführt und um weitere Aspekte ergänzt. So verweist Swantje Rehfeld am Beispiel von Franz Fühmann auf die Romantikrezeption als Form und Formulierung eines Gegengedächtnisses und Małgorata Dubrowska vertieft Kunerts Meditationen über die Erinnerungsorte. Andere Beiträge handeln über den sperrigen Brecht und die Versuche, ihn in der Aufbauphase in den offiziellen Erinnerungsdiskurs zu integrieren (Heinrich Kaulen) oder gehen auf Autoren der Spätphase ein, etwa auf Rainer Kunze (Arletta Szmorhun) oder Christoph Hein (Michael Braun). Eine Sonderstellung indes nimmt der Beitrag von Matthias Braun ein. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsabteilung der Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit nimmt er diese als materielles Gegengedächtnis und rekonstruiert ein verhindertes Projekt: Franz Fühmann wollte mit Hilfe von Uwe Kolbe und Sascha Anderson Ende der 1970er Jahre im Rahmen der Akademie der Künste eine Anthologie der jungen DDR-Lyrik herausgeben – ein Versuch von Seiten der Akademie, Fühmann nach dem Streit um die Ausbürgerung Biermanns zurückzugewinnen. Braun zeigt nun in seiner detaillierten Fallstudie, wie das Projekt mit dem Annehmen seiner Konturen unterdrückt und verhindert worden ist. Das Ministerium der Staatssicherheit war darin gleich mit mehreren Mitarbeitern beteiligt – durch den Akademiepräsidenten Konrad Wolf sowie durch Sascha Anderson alias »IMB David Menzer«. Da jedoch unterschiedliche Dienststellen zuständig waren, blieb die doppelte Involviertheit den zuständigen Führern im Ministerium jedoch lange verborgen. Braun liefert an diesem Beispiel einer nicht zustande gekommenen Anthologie eine ›dichte Beschreibung des Ministeriums für Staatssicherheit‹, die vor beiden möglichen Standpunkten warnt: die »Stasi« weder zu verharmlosen noch sie zur omnipräsenten Überwachungsmacht zu stilisieren.

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Polen als Vergleich

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Ähnlich wie Matthias Braun bietet auch der Beitrag von Hubert Orłowski eine Fallstudie. Er erinnert sich an seine eigene Tätigkeit als Kritiker, Herausgeber und vor allem Gutachter für polnische Verlage, zuständig für die deutschsprachige Literatur. Er zeigt einerseits die Verflechtungen zwischen der DDR und Polen, wie das Ministerium für Kultur über die Übersetzungen ›ihrer Autoren‹ ins Polnische wachte, andererseits aber auch die Unterschiede und vergleichsweise liberaleren Kontroll- und Zensurbedingungen in Polen, die auch dadurch gegeben waren, dass ab Mitte der 1970er Jahre das Monopol des Staates gebrochen und ein so genannter »zweiter Kreislauf« von Publikationsmöglichkeiten geschaffen worden ist. So konnte sich in Polen schon früh, wie Orłowski an mehreren konkreten Beispielen – etwa Christa Wolf oder Walter Benjamin – ausführt, eine subtile Praxis im Umgang mit Vor- und Nachworten ausbilden, die der Autor als »Frühwarntexte« beziehungsweise als »heuristische Ableiter« bezeichnet, mit denen die Rezeption gesteuert werden sollte. Manchmal indes klafften Text und Paratext mit ironischem Kalkül derart auseinander, dass der angezielte Effekt in sein Gegenteil umschlug.

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Hinterfragt bereits Orłowski den Terminus der »geschlossenen Gesellschaft«, so führt Werner Nell dies in seinem theoretisch versierten Beitrag weiter. Am Beispiel der autobiographischen Texte von Cesław Miłosz und Jósef Wittlin – sowie vergleichend von Rudolf Borchardt – zeichnet er nach, in welchem Maß in den untersuchten Texten die literarische Gestaltung von Räumen und Landschaften – unter Einarbeitung von realen und mentalen Karten – den geschlossenen Kommunikationsraum gesprengt hat. Dies gelingt, so das Fazit, in dem Maße, in dem die Autoren zu gebrochenen, reflektierten und letztlich ironischen Formen finden. Dieser Faden wird wiederum von Pawel Zimniak aufgenommen, indem er die Lyrik von Autoren untersucht, die aus dem ehemaligen Schlesien stammen und dabei sein Augenmerk auf die Bedeutung und Funktion von topographischen Gegebenheiten richtet. Besonders rückt dabei der Fluss Oder in die analytische Aufmerksamkeit, der in den Gedichten stets mehrfach codiert ist: als Landschaft, als Erinnerungsbild, aber auch als Fluss der Mnemosyne, der einen individuellen Erinnerungsstrom auslöst.

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Was bleibt?

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Der deutsch-deutsche Literaturstreit um die 1979 begonnene, 1989 vollendete und 1990 erschienene Erzählung von Christa Wolf Was bleibt steht im Fokus der abschließenden Beiträge, die den Prozessen nach dem Ende der DDR und mithin des staatlich errichteten und kontrollierten kulturellen Gedächtnisses gewidmet sind. Auch wenn die Beiträge vorgeben, eine zusammenfassende Analyse über diesen und die nachfolgenden Literaturstreite zu geben, so bleiben die Beiträge von Stefan Neuhaus in diskursanalytischer und von Lothar Blum in ritualtheoretischer Perspektive doch sehr allgemein. Der Komplexität und auch der Brisanz dieser Prozesse werden sie – gerade in der den gesamten Band leitenden gedächtnistheoretischen Perspektive – nicht gerecht. Ergiebiger erweisen sich demgegenüber die konkreten Analysen. Dies gilt vor allem für jene von Markus Joch, die den öffentlichen ›Werdegang‹ von Jurek Becker im Literarischen Quartett verfolgt – von dessem denkwürdigen Auftritt als geladener Gast, der vor laufender Kamera auf leise Weise Kritik an der Sendung übte und den immer mehr in Rage geratenen Marcel Reich-Ranicki regelrecht vorführte, bis zu dessen süßer Rache, als er zwei Jahre später seine Sendung dazu nutzte, Beckers damals aktuellen Roman Amanda herzlos gnadenlos zu zerreißen. Doch was lediglich als Anekdote der Fernsehgeschichte erscheinen mag, erweist sich in der präzisen, literatursoziologischen Analyse von Joch als exemplarisches Beispiel für die verschiedenen Positionierungen zur DDR nach ihrem Ende. Eine gedächtnistheoretische Perspektive ist dadurch freilich auch noch nicht erreicht. Aber vielleicht ist dazu der historische Abstand noch nicht groß genug und der Prozess, entgegen der ›abschließenden‹ symbolischen Gesten zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, noch in vollem Gange.

 
 

Anmerkungen

Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München: Beck 2007.   zurück