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Lessing, der Außenseiter

  • Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung) München: C. H. Beck 2008. 1024 S. Gebunden. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-406-57710-9.
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Große Biographien

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Aus dem Alltag einer deutschen Universität heraus muss staunend zur Kenntnis genommen werden, wie gleich zwei Literaturwissenschaftler aus Cambridge in jahrzehntelanger Arbeit maßgebliche Biographien über Goethe und Lessing verfassen. Die eine, Nicholas Boyles Goethe-Biographie, 1 ist mit den bisher erschienenen 2000 Seiten so umfangreich ausgefallen, dass die andere, Hugh Barr Nisbets Biographie zu Gotthold Ephraim Lessing, mit 1000 Seiten schon fast bescheiden wirkt.

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Die Forschungsgeschichte rückt Nisbets Werk natürlich in ein anderes Licht. Zwar sind zahlreiche (auch aktuelle) Biographien zu Lessing verfügbar, die letzte Biographie von vergleichbarem Umfang und wissenschaftlichen Anspruch stammt jedoch von Erich Schmidt und ist in der letzten vom Autor durchgesehenen Auflage 1909 erschienen. 2 Angesichts der unüberschaubaren Menge an Quellen und Forschungsliteratur zu Lessing könnte eine Biographie durchaus noch umfangreicher ausfallen. Es ist daher ein Glücksfall, dass Nisbet nicht nur Biograph, sondern gleichzeitig einer der renommiertesten Lessing-Forscher ist, und es ihm so gelingt, alle für die Forschung zentralen Themen auszuwählen und einen umfassenden Einblick in Lessings Leben und Werk zu geben. Aufgrund des wissenschaftlichen Anspruchs richtet sich die Biographie in erster Linie an interessierte Leser aus dem akademischen Umfeld und weniger an Lessing-Liebhaber. Nisbets Biographie grenzt sich dadurch von der eher essayistischen Biographie des Publizisten Dieter Hildebrand ab, die jedoch auch unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten lesenswert ist. 3

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Konzeption

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Nisbets Biographie ist zuerst in einer sehr gelungenen deutschen Übersetzung erschienen, die Karl S. Guthke besorgt hat. Eine besondere Erwähnung verdienen außerdem das ausführliche Personen-, Werk- und Sachregister, die den Zugang zu allen wichtigen Themen der Lessingforschung erleichtern, sowie der mehr als 60 Seiten umfassende Endnotenapparat und die ausführliche Bibliographie, die wertvolle Hinweise für eine Vertiefung bieten. Da die einzelnen Kapitel klar gegliedert und auch ohne den Gesamtzusammenhang gut lesbar sind, ist die Biographie als ein- und weiterführender Text für konkrete Problemstellungen besonders geeignet.

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Die beiden dominierenden Gliederungsprinzipien sind die einer chronologischen und einer topologischen Ordnung. Nisbet gelingt damit zweierlei: Zum einen grenzt er sich gegen einen Zweig in der Biographik ab, der im Anschluss an postmoderne Theoriebildung das Konzept linearer Lebensläufe dadurch unterminieren will, dass er thematisch gliedert. 4 Zum anderen betont Nisbet die Bedeutung der Ortsveränderungen für Lessing. Zwar zählt es zum Gemeinplatz der Lessing-Forschung, die vielen Ortswechsel vor dem Hintergrund der Probleme einer Existenz als freier Schriftsteller zu erklären. Nisbet arbeitet hingegen detailliert die vielschichtigen Motive heraus. Er macht so begreiflich, dass Lessing mehrfach eine radikale Veränderung in seinem Leben sucht und deswegen plötzlich seinen Wohnort verlässt. Die Ortswechsel folgen also nicht nur beruflich-pragmatischen Entscheidungen, sondern sind tiefgreifende Einschnitte in Lessings Leben und bezeugen, wie Lessing sein Leben in immer neue Richtungen lenkt, ohne einem groß angelegten Lebensplan zu folgen. Als Beispiel seien nur die Beweggründe genannt, die Nisbet für Lessings Umzug nach Breslau anführt (S. 368 f.): Zwar habe Lessing den Posten eines Gouvernementsekretärs angenommen, um finanziell abgesichert zu sein. Doch Nisbet stellt den impulsiven Charakter der Entscheidung hervor und rekonstruiert Lessings Wunsch nach Veränderung seines Alltags und nach Abbruch alter Projekte, an denen er allmählich sein Interesse verloren hatte.

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Leben und Werk

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Das grundlegende methodische Problem jeder literaturwissenschaftlichen Biographie ist die Frage, wie Leben und Werk in Beziehung gesetzt werden. Zwei Extrempositionen lassen sich skizzieren: Der Positivismus des 19. Jahrhunderts beantwortet die Frage mit der ›biographischen Methode‹, also der Deutung des Werkes durch das Leben des Autors. Die vom Poststrukturalismus beeinflusste Biographik tendiert hingegen zu einer Umkehrung dieses Verhältnisses und begreift das Leben in Abhängigkeit von dem Werk. Peter-André Alt hat in einem methodologischen Aufsatz eine vermittelnde Position vorgeschlagen, die die Wechselbeziehungen hervorhebt: »Das literarische Werk bildet durch seine produktionstechnische Dimension ein Element des Schriftsteller-Lebens, umgekehrt aber steht auch dieses Leben unter dem Gesetz der ästhetischen Repräsentation, wie sie sich im Werk bündelt.« 5 Diese Position macht sich auch Nisbet zu eigen, wenn er sich zum Ziel setzt, »eine detaillierte Darstellung von Lessings Leben und Werken und deren wechselseitigem Zusammenwirken« (S. 10) zu liefern.

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Im konkreten Fall einer Biographie zu Gotthold Ephraim Lessing steht der Autor vor einer doppelten Herausforderung. Denn einerseits kommt Lessings Werk ein kanonischer Stellenwert in der deutschen Literatur zu. Andererseits nimmt die Person Lessing eine herausragende Position im Kontext der deutschen Aufklärung ein. Nisbet bezeichnet Lessing superlativisch als »die zentrale und repräsentativste Gestalt der deutschen Aufklärung« (S. 13). Indem er zusätzlich den Begriff des ›Lebens‹ sehr weit fasst und darunter »auch das geistige, gesellschaftliche und kulturelle Klima der Zeit« (S. 11) versteht, formuliert er einen umfassenden kulturgeschichtlichen Anspruch. Diese historische Ausrichtung wird dadurch unterstrichen, dass die Biographie nicht in einer philologischen, sondern einer geschichtswissenschaftlichen Reihe, der ›Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung‹, erschienen ist.

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In den historischen Kapiteln behandelt Nisbet eine Vielzahl unterschiedlicher Bereiche. Abschnitte wie diejenigen zu der Stadtgeschichte Wittenbergs oder der Geschichte Braunschweigs unter Herzog Karl Wilhelm Ferdinand liefern zahlreiche Kontextinformationen zu Lessings Leben. Ebenso gibt Nisbet genau Auskunft über Lessings Position in dem komplexen Netzwerk der deutschen und europäischen Aufklärung, etwa über seine Beziehungen zu Voltaire, Friedrich dem Großen oder Moses Mendelssohn. Auch die kenntnisreichen Exkurse zu den wichtigsten kulturhistorischen Themen, beispielsweise zur Geschichte des Hamburger Nationaltheaters, zeigen die enge Verbindung, die bei Lessing zwischen Leben und Werk bestehen.

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Neben diesen historischen Kapiteln machen die im engeren Sinne philologischen Kapitel den zweiten großen Teil der Biographie aus. Alleine die Abschnitte zu Nathan der Weise, Minna von Barnhelm und Emilia Galotti umfassen knapp 100 Seiten. Die handbuchartigen Darstellungen der literarischen Texte sind gleichermaßen als Propädeutikum und als Vertiefung zu Lessings Werk geeignet. Dabei legt Nisbet großen Wert darauf, seine Interpretationen eng an dem aktuellen Forschungsstand zu orientieren. Die Ausarbeitung von völlig neuen, innovativen Interpretationsansätzen spielt hingegen eine entsprechend untergeordnete Rolle.

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Dem Verdacht eines biographischen Positivismus entzieht sich Nisbet auf pragmatische Weise, indem er nur selten Deutungsperspektiven aus der Biographie ableitet. Ein Beispiel ist die in der Forschung diskutierte Frage, warum Lessing Die Matrone von Ephesus nicht abgeschlossen hat. In dieser Komödie geht es um eine Witwe, die von einem Offizier umworben wird, der sich als ehemaliger Freund ihres toten Mannes ausgibt. In der klassischen Vorlage des Petronius ist die Witwe schließlich durch eine List bereit, die Leiche ihres Mannes dem Liebhaber zu überlassen. Nisbet widerlegt die häufig geäußerte Auffassung, dass die Gründe für den Abbruch in der impliziten Problematik der Figurenmotivation zu finden wären. Im Gegenteil belegt er, dass es Lessing geradezu vorbildlich gelungen sei, die Motivation der Witwe verständlich zu machen. Allerdings schrieb Lessing die Komödie zu einer Zeit, in der er selbst in engen Kontakt mit einer Witwe trat. Es handelte sich um die Frau seines verstorbenen Freundes Engelbert König, mit der sich Lessing ein Jahr später verlobte. Ein Drama, in dem die Witwe das Gedächtnis ihres verstorbenen Mannes verrät und ihr Liebhaber nur vortäuscht, ein Freund ihres Mannes gewesen zu sein, hätten Lessing und Eva »aus jeweils anderen Gründen als einen morbiden Witz empfunden« (S. 539). Nisbets textexterne, biographische Begründung für den Abbruch des Dramenprojektes kann hier durchaus mehr überzeugen, als ausschließlich textinterne Erklärungen.

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So pragmatisch, wie Nisbet das Problem der Wechselbeziehung zwischen Leben und Werk löst, handhabt er auch die Frage nach dem Verhältnis von literarischen und nicht-literarischen Texten Lessings. Indem er nicht nur den Inhalt, sondern auch Rhetorik und Stilistik der nicht im engeren Sinne literarischen Schriften thematisiert, exponiert er deren poetischen Charakter. Dabei geht er jedoch nicht so weit, den Gattungsunterschied zwischen philosophischen und literarischen Texten selbst einzuebnen, wie von einigen kulturwissenschaftlichen Ansätzen argumentiert wird. Beispielsweise erkennt er in der Erziehung des Menschengeschlechts »ausgesprochen poetische Qualitäten, nicht zuletzt im Bildgebrauch«, woraus jedoch nicht folge, »daß der in Rede stehende Text auch seiner Substanz nach poetisch oder literarisch wäre« (S. 753), denn die bildliche Ausdrucksweise sei für Lessing nur Instrument. Lessing verwende sie stets gemäß dem rhetorischen Prinzip der persuasio, oder, wie Lessing in einer Erwiderung an Goeze schreibt, mit der Absicht, »›auf den Verstand meiner Leser zu wirken‹« (S. 754). Nisbet umgeht also die theoretische Frage nach dem Gattungsunterschied, indem er den Produktions- und Rezeptionskontext im historisch konkreten Einzelfall untersucht.

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Anhand von Lessings Polemiken stellt er nicht die Unterscheidung zwischen literarisch und nicht-literarisch als vielmehr die zwischen Sach- und Sozialdimension in den Vordergrund. Nisbet argumentiert, dass für den Polemiker Lessing persönliche Beweggründe wichtiger sind als die Argumentation in der Sache und dass er gerade dann besonders überzeugend ist, wenn er in der Sache auf verlorenem Posten kämpft. Gerade für die Polemiken lohnt sich ein Blick in die Biographie, da Nisbet Lessings Gegner angemessen berücksichtigt und nicht einseitig dem Inhalt der Auseinandersetzung folgt. So ist beispielsweise die Darstellung von Lessings Polemik in den Antiquarischen Briefen gegen Christian Adolf Klotz besonders erhellend: Nisbet beschreibt Klotz als »Wunderkind« (S. 543) und Opportunisten, der sich mit berechnenden Schmeicheleien gegenüber einflussreichen Persönlichkeiten Vorteile verschaffte. Hinzu kommt, dass der zehn Jahre jüngere Klotz, der aus der Nähe von Lessings Geburtsort stammte, es bereits zum jüngsten Geheimrat in Preußen gebracht hatte und diesem hierarchischen Unterschied Geltung verschuf, indem er sich explizit auf Lessing als den ›Magister‹ bezog. Die Schärfe von Lessings Polemiken wird erst vor diesem persönlichen Hintergrund verständlich und nicht, wenn lediglich die methodischen Fehler Klotz’ in den Blick genommen werden.

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Diskontinuitäten

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Wer von einer Biographie große Entwicklungslinien erwartet, wird von Nisbet enttäuscht. Gleich zu Beginn konstatiert er, dass sich Lessings Leben nicht als Bildungsroman erzählen lasse:

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Das übergreifende Muster ist also mit Sicherheit nicht als organische Entwicklung vorzustellen: eher ist von einer episodischen Reihe von Reaktionen und Impulsen zu sprechen, von plötzlichen Ortsveränderungen und improvisierter Beantwortung von Situationen und Ansichten, die seine Begeisterung erwecken – oder öfter noch seinen Widerspruch. (S. 11)
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Nisbet gibt an, in seiner Biographie einem Hinweis Peter Michelsens gefolgt zu sein, der ihm geraten hatte, »die vielen Widersprüche in Lessings Persönlichkeit und Werk nicht zu vertuschen oder auszumerzen« (S. 874).

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Wenn Lessings Leben keinem kontinuierlichen Prinzip folgt, wovon die Lektüre der Biographie überzeugt, stellt sich dennoch die Frage, welche diskontinuierlichen Abschnitte erkennbar sind. Nisbet stellt zwar das kurzzeitige, episodische Moment in Lessings Lebenslauf in den Vordergrund, er gibt aber auch verstreute Hinweise auf Ereignisse und Konstellationen von hervorgehobener Bedeutung. Eine erste Zäsur bilden die Jahre um 1754, als Lessing seine frühen Schriften herausgibt und sein Jugendfreund Christlob Mylius stirbt. In diesen Ereignissen sieht Nisbet einen Einschnitt, bei dem es sich »sozusagen um einen rite de passage« (S. 222) handle. Als zweiten, »entscheidenden Wendepunkt« (S. 472) erkennt er die Hamburger Zeit 1767–1770. Die Bedeutung dieser Jahre erläutert Nisbet aus zwei Perspektiven: Einerseits scheiterten sowohl das Projekt des Hamburger Nationaltheaters als auch das mit Johann Joachim Christoph Bode verfolgte Verlags- und Druckereiunternehmen, wodurch Lessing finanziell ruiniert wurde. Lessing musste sich in der Folge von der Idee einer Laufbahn als unabhängiger Schriftsteller verabschieden. Andererseits starb zu dieser Zeit Lessings Vater und die Eheschließung mit Eva König wurde verschoben. Diese Ereignisse hätten zu einer »Midlife-Crisis« (S. 664) und immer wiederkehrenden Depressionen geführt. Als schließlich um den Jahreswechsel 1777/78 kurz nach der Geburt zuerst der gemeinsame Sohn und in der Folge Eva starb, sei dies ein letzter »lebensgeschichtliche[r] Bruch« (S. 746) gewesen.

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Durch die Betonung der Hamburger Zeit als Wendepunkt wird deren Darstellung bei Nisbet zu einer Scharnierstelle der Biographie. Darin ist eine gewisse Nähe zu dem Lessing-Essay Jan Philipp Reemtsmas gegeben, das genau die Hamburger Zeit portraitiert. 6 Nisbet vermeidet es aber, diese Jahre zu einem Referenzpunkt für die gesamte Biographie zu machen. Die Frage, wie weit die These des ›Wendepunktes‹ trägt, wird daher nicht eingehend diskutiert. Deutlich wird jedoch, dass sie für Leben und Werk je unterschiedlich beantwortet werden müsste. Denn während sich die psychische und physische Verfassung Lessings nach der Hamburger Zeit immer weiter verschlechtert, entstehen immer noch Texte wie Emilia Galotti, Ernst und Falk sowie Nathan der Weise.

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Biographie ohne Biographie?

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Nisbet zentriert die Biographie nicht um eine große These. Es gibt kein immer wiederkehrendes Thema – und das, obwohl Nisbet durchaus Aspekte anführt, die für Lessing dauerhaft von Bedeutung sind. Zu denken wäre etwa an den metaphysischen Optimismus, der von Nisbet immer wieder genannt wird. Nisbet gestaltet die Biographie jedoch betont offen und vermeidet einseitige Deutungen, wodurch sich für die Biographie der Mehrwert ergibt, dass sie für ganz unterschiedliche theoretische Fragestellungen interessant wird. Eine Frage allerdings stellt sich Nisbets Biographie in ihrer Grundkonzeption. Denn auch wenn es stimmt, dass Lessings Leben nur episodisch und ohne Ziel erzählt werden kann, ist diese Tatsache selbst noch nicht erklärt. Warum ist also Lessings Leben so verlaufen, dass es sich narrativ nicht nach dem Modell eines Bildungsromans darstellen lässt?

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Die Beantwortung dieser Frage muss in der jüngeren Forschungsgeschichte ansetzen, bei einem Aufsatz Horst Steinmetz’ aus dem Jahr 1998 mit dem Titel Lessing. Lebenslauf ohne Biographie. Übereinstimmend mit Nisbet skizziert Steinmetz den heterogenen Verlauf von Lessings Leben. Der Lebenslauf folge keiner kontinuierlichen Entwicklungslinie und sei daher nicht vereinbar mit dem Konzept einer »Perfektibilität des Menschen«. 7 Steinmetz vermutet dahinter ein »problematisches Subjekt« und das Fehlen eines Ichs, »das außerhalb seiner situationsgebundenen Funktionalität seinen Fluchtpunkt in sich selbst haben könnte.« 8 Dies führt ihn letztlich zu der Aussage, dass Lessing »eigentlich ein Leben ohne Biographie geführt hat.« 9

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Dieser Schlussfolgerung hat Nisbet in einem Aufsatz über Probleme der Lessing-Biographie widersprochen. Vor allem kritisiert Nisbet das klassische Modell der Biographie, das er bei Steinmetz implizit vertreten sieht und mit einem Husserl-Zitat exemplifiziert: »›Ein Vagabund, welcher sich ziellos treiben läßt, hat seine Erlebnisse, seine Taten und Untaten. Aber er hat keine Geschichte, ist nicht mögliches Thema einer Biographie, wenn eben Biographie ein Modus der Geschichte sein soll. […]‹« 10 Dann sei aber, so Nisbet, dieses biographische Modell zu verwerfen – und nicht die Eignung von Lessings Leben für eine Biographie.

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Das Husserl-Zitat lässt sich Nisbets Biographie als Negativfolie unterlegen: Während seines gesamten Lebens hatte Lessing eine auffällige Sympathie für Außenseiter, angefangen bei seiner Jugendfreundschaft mit Mylius bis hin zu den letzten Jahren, in denen er sich aktiv für ›Vagabunden‹ eingesetzt hatte: für einen Landstreicher namens Könemann, den er mitsamt verwildertem Hund für fünf Monate bei sich wohnen ließ, und für den jüdischen Kunsthändler und Lotterieagenten Alexander Daveson, den Lessing nach dessen halbjährigem Gefängnisaufenthalt ebenfalls bei sich aufnahm. Nisbet beschreibt, wie Lessing in Wolfenbüttel schließlich selbst zu einem Außenseiter geworden war (S. 836). Bei seinem Begräbnis waren nur eine Handvoll Freunde erschienen. Ein Bäcker soll als Zeichen seiner Missachtung sogar die Fensterläden geschlossen haben, als der Trauerzug vorbeikam (S. 844).

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Doch schon lange bevor er für alle sichtbar zu einem Außenseiter geworden war, hatte er sich rhetorisch selbst wiederholt in die Position eines Außenseiters gerückt:

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Bemerkenswert ist, wie häufig er sich und seine Rolle in der Gesellschaft negativ definiert: »Ich bin weder Schauspieler, noch Dichter«; »Ich bin Liebhaber der Theologie, und nicht Theolog«; »Ich bin nicht gelehrt – ich habe nie die Absicht gehabt gelehrt zu werden« oder metaphorisch: »Ich bin wahrlich nur eine Mühle, und kein Riese. Da stehe ich auf meinem Platze, ganz außer dem Dorfe, auf einem Sandhügel allein, und komme zu niemanden, und helfe niemanden, und lasse mir von niemanden helfen.« […] [S]eine bevorzugte Rolle in der Gesellschaft ist jetzt die des Vermittlers – zwischen streitenden Parteien oder zwischen solchen Parteien und der Öffentlichkeit –, und wirksam kann seine Vermittlung nur dann sein, wenn er selbst neutral bleibt und sich nicht völlig auf die Seite einer der Parteien schlägt. (S. 665 f.)
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Mit beiden Selbstbeschreibungen, qua Negation oder als Vermittler in der Form des ›weder – noch‹, vermeidet Lessing Bestimmungen, die eine Zugehörigkeit bedeuten würden. Nisbet zeigt die gesamte Biographie hindurch den heterogenen Charakter Lessings. Seine Unabhängigkeit und Unruhe, sein Nonkonformismus, das sprunghafte Naturell und die zahlreichen Widersprüche, die Lessings Leben und Werk durchziehen, das Fehlen einer großen Konfession, eines konsequenten Lebensplanes und einer organischen Entwicklung – Lessing entzieht sich zeitlebens einer begrifflichen Bestimmung. Nisbet verdeutlicht in seiner Beschreibung implizit, dass Lessing immer schon in heterotopen Räumen, in einem Status der Nicht-Zugehörigkeit verortet ist. Und obwohl er dezidiert vermeidet, Lessings heterogenen Charakter begrifflich zu fixieren, ließe sich eine Lektüre durchführen, die das durchgängige Motiv des Außenseiters als übergeordnete These der Biographie versteht. 11 ›Lessing, der Außenseiter‹ ist der Versuch, auf den Begriff zu bringen, was sich gegen eine begriffliche Bestimmung sperrt.

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Diese These umfasst auch ein Argument von großer Tragweite, das Nisbet am Ende seiner Biographie formuliert. Wenn sich Lessing nämlich konsequent einer Zugehörigkeit zu einer Richtung oder Partei entzieht, wenn es »kein systematisches Programm oder zusammenhängendes System« in Lessings Werk gibt, dann folge daraus, »daß nicht so sehr das Was als vielmehr das Wie seiner Äußerungen Lessing interessant macht« (S. 851). Die Lessing-Lektüre, die Nisbet damit vorschlägt, sieht davon ab, Widersprüche im Werk Lessings zu glätten und Lessing auf eine bestimmte Position zu fixieren. Nisbet stellt sich zudem in eine Forschungstradition, die Lessings Rhetorik und Metaphorik in den Vordergrund stellt. 12

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Fazit

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Nisbet konstatiert nicht einfach Thesen über Lessing, sondern entfaltet die Biographie in präziser und detaillierter Darstellung. Die wichtigste Funktion der Biographie kann also darin gesehen werden, dass sie jenseits von biographischen Modellen Lessing als historische Person portraitiert und über Lessing auf neuestem Forschungsstand informiert.

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Damit kommt Nisbets Biographie zu Lessing ein ähnlicher Stellenwert zu wie der eingangs erwähnten Goethe-Biographie Nicholas Boyles, und wie einer dritten Biographie, die in dieser Reihe genannt werden muss: Peter-André Alts zweibändige Schiller-Biographie aus dem Jahr 2000. 13 Nisbet selbst hat Alts Biographie rezensiert und ein Fazit geschrieben, das als Fazit zu seiner eigenen Biographie gelesen werden kann. Ich erlaube mir daher abschließend, dem Rezensenten Nisbet selbst das letzte Wort zu lassen, indem ich drei Sätze auswähle und dabei ›Schiller‹ mit ›Lessing‹ substituiere:

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All in all, this biography offers a full and reliable account of [Lessing’s] life and work. It will have limited appeal to the public at large, for it lacks the narrative élan, stylistic accessibility, and imaginative insight of – to state the obvious parallel – Nicholas Boyle’s Goethe, also published by C. H. Beck. […] Be that as it may, all who are seriously interested in [Lessing] must be grateful for this encyclopedic work, which will serve as a standard source of reference for many years to come. 14
 
 

Anmerkungen

Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach. Bd. 1: 1749–1790. München: Beck 1995; Bd. 2: 1790–1803. München: Beck 1999.   zurück
Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bände. 3., durchgesehene Aufl. Berlin: Weidmann 1909.   zurück
Dieter Hildebrandt: Lessing. Biographie einer Emanzipation. München, Wien: Hanser 1979; die Taschenbuchausgabe ist 2003 in München bei dtv erschienen.   zurück
Exemplarisch für diesen Ansatz steht das Kleist-Buch von László F. Földényi: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter. Aus dem Ungarischen übersetzt von Akos Doma. München: Matthes & Seitz 1999. Földényi gliedert die Monographie alphabetisch nach Begriffen von ›Ach‹ bis ›Zufall‹.   zurück
Peter-André Alt: Mode ohne Methode? Überlegungen zu einer Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographik. In: Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 23–39, hier S. 29.   zurück
Jan Philipp Reemtsma: Lessing in Hamburg. 1766–1770. München: Beck 2007.   zurück
Horst Steinmetz: Lessing. Lebenslauf ohne Biographie. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 91–103, hier S. 101.   zurück
Ebd., S. 96.   zurück
Ebd., S. 103.   zurück
10 
Zit. nach Hugh Barr Nisbet: Probleme der Lessing-Biographie. In: Jürgen Stenzel / Roman Lach (Hg.): Lessings Skandale. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 1–19, hier S. 18.   zurück
11 
Dass sich Nisbet während der Arbeit an der Biographie intensiv mit dem Thema des Außenseitertums auseinandergesetzt hat, belegt auch sein Aufsatz aus dem Jahr 2005; Hugh Barr Nisbet: Lessings Umgang mit Außenseitern. In: Jürgen Stenzel / Roman Lach (Hg.): Lessings Skandale. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 79–100.   zurück
12 
So beispielsweise zur Sprache in Lessings Polemik Norbert W. Feinäugle: Lessings Streitschriften. Überlegungen zu Wesen und Methode der literarischen Polemik. In: Lessing Yearbook 1 (1969), S. 126–149; Rolf Specht: Die Rhetorik in Lessings Anti-Goeze. Ein Beitrag zur Phänomenologie der Polemik. Bern, Frankfurt/M., New York: Lang 1986, sowie Evelyn K. Moore: The Passions of Rhetoric. Lessing’s Theory of Argument and the German Enlightenment. Dordrecht, Boston, London: Kluwer 1993.   zurück
13 
Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. 2 Bände. München: Beck 2000.   zurück
14 
Hugh Barr Nisbet: Rez. zu Peter-André Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit. In: Arbitrium 19.1 (2001), S. 81–85, hier: S. 84 f.   zurück