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Neues zum Kanon ?

Fragmentierte Perspektiven

  • Lothar Ehrlich / Judith Schildt / Benjamin Specht (Hg.): Die Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren - Kulturelle Funktionen - Ethische Praxis. (Klassik Stiftung Weimar) Köln, Weimar: Böhlau 2007. 230 S. Gebunden. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-412-19306-5.
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Die aufgeregten Kanon-Debatten der 1990er Jahre sind längst vorbei. Umso neugieriger macht der von Lothar Ehrlich und anderen herausgegebene Sammelband Die Bildung des Kanons, der Ergebnisse einer Tagung des Internationalen interdisziplinären Arbeitskreises für philosophische Reflexion präsentiert.

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Die Herausgeber ordnen die Beiträge drei Großgruppen zu: »I. Kanon und Text« (S. 21–102), »II. Kanon und Ethik« (S. 103–172), »III. Kanon und Kultur« (S. 173–220). Die drei Schwerpunkte lassen erkennen, wie weit die Thematik des Buches gefasst ist. Innerhalb der rezenten Kanonforschung besticht die Öffnung des Fragehorizonts, die deutlich über vergleichbare Studien hinausführt. Damit freilich handeln sich die Herausgeber ein kaum lösbares Problem ein: Der Begriff des Kanons wird in fast jedem Beitrag neu fixiert, mit der Konsequenz, dass er zuletzt keine klaren Konturen mehr hat und zu einer bloßen Buchtitel-Klammer wird. Was haben der Kanon der Weimarer Klassik, der »Kanon der Dekonstruktivisten« (S. 43), der konstitutive Kanon der Ethik, die »Paradoxie des Kanons der Selbstverantwortung« (S. 139), der transkulturelle »Kanon wichtiger und zentraler Symbolbestände« (S. 141), der neuhumanistische »Bildungskanon« (S. 153), die »Dekanonisierung der traditionellen Wissensordnungen in China« (S. 173) und die Lektürelisten polnischer Germanistik-Institute miteinander gemeinsam? Eine Antwort gibt der Sammelband nicht; der von den Herausgebern als »gewinnversprechend« bezeichnete »interdisziplinäre Fokus« (S. 9) zerfällt in elf Einzelbeiträge; konzise Tagungsergebnisse werden nicht referiert. Diese konzeptionelle Schwäche mindert keineswegs die hohe Qualität einzelner Essays, zumal die philosophiegeschichtlichen Kanon-Schlaglichter Tiefendimensionen kultureller und gesellschaftlicher Wertungspraktiken ausleuchten, die in literaturwissenschaftlichen Kanondebatten gerne ausgeblendet werden.

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Kanonisierung – (auch) eine
Frage der »Texteigenschaften«?

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Der Sammelband beginnt mit einem kanontheoretisch ambitionierten Versuch Leonhard Herrmanns zum Thema »Kanon als System. Kanondebatte und Kanonmodelle in der Literaturwissenschaft« (S. 21–41). Herrmanns kanontheoretischer Ansatz ist schon deshalb diskussionswürdig, weil er gegen den Trend rezenter Kanonforschungen eine Verbindung zwischen der Kanonisierung auf der einen und »Eigenschaften von Texten« (S. 29) auf der anderen Seite herstellen will. Herrmanns leitendes Interesse orientiert sich am Versuch, den »Blick zu öffnen für die internen Bezüge und Zusammenhänge von Kanon« (S. 25): »Als System betrachtet, steht Kanon nicht mehr einseitig in Abhängigkeit von den sozialen und historischen Bedingungen seiner Konstituierung, sondern ist selbst Teil dieser Bedingungen« (ebd.).

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Was allerdings unter der Doppelformel »interne Bezüge« und »Eigenschaften« genau zu verstehen ist, definiert Herrmann nur ungenau. Niemand hat, soweit ich sehe, die literarische Kanonbildung je als willkürlich-beliebige Setzung definiert. Wenn Gesellschaften einer Gruppe von Texten und anderen Artefakten der repräsentativen Kultur einen kanonischen Rang zuerkennen, so spielen dabei, wie bereits Renate von Heydebrands Grundlagenwerk »Kanon – Macht – Kultur« 1 an vielen Beispielen veranschaulicht hat, Identitätsprozesse eine sinnstiftende Rolle, selbstverständlich vermittelt über textuelle Rezeptionspotenziale und hoch emotionale, von Kanonklassikern stimulierte Erlebniskontexte. Der Kanonforschung kann daher nicht unterstellt werden, sie hätte »interne Bezüge und Texteigenschaften« (S. 32) vernachlässigt, wenn sie (so der breite Konsens) die Rolle kultureller und gesellschaftlicher Steuerungsfaktoren bei Prozessen literarischer Kanonbildung hervorhebt.

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Und doch hat Herrmann – hier liegt das unbestreitbare Verdienst seines forschungsinnovativen Beitrags – mit der veränderten Akzentuierung des Interesses am Mitspieler ›Text‹ im kanonischen System den Fragehorizont erweitert. Zugleich präzisiert er den systemtheoretischen Ansatz Achim Hölters 2 von 1997 und schlägt vor, den »Kanon als autopoietisches System zu beschreiben«, ohne dabei »Einflüsse von außen zu negieren« (S. 38), also das »autopoietisch[e] System ›Kanon‹ offen für Kanonisierungsansprüche und -bedürfnisse von außen« (S. 39) zu halten. Vor diesem Horizont liest sich seine Schlussbilanz in der Tat wie eine »Reformulierung des Kanonproblems selbst, das eben in der Dialektik von Stabilität und Flexibilität, von Historizität und Normativität, von Konsistenz und Konstrukt besteht« (S. 41).

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Schlaglichter auf
literarische Subkanones

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Ein in der historischen Kanonforschung noch wenig erhelltes Problemfeld berührt Benjamin Spechts Beitrag »Textpotential und Deutungskanon. Zum Verhältnis von Textstrategie und Kanonisierung am Beispiel der Rezeptionsgeschichte von Novalis’ Europa-Rede« (S. 75–102). Specht stellt die »nach wie vor offene Frage der Kanonforschung [...], inwiefern Kanonbildung neben institutionellen Bedingungen und sozialen Interessen von angebbaren Potenzialen der Texte selbst abhängt, ob und wie sich Kanon-Entscheidungen von Texten her begründen lassen« (S. 77). Aber sind Antworten auf diese Fragen über den kaum konkret fassbaren Begriff des Deutungskanons zu erzielen, der bei Specht (mit einigem Recht) nichts anderes meint als eine »standardisierte, abstrahierte und für größere Trägergruppen verbindliche ›Kanon-Deutung‹, die sich auf ein kanonisches Textkorpus bezieht« (S. 80)? Die »jeweilige Deutung« sei ein »formierendes, vorgängiges Interpretationsschema« (ebd.). Die ›Vorgängigkeit‹ indes lässt sich eben nicht »von Texten her begründen«, sondern von jenem »Normensystem«, das über die Einschätzung eines kanonischen Textes entscheidet, und zwar so, »daß einzelne intentionale Handlungen schließlich in einen (in der Regel) nicht-intentionalen Konsens zusammenlaufen« (ebd.).

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Spechts Argumentationsansatz verengt historische Kanonforschung fast durchgängig auf eine autor- und werkspezifische Rezeptionshistorie als Geschichte von Deutungen, die selbstverständlich stets auch einen textuellen Rekurs herzustellen versuchten. Die den positiven beziehungsweise negativen Kanonzuordnungen zugrunde liegenden Modi und Mechanismen der Wertung blendet er hingegen aus, indem er sich auf längst bekannte Quellen der Novalis-Rezeption wie die Schriften und Briefe der Romantiker sowie Literaturgeschichten von Gervinus bis Eichendorff und Hettner bezieht. Die Kanon-Tektonik, die Novalis’ Text überhaupt erst in Zusammenhang bringt mit literarischen Kanonisierungsprozessen, verflüchtigt sich bei Specht unter dem vagen Sammelbegriff »textexterne Vorgaben«: »Kanonischen Wert (auch ex negativo) gewinnt ein Text somit durch einen vorgängigen Maßstab, der textinterne und textexterne Vorgaben koordiniert, nämlich den Deutungskanon« (S. 101).

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Es charakterisiert die facettenartige Gesamtstruktur des Buches, dass es weit gefasste kulturelle Kanondimensionen mit spezialistischen Subkanones wie dem von Christoph Kleinschmidt untersuchten »Kanon der Dekonstruktion«, der »Auslese Derridas« (S. 43), vereinigt und so jede singularische Rede von ›dem‹ Kanon ad absurdum führt. Kleinschmidt (S. 43–60) referiert Derridas dekonstruktive Praxis und interpretiert sie als »dekanonische[n] Impuls« (S. 48). Was aber leistet die Korrelation von Dekonstruktion und Dekanonisierung? Keinen einzigen aus seiner ohnehin hochkanonischen »Auslese« hat Derrida um seine Position in den diversen Subkanones der Philosophie gebracht. Mit Recht hebt Kleinschmidt daher die auf paradoxe Weise kanonstabilisierende Produktivität dekonstruktiver Verfahren hervor: »Die Dekanonisierung der Dekonstruktion ist genau im Zwischen von Wertsetzung und Rezeption wirksam. Sie zitiert und seziert die maßgeblichen Texte der Tradition, um das Maßgebliche ihrer Verbindlichkeit in Frage zu stellen, mit dem Effekt der Fortwirkung der Texte der Tradition« (S. 49). Zugleich schreibt sich Derrida selbst in den Traditionszusammenhang ein; Kleinschmidts Formel von der »Kanonisierung der Dekonstruktion« (S. 53) trifft den Sachverhalt genau.

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Die mitunter verwirrende Vielfalt und Vieldeutigkeit des Kanonbegriffs haben die Herausgeber in ihrer Einleitung mit der »Pluralität von Kanones« (S. 14) in Verbindung gebracht. Zwar erscheint ihnen der Kanon (systemtheoretisch formuliert) »als Instrument von Komplexreduktion unumgänglich«, aber »die eigentliche Frage« sei »inzwischen meist nicht mehr die, ob ein Kanon, sondern welcher Kanon favorisiert« (S. 17) werde. Wie aporetisch und konsensoffen die Antworten ausfallen können, vermittelt Paul Hamiltons Beitrag zur »Theorie und Thematik im englischen Kanon« (S. 61–72), der am Paradigma englischsprachiger Literaturen den unabweisbaren, auch von Harold Blooms Plädoyer für den »Western Canon« 3 nicht aufgehaltenen Erosionsprozess literarischer Kanonbildung erläutert (S. 65 f.):

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Kanonbildung versucht, eine besondere Sammlung von Texten vorzugeben, die jeden vertritt. Aber dieses Monopol kann man unmöglich aufrechthalten. Sie muß repräsentativ sein, um gebieten zu können, aber je mehr sie sich dem kanonischen Recht annähert, desto mehr muß sie zugestehen, daß jeder Mensch vor dem Gesetz gleich ist. [...] Viele Kanones zu haben, untergräbt den Anspruch des Kanons auf die einzige Korrektheit und Autorität.
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Jenseits des literarischen Kanons:
Philosophische Reflexionen
und ethische Praxis

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Deutlich über den literaturwissenschaftlichen Problemhorizont der meisten Beiträge des Buches hinaus führen die philosophisch orientierten Essays des Sammelbandes, und so weit, dass kaum noch Schnittmengen zum literaturwissenschaftlichen Kanonbegriff erkennbar sind. Zwei Beiträge sind hervorzuheben: Frauke A. Kurbachers kleine Studie »Zur Anthropologisierung eines möglichen europäischen Selbstverständnisses« (S. 103–118) und Judith Schildts Überlegungen zur Frage »Welche Gemeinschaft braucht der Mensch? Kanonische Reduktionismen gesellschaftlicher Selbstverantwortung« (S. 119–139). Es geht um kanon-transzendentale Reflexionen auf bildungs-(Kurbacher) und handlungsphilosophischer Grundlage (Schildt). Kurbacher entfaltet, ausgehend von der bekannten Redewendung sub omne canone (›unter aller Kanone‹), ein von Christian Thomasius über Gadamer und Plessner bis zu Julia Kristeva reichendes Argumentationsfeld, um Kernbegriffe wie »Maßstäbe« (S. 104) und »Maßstablosigkeit« (S. 110) näher zu bestimmen. Zugleich verweist ihre »Grundthese« auf die Rolle und Bedeutung des jedem Kanon vorgängigen Selbstverständnisses und Selbstverhältnisses. Kurbacher geht davon aus, dass »ein enger Begriff von Bildung letztlich ein Selbstverhältnis impliziert und alle anderen Begriffe: Bildung, Kanon, Europa von hierher – dem Begriff des Selbstverhältnisses – zu entwickeln sind« (S. 104). Um Verbindlichkeiten, um »Normativität und Handlungskanon« (S. 119) geht es auch bei Schildt, die einige der Grundimplikationen der Rede vom Kanon (gleich welcher Art) entwickelt. Der Kanonbegriff sei »aufs engste mit Vorstellungen vom normativ Richtigen verbunden« (S. 120), faktisch habe »ein Kanon durch die konkrete Form des Miteinanders und durch seine wiederholte Praktizierung Bestand« (S. 121).

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Vor welchen ethischen »Herausforderungen« (S. 122) kanonische Prinzipien und Normen seit der Neuzeit stehen, erhellt die Autorin am Beispiel des Spannungsverhältnisses von Staat und Selbstverantwortung, indem sie Thomas Hobbes’ Leviathan und Robert Nozicks Minimalstaat (1976) einander gegenüberstellt. Paradoxerweise wird bei Schildt in der konzisen, begrifflich disziplinierten Abstraktion der Argumentationsführung jener lebensweltliche Konnex von Kanonisierungshandlungen deutlich, der trotz der im Buch-Untertitel versprochenen »kulturelle[n] Funktionen« in den literaturwissenschaftlichen Beiträgen fast völlig ausgeblendet wird (S. 137):

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Kanon ist [...] ein wertungsanzeigender handlungsein- und ausgrenzender Begriff, der die Bedingungen des Ein- und Ausschlusses widerspiegelt und dabei notwendig die konkrete lebensweltliche Verankerung inhaltlich miteinfaßt, will er die Möglichkeit der reflexiven Selbstbefragung auf seine (raumzeitlichen) Grenzen hin einhalten und sich damit auch selbst nicht ›verstarren‹. [...] Er bedarf damit von Zeit zu Zeit auch einer Neujustierung.
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Ein kanongeschichtlich signifikantes Fallbeispiel schildert Alfred Hirschs kleine Studie zu »Kanon und Transkulturalität« (S. 141–152), die ein an sich ephemeres Poetik-Problem – »Averroes auf der Suche nach der Komödie« (S. 141) – zum Ausgangspunkt für fundamentale Übersetzungsfragen zwischen der arabischen und der antiken Kultur nimmt: Averroes kommentiert 1176 Aristoteles, den er in arabischer Übersetzung liest; aber wie kann er sich von Tragödien und Komödien ein Bild machen, wo es in der zeitgenössischen »Semantik der arabischen Textwelt« eben »keinen Schlüssel zur Dechiffrierung der Bedeutung der Wörter ›Tragödie‹ und ›Komödie‹« (S. 150) gibt? Solche transkulturellen Vermittlungsmodi kanonischer Schriften wurden in der Kanonforschung noch kaum thematisiert, obwohl beispielsweise nationalliterarische Kanones manche Adaption und manche Prägung über einen inter- und transkulturellen Austausch erfahren haben – trotz des »diskursiven Machtraumes«, mit dem eine den Kanon dekretierende, »setzende Macht« die »unaufhörlichen Einfälle des Unsagbaren und Fremden« – wie Hirsch formuliert –»verleugnet und verheimlicht« (S. 151).

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Über die Einwirkung des Fremden auf kanonische Systeme referiert auch Wenchao Lis instruktiver Beitrag über die »Dekanonisierung der traditionellen Wissensordnungen in China oder wie es zur Erfindung einer chinesischen Philosophie kam« (S. 173–185). Der Autor beschreibt die Bildung eines der »einflußreichsten Wissensordnungsmodelle« (S. 174) in den 1770er Jahren unter dem Kaiser Qianlong und berührt damit das im Sammelband sonst kaum behandelte Thema der Entstehung und des historischen Wandels von Kanones. Die Wissensordnung entfaltet sich aus der Katalogisierungspraxis der kaiserlichen Bibliothek, also über den Konnex von Gattungsdefinitionen und -zuordnungen, deren Systematik schließlich zu einer »Wertehierarchie« von Klassikern und größeren Buchgruppen-Korpora und damit zu einer repräsentativen Ordnung einzelner Wissensdisziplinen führt. Mit Blick auf Europa hebt Wenchao Li die »Inkommensurabilität insbesondere der Makrokategorien mit europäischen Zuordnungsmustern« (S. 177) hervor. Die Wissenskanon-Architektur gerät mit zunehmendem europäischen Einfluss ins Wanken und erfordert neue Legitimationsstrategien, entweder einen »Harmonisierungsversuch der Tradition mit der Moderne« oder Differenzierung des Eigenen und des Europäischen »als zwei Wissenssysteme, die sich nun in ihrer jeweiligen Stärke und Gewichtung aber gegenseitig zu ergänzen hätten« (S. 181). Der tradierte Wissenskanon jedoch verliere seine Konsistenz und seinen Geltungsanspruch – mit einer überraschenden Konsequenz: Die »Dekanonisierung und Fragmentierung der traditionellen Wissensbestände« fördere eine Orientierung an der Struktur europäischer Wissensformationen, in deren Verlauf »die chinesische Philosophie als Wissensdisziplin entstanden« (S. 183) sei. In diesem Sinne spricht der Autor von der »chinesische[n] Philosophie als ›Erfindung‹« (S. 182). 4

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Kanonisierung und Dekanonisierung:
osteuropäische Perspektiven

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Leider bleiben solche interdisziplinären Ausfaltungen des Kanonthemas im Sammelband eher die Ausnahme. Im Schlussteil des Sammelbandes dominieren wieder literaturwissenschaftliche Spezialfragen, wie die Beiträge Katja Dmitrievas – »Ausschließungsmechanismen bei der Bildung des Literaturkanons in Russland« (S. 187–205) – und Joanna Labłkowskas (»Kanon und politische Korrektheit. Zur Entwicklung des Kanons in der polnischen Germanistik«, S. 207–220) zeigen. Dmitrieva konzentriert sich auf den russischen Kernkanon um Puschkin und Gogol, den sie vor dem Hintergrund beliebter Kanonpaar-Bildungen (analog zu Goethe und Schiller in Deutschland) über alle Stufen der Rezeptionsgeschichte bis zur Postmoderne verfolgt: trotz wechselnder Deutungsmuster und sich wandelnder kultureller wie politischer Verhältnisse vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Labłkowska analysiert germanistische Lektürelisten an den Universitäten Krakau und Posen – mit kaum überraschenden Ergebnissen: In dem Maße, wie universitäre Lektüreprogramme Kernkanonwerke betreffen, zeigen sich deutliche Übereinstimmungen, während am Kanonrand nicht nur die Titel- und Autorenauswahl variieren, sondern auch die Gewichtung einzelner Epochen und die Vorliebe für Gattungen. Die auffällige Distanz zur DDR-Literatur im polnischen Lehrbetrieb spiegelt politische Motive der Kanonbildung wider, wie sie für institutionelle Kanon-Instanzen wie Schulen und Universitäten charakteristisch sind.

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Fazit

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Der Sammelband gehört trotz gewisser Vorbehalte und Schwächen im Detail zweifellos zu den bedeutenden Kanonstudien der letzten Jahre; eine breite Resonanz ist den Herausgebern zu wünschen. Konzeptionelle Defizite gehen allerdings zu Lasten der Herausgeber, die den Nutzern des Buches nur ein Vortragskompendium bieten, aber den diskursiven Raum zwischen den vielfältigen Themenzugriffen und Problemhorizonten offen lassen und so leider hinter den Präsentations- und Diskussionsstandard des DFG-Symposions »Kanon – Macht – Kultur« deutlich zurückfallen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart, Weimar 1998   zurück
Vgl. Achim Hölter: Kanon als Text. In: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie. Heidelberg 1997, S. 21–39.   zurück
Vgl. Harold Bloom: The Western Canon. The Books and School of the Ages. New York, San Diego, London 1994.   zurück
Anders als das neuzeitliche Europa repräsentierte der traditionelle chinesische Wissenskanon philosophische Schriften nicht als eigene Gattung und Wissensdisziplin, so dass auch ein Sammelbegriff wie ›chinesische Philosophie‹ erst aus modernen Kanonformationen entstanden ist: »Wenn man will, kann man so durchaus sagen, daß der chinesische Begriff für Philosophie paradoxerweise eine Übersetzung durch Übernahme – also eben gerade Nicht-Übersetzung – einer japanischen Übersetzung des europäischen Begriffs war, die als solche wiederum ein klassisches chinesisches Wort verwendete« (S. 183).   zurück