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Ein bunter Strauß Aufsätze

13 Schlaglichter auf »Wertung und Kanon«

  • Nicholas Saul / Ricarda Schmidt (Hg.): Literarische Wertung und Kanonbildung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 202 S. Geheftet. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-8260-3593-7.
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Ende 2004 veranstaltete das Institute of Germanic Studies, London, ein Symposion mit dem Thema »Literarische Wertung und Kanonbildung in der deutschen Tradition nach der Postmoderne«; die Tagungsbeiträge vereinigt das unter dem generalisierenden Titel »Literarische Wertung und Kanonbildung« herausgegebene Buch. Von der »deutschen Tradition nach der Postmoderne« ist nun nicht mehr die Rede, weder im Titel noch in den 13 Aufsätzen. Dabei wäre es durchaus spannend zu verfolgen, wie sich Wertungen und Kanon-Architekturen unter ›postmodernen‹ Konstellationen verhalten. Und auch die im Symposion-Thema explizit genannte »deutsche[ ] Tradition« hätte den Fragehorizont auf andere – europäische/ transeuropäische – Traditionskontexte erweitern können.

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Die missglückte Einleitung

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Die 13 Schlaglichter des Buches unter einem Dach zu vereinigen erschien offenbar schon den beiden Herausgebern schwierig. So ist die »Vorrede« nur wenige Sätze lang; und was im Inhaltsverzeichnis noch als »Einleitung« angekündigt wird, das liest sich im Sammelband als eigenartiger Zwitter zwischen eigenem Beitrag und Einführung in die beiden großen Themenkreise Wertung und Kanon (Ricarda Schmidt: »Der literarische Kanon: ein Organ des Willens zur Macht oder des Gewinns an Kompetenzen?«, S. 9–21). Wer darauf wartet, dass die plakativ an den Anfang gestellte Frage irgendwann beantwortet wird, der sieht sich gründlich enttäuscht. Von Kompetenzen ist bei Schmidt nirgends die Rede; stattdessen referiert die Autorin ein paar Standardtitel der Kanonforschung, hinter deren Problemhorizont der Beitrag selbst weit zurückfällt. Sogar der summarische Blick auf die folgenden Aufsätze erweist sich als trügerisch: Schmidt behauptet, im Buch hielten sich »Kanongegner und Kanonbefürworter die Waage« (S. 19). Niemand aber outet sich als »Kanongegner«; der Autorin, immerhin Mitherausgeberin des Sammelbandes, scheint entgangen zu sein, dass die literaturwissenschaftliche Kanonforschung seit Jahren mit ihrem deskriptiven Interesse die früheren Pro- und Kontradebatten längst überwunden hat.

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Kanon – pragmatisch?

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Ungleich präziser argumentiert Manfred Engels Beitrag »Kanon – pragmatisch. Mit einem Exkurs zur Literaturwissenschaft als moralischer Anstalt« (S. 23–33). Ausgangspunkt ist Stanley Fishs These von der »Literarizität als soziales Konstrukt« (S. 23). Vor diesem Hintergrund ist Engels Schlussfolgerung nachvollziehbar: »Was es ganz offensichtlich gibt, sind Kanones – und zwar unendlich viele: explizite und implizite, ausformulierte und virtuelle, bewußte und unbewußte« (S. 24). Der Pluralisierung stellt Engel dialektisch jenen singulären Kanon entgegen, der »als Kanon einer bestimmten Zeit und der ihr tonangebenden intellektuellen Oberschicht« (S. 25) eine besondere kulturelle Wirkungsmacht entfalten könne, und zwar nicht als Kanon des tatsächlich viel Gelesenen, sondern als »der ›postulierte‹ Kanon« (S. 25), der sich zwar ständig wandle, zugleich aber ein »durch Traditionen vorgegebenes Kulturprodukt von beträchtlicher longue durée« (S. 27) sei. Von hier aus schlägt Engel einen Bogen zu der im Kanon repräsentierten »Fülle höchst unterschiedlicher Werte« und zu den »Deutungskanones« (S. 28).

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Der im Aufsatztitel als »pragmatisch« bezeichnete Standpunkt zeigt sich auf prägnante Weise am Schluss. So hält Engel aus der Position der Gegenwart den literarischen Kanon nicht mehr als »[u]nmittelbar handlungsorientierend« (S. 28), so dass die dem Kanon immer wieder zugewiesenen Macht-Funktionen aus heutiger Sicht zu relativieren seien. Was vom Kanon geblieben sei, ordnet Engel »der memoria-Forschung« und den »kulturellen Speichermedien« (S. 29) zu. Engels kanontheoretische Pragmatik bezieht zuletzt auch den literaturwissenschaftlichen Kanon ein; dieser Kanon sei erstens ein »professionelles Instrument zum Management seines disziplinären Wissensvorrates«, zweitens eine »historistisch«, d. h. auf »alle Epochen«, Gattungen und »Literaturprogramme« angelegte Textauswahl und drittens ein »von autonomieästhetischen Gesichtspunkten« (S. 30) geleiteter Gegenstandsbereich. Den überraschenden Rekurs auf Autonomieästhetik legitimiert Engel mit dem Selbstverständnis der Literaturwissenschaft, die er gegen alle Trends zur kulturwissenschaftlichen Horizonterweiterung auf einen irreversiblen Kern reduziert (S. 32 f.):

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Autonomieästhetik, also die Beschäftigung mit der Literarizität von Literatur, ist die raison d’être von Literaturwissenschaft, die Geschäftsgrundlage ihrer disziplinären Existenz. Denn wenn Literatur kein eigengesetzlicher Bereich ist, muß es auch keine eigens für sie konzipierte Wissensform geben; Soziologen, Historiker, Anthropologen und Moralphilosophen können unsere Arbeit dann miterledigen.
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Ein auf solcher »Geschäftsgrundlage« errichteter Kanon zielt allerdings auf den ästhetischen Genuss von Kunstwerken, die seit je – qua Interpretation – das Fach beschäftigen, dessen wissenschaftliche »Dynamik« und Profession »nicht in Kanonrevolutionen, sondern in der ständigen Veränderung des Deutungskanons« (S. 33) bestehe. Spätestens hier allerdings verkehrt sich Engels pragmatischer Ton zu einer über die Kanonfrage hinausführenden Prognose, die allen, die Literaturwissenschaft jenseits ihrer autonomieästhetischen Fundierung betreiben, die potenzielle Abschaffung der Wissenschaft vorwirft: »Wer seinen Kanon heteronomästhetisch begründet, arbeitet letztlich auf die Abschaffung der Literaturwissenschaft als einer eigenständigen Disziplin hin« (S. 33).

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Weitere Kanon-Schlaglichter

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Es gehört zur unfreiwilligen Komik des Buches, dass gleich der nächste Beitrag, Roger Paulins Überlegungen zu »Georg Forster as Seen by Georg Gottfried Gervinus« (S. 35–43) einem Wissenschaftler gilt, der mit seiner Art, Literaturgeschichte zu betreiben, alles andere als einer Autonomieästhetik das Wort redete – und gerade dadurch die Teildisziplin germanistischer Literarhistorie begründete. Überhaupt fällt auf, dass der von Engel noch klar umrissene Kanon der Literaturwissenschaft in Wahrheit in viele Facetten und Subkanones zerfällt. Anschauliche Fallbeispiele liefern dafür Anne D. Peiters Analysen zu Karl Kraus und Elias Canetti (»Satire und Kanonbildung im Wien der Zwischen- und Nachkriegszeit«, S. 45–56) und Tim Mehigans kleine material- und aspektreiche Musil-Studie (»Post-Critical Criticism: Robert Musil as an Example«, S. 57–69).

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Peiter und Mehigan zeigen einmal mehr, dass in der Kanonforschung die Analyse der Einzelfälle mehr Aufschlüsse über konkrete Kanonstrategien und ‑prozesse 1 bietet als angestrengte Theorie-Entwürfe mit ihren leeren Abstraktionen und Postulaten. 2 Entsprechend ergiebig ist daher auch Paul Bishops Beitrag »›Heavyweight of the Weimar Republic?‹ Issues of Literary Value and Canonicity in Hermann Hesse« (S. 71–87). Bishop ist der einzige Beiträger, der die im Buchtitel verknüpfte Formel »Literarische Wertung und Kanonbildung« wirklich ernst nimmt und beide Themenfelder verknüpft. Mit Demian, dem Steppenwolf und dem Glasperlenspiel wählt Bishop drei markante Romane, die allesamt diversen Subkanones angehör(t)en; sie stehen, wie der Autor illustriert, im Zusammenhang mit Hesses Rezeption von Kernkanongrößen wie Goethe.

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Über ein Experiment zur literarischen Wertung berichtet Frank Möbus in seinem Essay »Wie, was – und wer? Zur An- oder Abwesenheit des Autors bei der literarischen Wertung« (S. 89–102). Studierenden wurden in unterschiedlichen Seminarsituationen ein kurzer Auszug aus dem Roman Michael von Joseph Goebbels sowie kurze Statements mit Charakteristiken von Schriftstellern vorgelegt (der Bogen reicht von Ernst Jünger bis Helmut Heißenbüttel); Aufgabe war, den Textauszug einem der Autoren zuzuordnen. Goebbels wurde, wenn überhaupt, nur von einem sehr geringen Prozentsatz erkannt. Die Auswertung des Experiments kann leider im Rahmen des Sammelbands nur thesenartig ausfallen: Es gibt noch keine empirische Wertungsstudien, und es ist auch die Frage, ob die »An- oder Abwesenheit des Autors« im Arrangement der vielen Faktoren, die Autor-Hypothesen beeinflussen – vom literarhistorischen Wissen bis zur sozialen Erwartbarkeit und eben Nicht-Erwartbarkeit wie im Falle von Goebbels –, mit entsprechender Validität erfasst und im Hinblick auf literarische Wertungskompetenzen interpretiert werden kann.

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Einen brisanten Fall literarischer Wertung untersucht Barbara Becker-Cantarino, die ihre Studie auf die Frage zuspitzt: »Geschlecht und literarische Wertung, oder: warum hat Elfriede Jelinek den Nobelpreis erhalten?« (S. 125–149). Die meisten Antworten allerdings sind aus dem Feuilleton längst bekannt, während die Positionen zur Wertungstheorie in Ästhetiken von Baumgarten bis Eichendorff kaum mehr als einen knappen historischen Abriss aufbieten, der ohne erkennbaren Bezug zur Nobelpreis-Entscheidung im Falle Jelineks steht. Skizzenhafte Argumentationen ergeben auch bei Sara Lennox – »The Politics of Reading. A Half Century of Bachmann Reception« (S. 151–161) – keine fundierte Analyse, während umgekehrt in Michael Mindens »Besteller Lists and Literary Value in the Twenthieth Century« (S. 163–172) die Frage nach dem Konnex bzw. der Dichotomie von Kanon und Bestellerlisten ausgeblendet wird; wer sich über Besteller- und Kanonfragen informieren möchte, sei dringend auf Klaus Mangers exemplarische Studie über »Besteller des 18. Jahrhunderts« verwiesen. 3

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Ein neuer »Paradigmenwechsel«?
Die performative Seite der Gegenwartsliteratur

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Die qualitative Differenz der unter dem irreführenden Generaltitel »Literarische Wertung und Kanonbildung« versammelten Beiträge ist sehr groß; Impulse der Kanonforschung sind kaum zu finden. Zu den Ausnahmen gehört allerdings gewiss Katrin Kohls Studie zur veränderten Rolle und zum neuen Status des Auditiven in der Gegenwartskultur (»Festival, Performance, Wettstreit: deutsche Gegenwartsliteratur als Ereignis«, S. 173–190). »Die deutsche Literaturszene seit der Wende«, so Kohl, »ist geprägt von einer Intensivierung der Performanz« (S. 173). Damit eng verknüpft sind Auf- und Umwertungen performativer Praxis in der Literatur. Kohl stellt mit Recht den historischen Zusammenhang her zur Rolle der oralen Kultur, bevor im Verlaufe des 18. Jahrhunderts sich die kanonische Fixierung der Dichtkunst auf ihre schriftlich-materiale Repräsentation durchsetzte. Dieser »Paradigmenwechsel« (S. 174) ist nicht allein ein Ausdruck der sich um 1800 durchsetzenden Autonomieästhetik, sondern korrespondiert, wie Kohl anschaulich darlegt, mit bildungsbürgerlichen Lesepraktiken und dem »enormen Erfolg« (S. 178) der Romankunst. Die Geschichte moderner Kanonbildung ist von jenem »Paradigmenwechsel« des 18. Jahrhunderts nicht zu trennen.

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Dennoch sind die Erosionserscheinungen des tradierten bildungsbürgerlichen Kanons nicht zu übersehen. Daraus folgert Kohl keinen kulturpessimistischen Kanonzerfall; sie beobachtet vielmehr Veränderungen und Verschiebungen, die für sie einen erneuten »Paradigmenwechsel« ausmachen, »bei dem sich im Kontext der Postmoderne sowohl die Vermittlungsformen als auch die partizipierenden Gruppen ändern. […] Auditive Verbreitungsformen wie CD oder DVD sind nicht mehr nur sekundäres Medium, sondern treten dem Buch gleichwertig an die Seite« (S. 179). Damit aber gewinnt die performative Seite der Literatur – samt auditiver Sinnlichkeit, öffentlicher Auftrittskunst, literarischer Performance und kultureller Festivalaktivität – eine neue, die Rezeption von Literatur mitbestimmende Dimension. Poetry Slam ist dabei nur die Spitze eines Eisberges. In welcher Form die veränderten Konstellationen auf die Auswahlpraktiken sowie die Motive und Modi literarischer Kanonisierungsprozesse einwirken, lässt sich zur Zeit noch nicht übersehen. Erkennbar jedoch sind Phänomene der Emotionalisierung, der Entwicklung beispielsweise des Gedichts »vom statischen Kulturgut zum dynamischen Erlebnis« (S. 186) und des intermedialen Verbunds von Literatur, Musik und Film. Kohl fasst ihre Ergebnisse in der These zusammen, »daß gegenwärtig die akustische und performative Dimension von Literatur auch in Gattungen jenseits des Dramas an Geltung gewinnt und daß damit interaktive Rezeptionsweisen intensiviert werden« (S. 186). Die Autorin sieht darin keinen Anlass zur Klage – im Gegenteil (S. 188):

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Die literarische Szene in Deutschland zeigt um die Jahrtausendwende eine auch im internationalen Vergleich ungewöhnliche Lebendigkeit und performative Vielfalt, die durch Interdisziplinarität, Anschlußfreudigkeit in Bezug auf frühere Formen und Interaktionen zwischen ›hoher‹ und ›niederer‹ Kultur gekennzeichnet ist.
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Vor diesem veränderten Horizont sind Verschiebungen der literarischen Kanon-Architektur ebenso zu konstatieren wie eine veränderte Wertungspraxis, welche eine Kunst zu favorisieren beginnt, »die sich erst im öffentlichen Kontext verwirklicht« (S. 190). Ob sich damit die Erosionsprozesse literarischer Kanonbildung beschleunigen oder ob neue Kanonformationen entstehen, bleibt abzuwarten.

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Fazit

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Der Sammelband hinterlässt trotz einzelner herausragender Beiträge einen zwiespältigen, ja unbefriedigenden Eindruck. Da die Herausgeber darauf verzichtet haben, ihre Leitkategorien Wertung und Kanon auch nur annähernd zu definieren, sind die einzelnen Beiträge kaum mehr als unverbindliche Statements. Deutlich unterkomplex bleibt der Begriff der literarischen Wertung: Es ist symptomatisch für das Buch, dass einschlägige Studien wie die Renate von Heydebrands und Simone Winkos Einführung in die Wertung von Literatur und Friederike Worthmanns Dissertation Literarische Wertungen sowie ein Grundlagenwerk wie Maria Moog-Grünewalds Kanon und Theorie nirgends erwähnt werden. 4 In summa: Ein bunter Strauß Aufsätze macht noch lange kein konzises Buch über literarische Wertung und Kanonbildung.

 
 

Anmerkungen

Ein wegen seiner historisch-politischen Implikationen komplexes Kanonisierungsbeispiel behandelt auch Fritz Werfelmeyers Beitrag »Literarische Ästhetik und Gedächtnis des Holocaust. Kanonbildung und die Debatte um Peter Weiss’ Werk« (S. 103–123).    zurück
In diesen Kontext gehört auch die Reaktivierung Kants als ästhetisches Wertungsfundament bei David E. Wellbery (»Evaluation as Articulation. A Defence of Kant on Literary Value«, S. 191–202).    zurück
Vgl. Klaus Manger: Besteller des 18. Jahrhunderts. Ein Überblick. In: Anett Lütteken / Matthias Weishaupt / Carsten Zelle (Hg.): Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung. Beiträge zur historischen Kanonforschung. Göttingen 2009, S. 17–45.    zurück
Vgl. Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Paderborn u. a. 1996; Friederike Worthmann: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell. Wiesbaden 2004; Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie. Wiesbaden 1997.    zurück