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Gender Trouble - Genre Trouble

  • Claudia Liebrand: Kreative Refakturen. Annette von Droste-Hülshoffs Texte. (Rombach Litterae 165) Freiburg im Breisgau: Rombach 2008. 246 S. Paperback. EUR (D) 46,00.
    ISBN: 978-3-7930-9545-3.
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Annette von Droste-Hülshoffs Texte sind deshalb fester Bestandteil des modernen Kanons, weil sie »so traditionsbewusst wie ihre Autorin« sind und »auf überkommene Poetiken, auf rhetorische Traditionen, auf Gattungsmodelle, auf Topiken, die das kulturelle Repertoire zur Verfügung stellt«, zurückgreifen (S. 7). 1 Daraus entsteht eine Konstellation, der Claudia Liebrands Aufmerksamkeit gilt: »Ästhetisch bemerkenswert, eigenwillig und innovativ geraten ihre Texte gerade nicht«, so ihre Grundannahme, »weil sie mit Vorgaben des Kanons brechen, sondern weil sie an Bekanntes anschließen«. Annette von Droste-Hülshoffs Traditionsverbundenheit schafft »die Voraussetzung für die kreativen Umschriften und Neuentwürfe, die ihre Texte vornehmen« (S. 232). Aus Alt wird Neu, aus der Nachhut die Vorhut der Moderne: Vor diesem literarhistorischen Hintergrund liest Liebrand mit eben einem solchen, nämlich einem genuin philologisch motivierten und die rhetorischen wie narratologischen Beschreibungsmodelle nutzenden Interesse repräsentative Prosatexte: das Romanfragment Ledwina, das Verspepos Des Arztes Vermächtnis, die Reisebeschreibung Bei uns zu Lande auf dem Lande sowie die Novelle Die Judenbuche. Die induktiv, und das heißt speziell auf die Faktur der Texte zugeschnittene Systematik dieser Lektüre entwickelt Liebrand anhand von fünf einschlägigen, poetologischen Gedichten des Spätwerks.

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Poetologische Gedichte:
Facetten ästhetischer Selbstsetzung

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In ihrer luziden Interpretation der Schauer- oder Gespensterballade Das Fräulein von Rodenschild führt Liebrand vor, wie die schreibende Hand als poetologische Reflexionsfigur schlechthin einem Gendering unterzogen wird: »Schauerlicher als das Gespenst wäre das restriktive kulturelle und gesellschaftliche Ordnungssystem des 19. Jahrhunderts, wie es Droste in ihrer die Schreib-›Rechte‹ der Frau in jedem Wortsinne verhandelnden Ballade skizziert« (S. 33). In Der Dichter – Dichters Glück bestimmt Droste-Hülshoff darüber hinaus ihre eigene Position als Dichterin im Dialog mit den im kulturellen Gedächtnis für eine solche Selbstverortung gespeicherten, männlich indizierten Bildern, wie etwa demjenigen des Prometheus:

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Drostes Gedicht inszeniert einen clash of topoi. Die im kulturellen Repertoire versammelten Topoi werden durchquert und durchkreuzt: Die widerstreitenden Zuschreibungen erlauben nicht, dem poeta seinen Ort und seine Funktion zuzuweisen. [...] Das ausdrücklich nicht auf die Agenda Gesetzte, die Gender-Positionierung des sprechenden Ichs, taucht dem demonstrativ zur Schau gestellten generischen Maskulinum zum Trotz in der Metaphorik des Gedichts auf und wird verhandelt. (S. 49)
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Verhandelt werden »Gender-Fragen im Rekurs auf Genrefragen« auch in der Elegie Die tote Lerche (S. 52). Dem Gattungshybrid, das Liebrand beschreibt, korrespondiert die Ambiguität der Geschlechtermarkierungen, aufgrund deren Droste-Hülshoff das Symbol der Lerche – seit alters her der Dichtervogel – als »Hohlform« verwenden kann. Im Rückgriff auf romantische Narrative setzt sie so eine »Sängerin« in Szene (S. 63), um sie dem kulturellen Gedächtnis einzupassen beziehungsweise den neuen Topos dort gewissermaßen einzuschleusen, einzumogeln. In dem so genannten Gelegenheitsgedicht Lebt wohl setzt Droste-Hülshoff dieses Maskenspiel fort, das es ihr ermöglicht, den ›Dichter als Frau‹ sprechen zu lassen, indem sie nun den Tasso-Topos des seinen Liebeskummer in poetischer Produktivität sublimierenden Mannes weiblich besetzt, dabei freilich die selbstherrliche Pose in eine ambivalente ummünzt. Die dabei entstehende »poesia victoria« ist eine Pose, »in die sich das sprechende Ich mit äußerster rhetorischer Anspannung, mit höchstem persuasivem Aufwand hineinredet« – und es ist eine instabile (S. 77). Die Golems schließlich inszenieren »einen radikalen Gestus ästhetischer Selbstkritik«, den diese als weiblich indizierte Poetik zu integrieren in der Lage ist, so dass Droste-Hülshoff den großen, männlich indizierten Kreativitätsmodellen gewissermaßen ein ›kleines‹, 2 weiblich indiziertes gegenüberstellt: »Als Produktionsmaschinerie von Untoten – so Drostes Gedicht, das nicht umhin kann, performativ das zu tun, was es kritisiert: neue ›blutleere Figuren‹ zu generieren – verheißt Literatur keine Rettung« (S. 89).

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Arrièregarde als Avantgarde: Ledwina

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Ästhetische Selbstreflexivität und Gendering der Gattungen – diese doppelte Strategie verfolgt Liebrand in den folgenden Erzählanalysen. An ihrem Romanfragment Ledwina arbeitet Droste-Hülshoff zwischen 1810 und 1825/26 – und blutleer ist dessen Heldin aus dem Archiv spätromantischer Trivialromane allemal, empfindsam, nervös und (Droste-Hülshoff erspart ihrem Publikum nichts) auch an der Tuberkulose leidend. ›Brustkrank‹, wie Ledwina ist, stellt sie für Liebrand den Prototyp der modernen Hysterika dar. Im »lässige[n] Umgang mit Handlung« – im Roman ersetzen Gespräche jede andere Form der Aktivität – nimmt Droste-Hülshoff darüber hinaus die Verfahren des modernen Gesellschafts- beziehungsweise Konversationsromans vorweg, wie ihn am Ende des 19. Jahrhunderts etwa Fontane oder Raabe kultivieren, um wie Droste-Hülshoff ein »polyperspektivisch angelegtes [...] Gesellschaftsportrait im ›Medium‹ einer Familie« zu liefern (S. 95). Was sich in diesem Experiment abzeichnet, das ist deshalb kein weiterer Trivialroman, sondern ein neues Genre, das wie auch die Gedichte des Spätwerks einen Schauplatz poetologischer wie weiblicher Selbstreflexivität darstellt.

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Bereits in der Eingangsszene beschreibt Liebrand, wie Droste-Hülshoff in der Überlagerung des Narziss- mit dem Pygmalion-Mythos sowie mit Shakespeares Ophelia und der elementaren Undine in einem Verfahren, das man in Anlehnung an Erwin Panofsky und wiederum im Hinblick auf die großen europäischen Realisten als ›disguised symbolism‹ bezeichnen könnte, »eine Ursprungsgeschichte ihrer Kreativität« schreibt. Dergestalt stiftet sie einen weiblich indizierten »Gründungsmythos ihrer dichterischen Existenz« (S. 95), der das »kulturelle Zuschreibungsmuster, das Weiblichkeit auf Tod abbildet, mit einer mythischen Konfiguration« überblendet, »in der es um die Selbstsetzung des Subjekts in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Spiegelbild geht«. Durch die Umbesetzung der mythologischen Helden durch die christliche Heilige Ledwina tritt dabei »das Tabuisierte, Versehrte und Todesverfallene« in Erscheinung (S. 100), von dem sich der Roman her schreibt. Als ›Todesmaschinerie‹ bezeichnet Liebrand daher auch das Fragment, das sich um die »Themen Versehrung, Krankheit, Sterblichkeit« (S. 102), ja das sich vor allem um gleich reihenweise dahingeraffte Männer dreht und seinen imagologischen Höhepunkt im Kirchhoftraum hat.

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Die Energien, die diese Maschine antreiben, werden durch die »Frage nach den Möglichkeiten weiblicher Subjektivität, dem ›Ort‹ der Frau – in der Gesellschaft und in der Sprache –« freigesetzt (S. 112), die bei Droste-Hülshoff mit den »Sehnsüchte[n] nach Sexualität« verbunden ist (S. 112). Nur im Modus der ›Anders-Rede‹ lassen sich diese Sehnsüchte freilich aussprechen – im Modus der Imagination, der Anekdoten, der Stellvertreterfiguren, deren sich Droste-Hülshoff bedient. Auf diese indirekte Art und Weise schreibt Droste-Hülshoff also die »abendländisch-›männlichen‹ Mythen über Selbstliebe und Schöpfertum« weiblich um und begründet auf dem Weg der »epigonale[n] Nachschöpfung spätromantischer Trivialromane« die neue Form des Konversationsromans (S. 120 f.). Dabei stellt sich am Schluss freilich die Frage, ob man Ledwina überhaupt als Fragment bezeichnen darf oder ob der Roman in seiner prinzipiell offenen Struktur nicht einfach an irgendeiner beliebigen Stelle abbricht, weil er an jeder Stelle ebenso abgebrochen wie fortgesetzt werden könnte: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann plaudern sie noch heute – Droste-Hülshoffs unheimliche Damen.

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Psychografie zwischen Poe und Kafka:
Des Arztes Vermächtnis

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Als »Entscheidung« zur Positionierung der Autorin wertet Liebrand die Tatsache, dass Droste-Hülshoff zwischen 1833 und 1844 an einem Versepos arbeitet und es sowohl vollendet als auch veröffentlicht, obwohl sie dieses beliebte Genre des Biedermeiers poetologisch nicht reflektiert, wie die Forschung bisher angenommen hat. Die Selbstreflexivität des Textes, in dem die (Un-)Möglichkeit seiner Darstellung dargestellt wird, steht indes seit längerem außer Frage. Liebrand verfolgt daher, wie Droste-Hülshoff »auf die ›überkommene‹ Gattung des Epos rekurriert« (S. 125). Indem sie dabei einerseits wie Kafka mit der Schriftlichkeit des Textes ästhetisch kalkuliert, andererseits wie Poe der Psychologie der Figuren alle Aufmerksamkeit zollt, führt Droste-Hülshoff »Seelendrama« und »Schreibdrama« eng (S. 126). Die beiden pointierten Vergleiche der so schwer zu verortenden Dichterin nicht nur mit den beiden großen Dichtern, sondern vor allem auch mit zwei Diskursivitätsbegründern moderner Dichtung tragen dem clash (um noch einmal an Liebrands Leitidee zu erinnern) von »katholische[m] Glaubenszusammenhang« mit moderner Mediologie und Psychologie Rechnung (S. 129); und dieser clash ist ein weiteres Mal unheimlich.

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Ausgangspunkt des Arrangements ist eine Dantes Göttlicher Komödie nachgestellte Initiation des Sohnes, der das Testament des Arztes liest. Es handelt wiederum von einer Initiation, die sich in der Erinnerung an die traumatischen Ereignisse »einer einzigen, Jahrzehnte zurückliegenden Nacht« vollzieht (S. 129). Zu einem »transgenerationellen« wird der »Fluch« in der dreifach vermittelten Nachstellung des Ödipus-Mythos dadurch (S. 134), dass der Sohn liest, dass der erinnernde Vater sich erinnert, dass eine Frau – Theodora, das Gottesgeschenk – ermordet wird:

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Dem Arzt gelingt es nicht, das Geheimnis der Frau aufzuklären: Das Rätsel ›Weiblichkeit‹ verschwindet gar (als werde damit der Suizid der Sphinx nachgestellt) möglicherweise in einem Felsabgrund, entzieht sich jedenfalls seiner potenziellen ›Auflösbarkeit‹. Weil der Körper der Frau nicht als toter ›arretiert‹ werden kann, bleibt unentschieden, ob wir es mit dem (in der Fiktion) realen oder dem geträumten Mord an einer Frau zu tun haben. (S. 132)
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Der Unheimlichkeit der Handlung entspricht daher die Undeutlichkeit des Erzählens, die Droste-Hülshoff mit Hilfe der entsprechenden rhetorischen Techniken zur Erzeugung von ambiguitas und obscuritas erzeugt. In dieser Konfiguration des »kulturelle[n] Paradigma[s] von der Weiblichkeit als unbekanntem dunklem Kontinent«, die von der männlichen Ratio aufgeklärt und ausgeleuchtet werden soll, würde also die demgegenüber als weiblich zu indizierende Rhetorik des Textes das »Schlüsselnarrativ« hintertreiben (S. 132):

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Des Arztes Vermächtnis präsentiert sich vor diesem Hintergrund als metapoetischer, als poetologischer Text, der das Rätsel ›Weiblichkeit‹ zum privilegierten Sujet erklärt und der dieses Rätsel nicht nur verhandelt, der selbst auf eine gewisse Weise zu diesem Rätsel wird. [...] Der Text wird, auch über die Penetrationsmetaphorik, zu einem zu explorierenden Frauenkörper. (S. 133)
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Mit dem psychologisch-mythologischen geht das mediologische Arrangement des Versepos einher, das dem Mythos von Narziss und Echo aus den Ovidschen Metamorphosen folgt. Weiblichkeit – Tod – Schrift – Stimme (Akustik): Diesen Komplex, dem das Phantasma des toten Frauenkörpers zugrunde liegt, rekonstruiert Liebrand geduldig – und fordert der Leserin nichts weniger ab als das: Geduld im Nachvollzug eines intensiven close reading. Am Ende hat Liebrand eine Konfiguration freigelegt, die einerseits die Begründung der kulturellen Ordnung durch die Tötung des Weiblichen bestätigt, diese andererseits jedoch an die Figur des Arztes als »Dichter und Hysteriker« koppelt. Für Liebrand stellt er eine »Stellvertreterfigur« der Autorin dar (S. 143), so dass sie das Versepos als »[a]utobiografische Inskription[ ]« interpretieren kann (S. 144). Die Metaphorisierung des Schreibvorgangs sowie die Engführung von Schreiben und Töten (die Inskription der Körper) bilden folgerichtig einen noch einmal eigens zu beschreibenden Handlungsstrang. Schließlich richtet sich Liebrands Aufmerksamkeit auf das ›gestörte‹ Erzählen des Versepos. Es mündet in jene Stelle, an der Droste-Hülshoff mit dem rhetorischen Mittel der Apostrophe »O bete! ringe! hilf ihm [syntaktische Polyvalenz des Personalpronomens, F.B.] aus der Qual!« eine Metalepse, ja gewissermaßen ein schwarzes Loch im narratologischen Raum erzeugt. In der dadurch entstehenden mise en abyme ersetzt Droste-Hülshoff das männlich-lineare Erzählen klarer Grenzen in einer formalen Volte durch ein weiblich-zyklisches.

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Autobiografie als Ethnografie:
Bei uns zu Lande auf dem Lande

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Die Wendung ›Zu Lande auf dem Lande‹ ist entweder ein grober stilistischer faux pas oder verweist mit der Wiederholungsfigur auf das sich selbst reflektierende Arrangement des Textes, das Liebrand als ethnographisch bezeichnet. Keine verkappte Autobiographie schreibt Droste-Hülshoff, keinen exotischen Reisebericht, kein gelehrt-belehrendes Genrebild wie die Westfälischen Schilderungen. In der Herausgeberfiktion Nach der Handschrift eines Edelmannes aus der Lausitz entwirft sie die fictio personae der Verfremdung, »mittels teilnehmender Beobachtung die materiellen und symbolisch-semantischen Weltbezüge fremder Kulturen aus deren Perspektive zu rekonstruieren. Sie leben wie der Erzähler eine Zeit lang in jenen Stammeskulturen, die sie ethnologisch und kulturanthropologisch erforschen wollen«, wobei das »Heimische« und »Heimliche [...] in dieser Konfiguration zum Unerforschten und Unheimlichen« (S. 167), ja zur »Exotik Westfalens« wird (S. 168). Aus Gründen »familiärer Zensur« bricht Droste-Hülshoff das Experiment 1841 ab (S. 192), an dem sie seit 1838 arbeitet.

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Nachdem Liebrand einen autobiographischen Kurzschluss zunächst kritisch zurückweist, spielen autobiographische Argumente für die Bewertung der »Nachdrücklichkeit«, mit der »nahezu alle Figuren in Bezug zum Sujet ›Schreiben‹« stehen, eine wichtige Rolle (S. 174); ein weiteres Mal dient Kafka Liebrand hier zur Perspektivierung der proto-modernen Poetik der Westfälin. Tatsächlich bedient sich Droste-Hülshoff einer Reihe von Spiegelfiguren, um eine »Problemlage« zu reflektieren, »die die Autorin ihr Leben lang umtrieb: die Schwierigkeiten, sich der Kunst als adelige ledige Frau mitten in der Provinz zu widmen« (S. 181): Wilhelm Friese, Anna und vor allem auch Sophia sind solche »Doppel« (S. 183), die einmal affirmativ, ein andermal humoristisch der Selbstreflexion weiblichen Schreibens dienen. Dass dieses Schreiben, dass Kunst selbst in Bei uns zu Lande auf dem Lande als »eine Krankheit zum Tode« inszeniert wird (S. 187), ja dass Droste-Hülshoff ein weiteres Mal auf die romantische »Allianz von Kunst und Tod« zurückgreift (S. 190), fügt das ethno-autobiographische Fragment in die Reihe der anderen Prosatexte ein:

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So gesehen, geht es nicht in allererster Linie um die Darstellung einer Region, sondern um die Aufstellung eines Spiegelkabinetts, in dem sich die Autorin in ihrem Personal reflektiert – meist (aber nicht immer) in komischer Verzerrung. [...] Überdies insistiert Bei uns zu Lande auf dem Lande auf jene topische Verknüpfung von Schrift und Tod […] [und] stellt seine Funktion als Grabmal, als Denkmal aus. (S. 193)
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Eine Familiengeschichte in neuer Version:
Die Judenbuche

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Dass Droste-Hülshoffs 1842 zum ersten Mal und erst 1860 vollständig veröffentlichte Judenbuche ein Gattungsexperiment der besonderen Art und gleichzeitig anerkanntermaßen »veritable Höhenkammliteratur« ist (S. 219), zeigt schon allein die Tatsache, dass der Text die dramatischen Strukturen der Novelle mit den analytischen der Kriminal- und Detektivgeschichte, den topischen der Dorfgeschichte sowie den ethischen der Idylle beziehungsweise Anti-Idylle so verschaltet, dass sich die Erzählung einmal mehr quer zu den einfachen Gattungsformaten stellt, wie sie etwa die zeitgenössische Novellentheorie vorsieht. Denn Droste-Hülshoff überschreibt gewissermaßen August von Haxthausens Geschichte eines Algierer-Sklaven mit einem Palimpsest, das sich in der spezifischen Differenz zur Vorlage des Onkels bemisst. Mit einer Reihe oft nur »minimale[r] Verschiebung[en] vergrößert Droste hier den Spekulations- und Interpretationsraum signifikant« (S. 202) ebenso wie durch die Ableitung der Story- und Plotstrukturen von den rhetorischen Operationen der Sprache. Metonymisch erzählt Droste-Hülshoff ihre Geschichte am »Signifikantenmaterial« entlang (S. 203), verwendet also wieder Darstellungstechniken, die erst im Horizont der Historischen Avantgarde Beachtung finden.

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Avantgardistisch im emphatischen Sinn ist dann vor allem die »desaströse Familienkonfiguration« in der aus den Fugen geratenen Welt im Dorf B. (S. 204), die Droste-Hülshoff darstellt: Alkohol, Gewalt, Mord, Sexualität im Allgemeinen und Inzest im Besonderen sind die Muster, an denen Liebrand im Versepos die Logik eines »transgenerationellen Trauma[s]« entwickelt (S. 207). Dergestalt entsteht ein modernes Mikro-Epos – ein »opus brevis sed magnum« (S. 197). Die Hauptfigur Friedrich Mergel durchmisst seine Welt und deren Gesetz, das indes nicht männlich-einwertig, sondern vielmehr weiblich-doppelwertig in seiner absoluten, und das heißt: nicht korrigierbaren Ambiguität in Erscheinung tritt. Droste-Hülshoffs Textwelt liegt nämlich »ein zweites Recht« zugrunde, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit, wie es im ersten Abschnitt der Judenbuche heißt, das jeder universalen oder gar transzendenten Grundlage entbehrt. Die Figuren von Verdoppelung und Aufspaltung sind es daher auch, denen Liebrands Interesse gilt: Zwei Morde statt eines Mordes, für den Mord am Juden Aaron dann zwei Mörder, zwei (potentielle) Väter Friedrichs sowie dessen Verdoppelung im alter ego Johannes Niemand, usw. usf. Kurzum: »Es geht um den Hinweis darauf, dass selbst das als absolut zweifelsfrei Angenommene auf den zweiten oder dritten Blick eben diese Zweifelsfreiheit verliert« (S. 210).

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Der Ambiguität des ›zweiten Rechts‹ entspricht ein unzuverlässiges Erzählen, mit dem das hermeneutische Gewohnheitsrecht außer Kraft gesetzt wird. Ebenso wie die intertextuellen Referenzen – beispielsweise auf die Odyssee – ihr semantisches Integrationspotential einbüßen, ebenso wie das als Motto vorangestellte Gedicht trotz seiner paratextuellen Positionierung vor dem eigentlichen Text seinen ethisch-normativen Anspruch nicht einlöst, gelingt es Droste-Hülshoff mit allen Mitteln der Kunst, eine Erzählinstanz zu schaffen, die nicht Herr im eigenen Haus ist. Dieser Erzähler verweist auf fehlende Informationen, kann oder will zentrale Ereignisse nicht erzählen (weder die Familien- noch die Mordgeschichten), ja scheint immer wieder die Achseln zu zucken, während ›es‹ erzählt. Mit diesem unzeitgemäßen Schreiben erzielt Droste-Hülshoff unter dem Strich der Judenbuche ein bemerkenswertes Ergebnis: eine moderne Erzählung, eine psychologische Fallstudie, ein kanonischer Text und die Nobilitierung der Dichterin an der »Seite des ›ersten Dichters‹ Homer« (S. 231).

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Droste-Hülshoffs
poetologische Enzyklopädie

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Die Kreativen Refakturen markieren insofern einen Meilenstein in der Forschung, als Liebrand mit deren Rhetorik bricht. Obwohl die Topik das zentrale Modell der Kreativität ist, das sie Droste-Hülshoffs Texten unterlegt, verzichtet Liebrand selbst auf die bewährten Topoi der Argumentationsbildung: Weder marginalisiert sie die Autorin als Traditionalistin noch hypostasiert sie Droste-Hülshoff als Modernistin. Vielmehr gelingt es Liebrand, beide Topoi als Figuren der Lektüre beziehungsweise als Verstehensfiguren zu nutzen, die gezielte Schlaglichter auf den poetologischen Hintergrund der Europäischen Moderne werfen: Droste-Hülshoffs Bewirtschaftung der Gattungstradition: Erfüllungen, Brüche, Überbietungen, Vergrößerungen, Verkleinerungen, Kombinationen, Kontrafakturen stellt nämlich einen enzyklopädischen Modus der Literatur dar. Sie schreibt daher nicht nur insofern enzyklopädische Texte, als sie sich in historistischer Art und Weise souverän im kulturellen Archiv bewegt und das Wissen dabei einem spezifischen Gendering unterzieht, sondern Droste-Hülshoffs Gattungsexperimente bilden auch eine genuin poetische Enzyklopädie ab. Damit meine ich einen Modus der Darstellung, der um seine historischen Darstellungsverfahren von der Formatierung des ganzen Textes bis zu derjenigen des einzelnen Wortes weiß und im Wissen um sie gleichzeitig auch auf sie reflektiert – und zwar wie gehabt auf sie als weibliches Wissen reflektiert. 3 Wenn aber eine solche enzyklopädische Faktur der Literatur als Maßstab von Modernität schlechthin gilt, dann hat Liebrand das Denkmal der Autorin tatsächlich auf einen neuen Sockel gestellt – und dessen Fundamente gründen nun um einiges tiefer.

 
 

Anmerkungen

Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf den rezensierten Titel.   zurück
Zur poetologischen Relevanz des ›Kleinen‹ vgl. Thomas Borgstedt / Yvonne Wübben: Einleitung. In: T.B. / Y.W. (Hg.): Einfache Prosaformen der Moderne. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 56. Jahrgang Heft 2/2009, S. 157–160.   zurück
Zum enzyklopädischen Modus der Literatur vgl. Waltraud Wiethölter / Frauke Berndt / Stephan Kammer: Zum Doppelleben der Enzyklopädik – eine historisch-systematische Skizze. In: W.W. / F.B. / S.K. (Hg.): Vom Weltbuch bis zum World Wide Web: Enzyklopädische Literaturen, Heidelberg 2005, S. 1–51.   zurück