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Sahl und seine Verleger
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Saß man mit Hans Sahl
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zusammen im Gespräch über Gott und die Welt, konnte es passieren, dass er aus heiterem Himmel zu einer Philippika gegen seine Verleger ansetzte und sich über deren leere Versprechungen, Gleichgültigkeit oder sogar Untätigkeit in den Bemühungen um seine Bücher ereiferte. Meist glätteten sich die Wogen schnell wieder, und mit einem Augenzwinkern gab er zu verstehen, dass er an der ›verlegerischen Front‹ im Grunde doch mehr Erfolge als Niederlagen aufzuweisen habe.
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Gelegentlich aber war diese Empörung auch ernst gemeint, und dann betraf sie meist das Schicksal seiner Gedichte. Nein, nicht die seiner ersten Anthologie, dieses poetische Tagebuch seiner Exiljahre in Frankreich, das er 1942 unter dem Titel Die hellen Nächte – zwar nur in kleiner Auflage, dafür aber in schwierigsten Zeiten, mitten im Krieg, im fernen New York und das auf Deutsch (!) – hatte veröffentlichen können.
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Ebenso wenig galt die Erregung seiner lyrischen Zeugenschaft als gewissermaßen letzter Überlebender einer Generation deutsch-jüdischer Schriftsteller, die Hitler, wenn nicht ermordet, so doch in alle Weltwinkel verjagt hatte. Denn diese zweite Sammlung mit dem Titel Wir sind die Letzten,
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die Sahl überhaupt erst einem breiteren Publikum als Dichter bekannt machte, erfüllte ihn mit Stolz, zumal sie eine zweite Auflage erfuhr.
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Nein, seine beinahe ohnmächtige Wut galt vielmehr der gescheiterten ersten Ausgabe seiner Gesammelten Werke im Züricher Ammann-Verlag. Als die Verantwortlichen Ende der 80er Jahre beschlossen, diese Edition wieder einzustellen – zwischen 1983 und 1987 waren gerade einmal zwei Bände erschienen
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– blieben damit vor allem auch Sahls »sämtliche Gedichte« auf der Strecke, die den Auftakt, den Band 1, dieser Ausgabe hatten bilden sollen und deren Erscheinen unter dem Titel Der Mann im Stein bereits angekündigt war.
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Posthume Edition des lyrischen Werkes
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Vor diesem Hintergrund nehmen sich die jetzt erschienenen, von Sahls Stiefsohn Nils Kern und dem Lektor des Luchterhand-Verlags, Klaus Siblewski, herausgegebenen Gedichte wie das postume Einlösen eines Versprechens aus, denn »mit dieser Ausgabe« werde, wie Verlag und Herausgeber gleichermaßen stolz verkünden, »endlich« Sahls »lyrisches Werk als Ganzes zugänglich gemacht«.
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Ob Hans Sahl mit dieser Sammlung freilich vorbehaltlos glücklich geworden wäre, darf bezweifelt werden, denn weder enthält dieser Band auch nur annähernd vollständig Sahls hinterlassene Gedichte, noch ist die Sammlung – was die gelegentliche Rede von einer bloßen »Lese-Ausgabe« (S. 307) nahelegen könnte – ein repräsentativer Querschnitt durch sein lyrisches Schaffen.
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In den editorischen Bemerkungen zur Ausgabe heißt es, die Herausgeber hätten es als eines ihrer Hauptanliegen betrachtet, das Publikum einerseits mit den zahllosen Inedita unter Sahls Gedichten bekannt zu machen und andererseits jene lyrischen Werke wieder hervorzukramen, die zwar »als einzelne« bereits »veröffentlicht«, jedoch »zum großen Teil« längst »wieder« der »Vergessenheit« anheimgefallen seien (S. 307). Da in diesem Zusammenhang zugleich das Wort von der »Vollständigkeit« bemüht wird, fragt man sich, warum gleich eine Vielzahl der publizierten Gedichte Sahls in dieser Sammlung fehlt.
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So vermisst man beispielsweise jene Gedichte, die Sahl zwischen 1942 und 1988 im New Yorker Aufbau (Worte für eine Ausstellung,
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Verse, Die Bäume, Vietnamesisches Wiegenlied, Hölderlins Turm, Paul Falkenberg), im Berliner Tagesspiegel (Haus im Walde) und im Zürcher Tages-Anzeiger (Zürich 1937) veröffentlichte; aber auch solche, die sich in unterschiedlichen Publikationen seiner Werke gewissermaßen ›verstecken‹, etwa in seinem Briefwechsel mit George Grosz (Horch, der Boss geht durch das Haus, Zwei Widmungen für George Grosz).
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Auch der Nachlass birgt weit mehr als die hier versammelten »unveröffentlichte[n] Gedichte« (S. 239–296), bei denen es sich, nebenbei bemerkt, beileibe nicht immer um bislang unpublizierte Werke handelt.
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An die Deutschen, Nekrolog, Die Ballade vom Lake Iroquois, Für W. R., Silone, Die Neutralen, Mariechen, Ein Herr aus Danzig: das sind nur einige wenige, wahllos herausgegriffene Titel, die man in diesem Band vergebens sucht.
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Bei den zuletzt genannten Titeln handelt es sich übrigens um Texte, die Sahl fürs Kabarett schrieb. Gehören diese Balladen, Lieder und Chansons, die für Erika und Klaus Manns Pfeffermühle
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sowie das Schweizer Cornichon
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bestimmt waren, denn nicht in die Gesamtausgabe eines lyrischen Werkes? Und was ist darüber hinaus mit seinen Nachdichtungen, seinen – nein, nicht simplen Verdeutschungen, sondern – kunstvollen Übertragungen englischer und französischer Vorlagen eines William Butler Yeats,
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Theodore Roethke
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und Fénelon?
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Hätten sie nicht ebenfalls Berücksichtigung in diesem Band finden müssen? Und das gereimte chorische Gespräch Stimme von drüben?
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Oder die Chöre und Lieder des Oratoriums Jemand?
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Zur inneren Logik der Anordnung
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Die Luchterhand-Ausgabe ist in »zwei Abteilungen« (S. 310) gegliedert. Die erste und umfangreichere enthält die noch von Sahl selbst zusammengestellten Anthologien Wir sind die Letzten (S. 7–81) und Der Maulwurf (S. 83–185) sowie, unter dem Titel Dichte mich!, vorgeblich alle übrigen seiner veröffentlichten lyrischen Werke (S. 187–238); die zweite, Was bleibt überschrieben, bietet hingegen die bislang unpublizierten Gedichte aus dem Nachlass dar (S. 239–296). Was die innere Logik dieser Sammlung, d. h. die Anordnung der Gedichte betrifft, herrscht eine geradezu verwirrende Vielfalt.
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Dass man eine Sammlung sämtlicher Gedichte mit den mehr oder minder geschlossenen Anthologien beginnen lässt, macht ja noch Sinn. Aber warum bietet man nur zwei der insgesamt drei Gedichtsammlungen geschlossen dar, für deren Komposition Sahl in erster Person verantwortlich zeichnete? Die Hinweise und Erläuterungen zur Edition im Nachwort des Bandes geben auf diese Frage keine Antwort. Dort heißt es lediglich, man habe die beiden letzten Gedichtbände Wir sind die Letzten und Der Maulwurf »wegen der herausgeberischen Leistung des Autors bei der Zusammenstellung dieser Bücher« als Ganzes erhalten wollen (S. 310). Warum nicht auch den dritten (in der Chronologie des Erscheinens übrigens ersten), die 1942 erschienenen Hellen Nächte? Hat der Autor in ihrem Falle etwa keine »herausgeberischen« Meriten? Oder hat man nur Wiederholungen bzw. Zweifachdrucke vermeiden wollen?
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Denn einige Gedichte dieser frühesten Sammlung hat Sahl seiner Anthologie Wir sind die Letzten wieder einverleibt (freilich mit einigen nicht unerheblichen Bearbeitungen.)
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Und nicht nur das!
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In dem Abschnitt Aus »Die hellen Nächte«, 1942 (im hier besprochenen Band S. 25–48) gibt die Anthologie Wir sind die Letzten mit Hurrikanwarnung (S. 27), Exil (S. 28) und Kalenderblatt (S. 30) Gedichte wieder, die in der gedruckten Fassung der Hellen Nächte gar nicht enthalten sind. Sahl griff also in den 1970er Jahren noch einmal in die Schatzkiste bzw. (um es hier mit den Worten der Nachbemerkung zu sagen) auf sein »große[s] Reservoir von Gedichtmanuskripten« (S. 306) zurück, um seine neue Sammlung zu bereichern und abzurunden. Nur bildete besagtes »Reservoir« in diesem Falle nicht sein heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a. N. verwahrter Nachlass, sondern die Urfassungen dieser hauptsächlich in den Jahren 1939–41 entstandenen Gedichte. Sollte den Herausgebern etwa entgangen sein, dass das Manuskript der Hellen Nächte aus Frankreich. (Camp de Vernuche, Herbst 1939. Marseille 1940/41. New York, 1942, so die vollständige Titulatur) unter der (heutigen) Signatur »MS Ger 88« in der Houghton Library der amerikanischen Harvard-Universität verwahrt wird?
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So fristen denn die Hellen Nächte – oder besser gesagt: das, was von ihnen übrigblieb, nachdem man sie einiger ihrer bemerkenswertesten Gedichte beraubt hat – ihr Dasein inmitten der verstreut veröffentlichten Gedichte (s. S. 201–224), wo sie nicht einmal als Torso hingehören.
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»Die Gedichte, die vor dem Band ›Die hellen Nächte‹ erschienen, folgen einer Auswahl, die kurz nach Sahls Tod im Rahmen eines noch gemeinsam mit ihm projektierten Dossiers erschienen. Die sich anschließenden Gedichte sind chronologisch nach ihrem Erscheinungsdatum angeordnet worden.« Die »unveröffentlichten Gedichte« hingegen sind »vorsichtig in eine Abfolge gebracht, die Assoziationen an Hans Sahls Biographie weckten und eine Ahnung von den Fragen nahelegte, die ihn in den verschiedenen Lebensabschnitten beschäftigt haben.« (S. 311) Um mit dem Letzten zu beginnen: Dass die Abfolge von Lebenserlebnissen, dass Erfahrungen und all das, was man etwas salopp vielleicht als ›Was dem Dichter so durch den Kopf ging‹ bezeichnen darf, Ordnungskriterien bei der Einrichtung einer Ausgabe gesammelter oder auch sämtlicher Gedichte abgeben können … Sapienti sat! Doch auch dem Wissenden dürfte es schwerfallen, überzeugend zu begründen, warum etwa Der Nachtfalter
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Der Nachtfalter irrt auf dem Bildschirm umher, Geblendet vom Flackern des Lichts. Er glaubt, es wäre ein Flammenmeer, aber es ist nur ein Fenster ins Nichts. (S. 283)
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irgendwo zwischen einer Ode auf Israel (S. 279 f.) und einigen Liebesgedichten der 1980er Jahre (S. 290 ff.) zu stehen kommt und nicht an einem beliebig anderen Ort.
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Was hingegen den ersten Teil der hier zitierten Aussage betrifft, ist Folgendes festzustellen: Sahl, darin sind die Herausgeber offenbar einem Irrtum aufgesessen, hat zu keiner Zeit und in keiner Weise auf die Publikation der hier in Frage stehenden Neun Gedichte in der Zeitschrift Juni Einfluss genommen. Insofern geht deren chronologische ›Unordnung‹ auch nicht auf irgendwelche besonderen kompositorischen Wünsche Sahls zurück, sondern sie verdankt sich schlichtweg dem Zufall. Und nicht zuletzt deshalb hätten die Herausgeber im Band des Jahres 2009 die entsprechenden Gedichte von Alter (S. 189) bis Berliner Elegie (S. 199) durchaus in die korrekte Abfolge ihres zeitlichen Erscheinens bringen dürfen.
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Doch mit dieser korrekten Chronologie ist es ohnehin nicht weit her, denn auch bei der Einordnung der Gedichte von Die Auster (S. 225) bis Dichte mich (S. 238) hat mal das Erst-Erscheinungsdatum, mal das der benutzten Ausgabe,
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und mal das Abfassungsdatum die Hand bei der Arbeit geführt.
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Editorischer Apparat und Nachwort
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Selbst wenn es diese Edition primär auf eine bloße Popularisierung des Dichters Hans Sahl abgesehen hätte, so unterliegt doch auch eine Arbeit mit dieser Absicht gewissen Regeln und Standards, in die selbstverständlich auch das ›Beiwerk‹, Apparat und Nachwort, einbezogen ist. Mit den Quellennachweisen ist wenig Staat zu machen, vor allem auch deshalb nicht, weil sie dem Leser entscheidende Dinge vorenthalten, wie etwa detaillierte und unmissverständliche Auskünfte über die Druckvorlagen, aber auch kursorische Hinweise auf bemerkenswerte Einzelheiten der Publikationsgeschichte.
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So erfährt der Leser beispielsweise nicht, dass das Lied der Zwölf unterwegs (S. 197 f.) erstmals, und zwar am 16. Juni 1933, in der in Prag redigierten Exil-Zeitung Der Sozialdemokrat gedruckt wurde und erst danach auch in die Spalten der Wiener Arbeiter-Zeitung gelangte (exakt einen Monat später); dass es außerdem im sozialdemokratischen Exilblatt Neuer Vorwärts in Karlsbad (25.6.1933) sowie in den Saarbrücker Zeitungen Deutsche Freiheit (am 25./26.6.1933) und Volksstimme (18.7.1933) veröffentlicht wurde; und dass das Lied in den Drucken der Arbeiter-Zeitung und der Volksstimme noch diese (von Sahl oder von der Redaktion stammende) Marginalie enthält: »So singen Emigranten an Straßenecken, in Kabaretts und Schankstätten jenseits der deutschen Grenzen. – Der Song wurde im Hilversumer Sender vorgetragen.« Das Nachwort hingegen ist eine derartige Anhäufung von Ungenauigkeiten und Wiederholungen, Übertreibungen und peinlichen Banalitäten – »Wenn wir von 1942 aus bis 1902, Sahls Geburtsjahr, zurückrechnen, dann kommen wir zu dem Ergebnis, Sahl war […] 40 Jahre alt.« (S. 300 f.) –, dass es kaum lohnt, viele Worte darüber zu verlieren. Aber vielleicht sollten wenigstens einige wenige seiner gewagten Behauptungen hier abschließend kurz zurechtgerückt werden.
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Das Erscheinen der Hellen Nächte stellt keineswegs »etwas Einzigartiges« (S. 299) dar, weder in der Geschichte der deutschen Exilliteratur noch im Panorama des Verlags-Programms: Der Verleger Barthold Fles hatte erst kurz zuvor Gedichte Berthold Viertels und (in Zusammenarbeit mit dem Londoner Verlag Barmerlea) Max Herrmann-Neisses herausgebracht.
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Ebenso wenig ging Fles »ein Wagnis ein, als er sich dazu entschied, Sahls Gedichte in sein Programm aufzunehmen.« (S. 300) Seine einzige ›spekulative‹ Investition – und Sahl hat diese Geschichte in allen Einzelheiten in seinen Memoiren beschrieben
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– bestand darin, tausend Werbeprospekte
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herstellen zu lassen, mit denen sich Sahl auf die Suche nach 250 Subskribenten machen konnte, nach deren Unterschrift Fles dann mit der Drucklegung des Buches beginnen würde.
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Sahl hatte bis 1933 gerade einmal ein gutes halbes Dutzend Gedichte (exakt: acht) publiziert. Dass er »sich mit diesen wenigen Veröffentlichungen in der großen Menge der damals aktiven Autoren rasch einen Ruf als bedeutender Lyriker [zu] erwerben« vermocht habe (S. 301), für diese Behauptung hätte man gern einen Beleg. Das möchte man doch einmal sehen, dass ein Dichter-Kollege, Kritiker oder auch nur Freund Sahls Verse wie die folgenden ernsthaft zur großen Dichtung des 20. Jahrhunderts rechnete:
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Du gingst vorbei Und grüßtest schmal. Dein Hüftenschritt Warf mich zu Tal. (S. 196)
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Gestaltung des Vergänglichen
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Man tut Sahl keinen Gefallen mit solchen Übertreibungen, denn er reimte nicht mit Blick darauf, einst in den Panthéon der zeitlosen Poeten einzuziehen. Schon à propos seiner ersten Gedichtanthologie, der Hellen Nächte, schrieb er, es sei nicht seine Absicht gewesen, »›Ewigkeitswerte‹ zu geben […], sondern, in Form von Gedichten, von Balladen Sonetten, Sprüchen etc., die blutige Realität dieser französischen Katastrophe am Leser vorbeiziehen zu lassen, als läse er eine Story …«
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Dichten also als eine besondere Form des Erzählens großer Geschichte und kleiner Geschichten in ihrer wechselseitigen Beziehung, von Geschichte und Leben, von Lebensgeschichte im vollen Umfang des Wortes – womit Dichtung Gestaltung nicht des Zeitlosen, sondern des Vergänglichen, Ephemeren wird.
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Nicht von ungefähr heißt es gleich zum Auftakt dieser frühesten seiner Gedichtanthologien, in der Widmung An den Leser: »Das meiste, was hier steht ist Material, / […] // Es ist so flüchtig, wie wir selbst es wurden, / […] // Wer heute lebt, fragt nicht, was morgen ist.« (S. 203) Und diese Auffassung durchzieht Sahls lyrisches Werk wie ein roter Faden:
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Ein Mann, den manche für weise hielten, erklärte, nach Auschwitz wäre kein Gedicht mehr möglich. Der weise Mann scheint keine hohe Meinung von Gedichten gehabt zu haben – als wären es Seelentröster für empfindsame Buchhalter oder bemalte Butzenscheiben, durch die man die Welt sieht. Wir glauben, dass Gedichte überhaupt erst jetzt wieder möglich geworden sind, insofern nämlich als nur im Gedicht sich sagen läßt, was sonst jeder Beschreibung spottet. (S. 11)
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Die Gestaltung des Ephemeren wird schließlich in einem Gedicht mit dem Titel Gedichte schreiben – oder was davon noch übrig blieb zum Programm erhoben:
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Früher dichtete ich bewußt, ein Gefangener im Schraubstock des Reimens, Feilens, Lötens, […]
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Heute laß ich mich gehen, warte nicht mehr auf Eingebungen, streife mit der Flinte durchs Knieholz, Finger am Drücker, no exotic birds, please, sondern Enten, Hühner, Kaninchen, nichts für Feinschmecker, profanes Getier, das mir vor die Kimme kommt, ich trage es heim, gebündelt, blutend, angeschossener Alltag, gehobene Hausmannskost für Minderbemittelte.
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[…]
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Keats, Yeats, Baudelaire? Wird bewundert. Aber: keine Zeit für Filigran. Mallarmé? Zur Kenntnis genommen. Brecht? Letzter Versuch einer Synthese von Hölderlin, Luther, Lenin.
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Lyrik in unserer Zeit kann nur ephemer sein. Kommunikation mit Bewährungsfrist. Ich mache mich selbst zum Gedicht. Ich bin eine Begebenheit. Ich finde statt. Ich passiere. (S. 79–81)
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Fazit
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Was bleibt? Es bleibt der Lyriker Hans Sahl, der zwar nicht in dem Sinne zu den Großen des Faches zu rechnen ist, dass man seinen Namen mit Gottfried Benn, Bertolt Brecht oder einer Else Lasker-Schüler in einem Atemzug nennen würde, der aber dennoch einige lesenswerte Gedichte hinterlassen hat, wie etwa dieses:
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Ich weiß, dass ich bald sterben werde, zu lange schon war ich auf dieser Welt zu Gast, auf diesem Flecken, diesem Stückchen Erde, das du, mein Gott, wenn es dich gibt, mir gabst.
Was bleibt von all dem, das ich tat und lebte? Nur eine Kleinigkeit: Ein Mensch fand statt. Ein Mensch, der weiß, dass er nun sterben werde und müde ist und sagt: Ich hab es satt.
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Fast schon so alt wie dieses, mein Jahrhundert der Flammenmeere, Mörder, Folterungen, der Volksverderber und der Volksverächter, geliebt, gehaßt, gefürchtet und bewundert.
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So nehmt, o Brüder, eine Hand voll Erde und gebt sie mir zum Abschied auf den Weg. Ich weiß, dass ich bald sterben werde. Ein Gast nimmt leise seinen Hut und geht. (S. 237)
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Allein schon um solcher Verse willen hätte er eine liebevoller und kompetenter edierte Ausgabe seiner Gedichte verdient.
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