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Der Roman als Gemälde

J.G. Ballard und der Surrealismus

  • Jeannette Baxter: J.G. Ballard's Surrealist Imagination. Spectacular Authorship. Farnham, UK: Ashgate 2009. 243 S. 38 b/w Abb. Hardback. GBP 55,00.
    ISBN: 978-0-7546-6267-9.
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Als der britische Schriftsteller J. G. Ballard im Frühjahr 2009 im Alter von 78 Jahren verstarb, würdigte man ihn posthum als einen der größten Gegenwartsautoren der englischen Literatur, der es wie kein anderer verstand, die unter der schillernden Oberfläche der Konsumkultur schlummernden Pathologien und Neurosen der modernen Wohlstandsgesellschaft offen zu legen. In der Verknüpfung und der Analyse von Berührungsflächen Ballards umfangreichen Romanwerkes mit der im frühen 20. Jahrhundert aufkommenden Strömung des Surrealismus hat sich Jeannette Baxters Studie ein ambitioniertes Ziel gesteckt. Ihr interdisziplinärer Ansatz mit seiner Betrachtung des Autors im Kontext außerliterarischer Kunstformen lässt sich als Bereicherung der gegenwärtigen Ballard-Forschung werten, in der in letzten Jahren mit Studien wie Andrzej Gasioreks J. G. Ballard (2005) und dem von der Verfasserin der vorliegenden Studie herausgegebenen Sammelband J. G. Ballard: Contemporary Critical Perspectives (2008) neue Akzente gesetzt wurden. Als einer der vielseitigsten Autoren der britischen Gegenwartsliteratur veröffentlichte Ballard achtzehn Romane und mehr als einhundert Kurzgeschichten in so unterschiedlichen Genres wie der Science Fiction, der Kriminalliteratur und der Autobiografie. Die Betrachtung dieses heterogenen, über viele Jahrzehnte entstandenen Werkkorpus‘ aus der von Baxter gewählten Perspektive stellt somit eine beträchtliche Herausforderung dar.

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Das Forschungsdesiderat

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In ihrer Einleitung gibt die Verfasserin die Analyse von Ballards Werk als »a radical Surrealist experiment in the rewriting of post-war history and culture« als ihr übergeordnetes Forschungsziel an (S. 2). Hierfür werden drei grundlegende Strategien festgelegt:

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1. Die Beschäftigung mit Ballards Aneignung surrealistischer Poetik und ihrer Darstellungsweisen zum Zwecke einer hintergründigen Kulturkritik;

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2. das Herausarbeiten der Bedeutung von konkreten surrealistischen Gemälden und Collagen in Ballards Werk unter Einschluss der Freudschen Psychoanalyse;

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3. die Betonung einer neuartigen Text-Leser-Beziehung durch Ballards Fokus auf visuelle Formen innerhalb der Textwelt, welche den Leser in einen Betrachter verwandeln und Ballards im Titel der Studie erwähnte »spectacular authorship« befördern.

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Baxters äußerst kurz gehaltene Einführung des Surrealismus stellt einige der übergreifenden Thesen und Anschauungen vor, wobei diese Verknappung Gefahr läuft, die Heterogenität surrealistischen Schaffens zu vernachlässigen. Anschließend wird Ballards Verhältnis zu den Surrealisten beleuchtet, welches der Autor selbst in mehreren Schriften thematisierte und hierbei vor allem die Affinität surrealistischer Strategien zu der von Massenmedien, Populärkultur und daraus resultierender erschwerter Wahrheitsfindung bestimmten Zeit nach 1945 betonte. Daran anschließend geht das Kapitel auf Ballards Ablehnung der »hard-boiled Science Fiction« amerikanischer Prägung ein, wobei hier ein Verweis auf die genuin andersartige britische Science-Fiction-Tradition in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausbleibt und Ballards Betonung des »inner space« lediglich auf sein Interesse an surrealistischen Betrachtungsweisen reduziert erscheint. Die ebenfalls in der Einleitung erfolgende Übersicht zu Ballard-Studien der letzten beiden Jahrzehnte − die Verfasserin zitiert u.a. Jean Baudrillard, Frederic Jameson und Roger Luckhurst (S. 12) − bietet dem Leser wiederum genügend Gelegenheit, die Eigenständigkeit von Baxters Ansatz zu erkennen.

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Surrealismus und Geschichtskonstruktion:
die frühen Werke

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Die Innovativität der vorliegenden Studie offenbart sich im ersten Kapitel, in welchem die Analyse von Ballards frühen Science-Fiction-Romanen The Drowned World (1962) und The Crystal World (1966) durchgehend in Bezug zu surrealistischen Gemälden, Collagen und ästhetischen Strategien wie ›dépaysment‹ oder ›frottage‹ gesetzt wird. Anhand zahlreicher Abbildungen, z.B. André Massons The Cemetery (1924), Salvador Dalis The Persistence of Memory (1931), Max Ernsts Europe after the Rain I (1933) oder Paul Delvaux’ The Worried City (1941) stellt Baxter heraus, wie Ballard konkrete Bilder als Teil des Settings, Sujets und künstlerische Strategien des Surrealismus als bewusste Ausdrucksformen einsetzt, um die Brüchigkeit und apokalyptische Dimension der jüngeren europäischen Geschichte zu verarbeiten. Zahlreiche im Detail analysierte Textpassagen aus beiden Werken erhellen die narrativen Strategien des Autors und stützen die Argumentation der Verfasserin, die tradierte literaturkritische Vorwürfe an Ballards angeblichen Nihilismus sowie sein Zelebrieren von Szenarien des Untergangs entkräftet und The Drowned World und The Crystal World stattdessen als Beispiele für radikal-experimentelle Formen des »post-war writing« verortet (S. 19). Verweise auf die Katanga-Krise im Kongo (1960–63), die Ballard in A Crystal World verarbeitet, stellen konkrete Bezüge zu historisch-politischen Ereignissen der Nachkriegszeit her. Hier akzentuiert Baxter auch die antikoloniale Stoßrichtung Ballardscher Fiktionen, in denen bekannte Muster dualer Hierarchieverhältnisse durch subtile surrealistische Strategien aufgebrochen werden.

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Der visuelle Text: The Atrocity Exhibition

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Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Baxter mit The Atrocity Exhibition (1970), einer Sammlung aus 15 zuvor in verschiedenen Magazinen separat veröffentlichten Texten, die keine narrative Kohärenz aufweisen und generell sowohl als die am schwersten zugänglichen als auch die der heftigsten Kritik ausgesetzten Werke Ballards gelten dürften. Der Versuch des Autors, eine Leserschaft außerhalb der angestammten Science-Fiction-Gemeinde anzusprechen, spiegelt sich nicht nur in der Thematik der Kapitel wider, sondern zeigt sich ebenfalls in Ballards experimenteller Verwendung von Fotos, Collagen und weiteren graphischen Elementen. Diese wurden den Texten bei der Erstveröffentlichung beigefügt und zeugen von Ballards Suche nach neuen, textuell-visuellen Ausdrucksformen, mit denen er, wie Baxter betont, der zunehmenden Visualisierung der Kultur durch Medien und Werbung Rechnung trägt (S. 63). Eine exemplarisch vorgenommene Analyse des Kapitels »The Summer Cannibals« veranschaulicht das Ineinandergreifen von textuellen und visuellen Aspekten, denn hier erscheinen Textfragmente sowie Bilder collagenartig und unhierarchisch und stellen somit übliche Lesegewohnheiten auf den Kopf. Diese Strategie vergleicht Baxter mit Techniken des Surrealisten Max Ernst und kehrt damit zur Demonstration ihrer Ausgangsthese zurück. Die Originalversionen werden mit späteren, nicht illustrierten Ausgaben der Texte kontrastiert, wobei Baxter die von Ballard sorgfältig ausgeführten Annotationen nicht als Erklärung, sondern als kreative Weiterführung der Originaltexte bewertet.

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Die Wucht der Technik: Crash

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Das dritte Kapitel der Studie widmet sich einem ebenfalls sehr kontrovers diskutierten Werk des Autors, dem 1973 erschienenen Roman Crash, der mit seiner Darstellung von Londons betonierten Stadtlandschaften und einer Gesellschaft im Technikwahn, in der Zwischenmenschlichkeit und Sexualität hinter grenzenlosen Fortschrittsglauben zurücktreten, sehr unterschiedliche Reaktionen hervorrief. Dieses wohl überzeugendste Kapitel beleuchtet Crash mit konsequenter Berücksichtigung surrealistischer und futuristischer Prinzipien. Zunächst setzt Baxter den Roman in Bezug zu George Batailles radikal-performativer Kunst und Eduardo Paolozzis verstörenden Skulpturen und betrachtet Ballards Text als literarisches Experiment, welches den Leser mit exzessiver Gewalt und einer verwirrenden Zurschaustellung menschlicher Körperflüssigkeiten konfrontiert, in welcher »traces of phlegm, mucus, semen and blood circulate throughout the text in order to remind the reader of the contingent, messy, irreverent and residual nature of our own world« (S. 104). Weiterhin wird die Rolle der fotografischen Abbildung als performativer und geschichtsabbildender Instanz in Crash herausgearbeitet und ebenfalls in Bezug zu Bilderserien des 20. Jahrhunderts gesetzt, so zu Andy Warhols verstörender »Death and Disaster«-Serie (1962) oder zu Eli Lotars Schlachthaus-Fotografien (1929), die ebenso wie Ballards Roman die Rolle von Technik als progressiver, positiver Kraft radikal in Frage stellen (S. 127). Darüber hinaus zieht Baxter Parallelen zu Walter Benjamins einflussreicher Kulturkritik, welche den Realitätsverlust durch das Massenmedium Fotografie geißelt und mit den Collagen und anderen Verfremdungstechniken der Romanfigur Vaughan korrespondiert.

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Die experimentelle Autobiografie:
Empire of the Sun und The Kindness of Women

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In einem weiteren Kapitel geht Baxter surrealistischen Elementen in Ballards autobiografischen Werken Empire of the Sun (1984) und The Kindness of Women (1991) nach. Von vielen Kritikern als Ankunft Ballards in der etablierten Literaturlandschaft gefeiert, stellt sich in beiden Romanen die Frage nach der Grenze zwischen Realität und Fiktionalisierung, zu der es insbesondere bei Empire of the Sun, Ballards Verarbeitung seiner Kindheit in Schanghai während des Zweiten Weltkrieges, erhebliche Kontroversen gab. Alternativ zu diesen Debatten um den Wahrheitsgehalt autobiografischen Schreibens rückt Baxter die surrealistische Tradition in den Fokus, in welcher nicht das faktisch-chronologische Element, sondern das subjektive Erinnerungsempfinden im Mittelpunkt steht und sich der Widerspruch zwischen Fakt und Fiktion aufhebt. Die Ausführungen zu Ballards experimentellem Schreiben stellen dessen Bewusstmachung des Spannungsverhältnisses zwischen Geschichtsschreibung und individuellem Erleben in den Vordergrund. Ebenso wie Empire of the Sun wertet die Verfasserin auch The Kindness of Women als Text, der den Objektivitätsanspruch historischen Wissens infrage stellt und stattdessen »a new mode of historiographic imagination whereby lost or discarded historical materials are thrown up by the very act of constructing new and multiple versions of them« repräsentiert (S. 155). Wie in den vorangegangenen Kapiteln zieht Baxter hier Beispiele surrealistischen Wirkens heran, stützt sich aber verstärkt auf literatur- und kulturtheoretische Argumentationen, so z.B. von Gilles Deleuze, Michel Foucault oder Gérard Genette. Eine sicherlich sinnvolle, noch intensivere Situierung von Ballards autobiografischen Schriften innerhalb des Diskurses postmodernen Schreibens wird hingegen nicht verfolgt.

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Die Anatomie der Postmoderne:
Ballards Spätwerk

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Ballards Spätwerk, seinen dystopischen Detektivromanen Running Wild (1988), Cocaine Nights (1996), Super-Cannes (2001) und Millennium People (2003), widmet Baxter ihr letztes Analysekapitel. Während Running Wild mit der surrealistischen Tradition des ›fait divers‹, der Auflistung seltsamer Neuigkeiten in einem Text, verglichen wird und Baxter diese Strategie in Ballards Roman als »experiment in Surrealist black humour« (S. 177) wertet, steht bei der Betrachtung von Cocaine Nights dessen symbolbeladener Handlungsschauplatz Estrella de Mar im Mittelpunkt, in dem sich Ballards Kritik an einem privilegierten Europa der Reichen und Schönen offenbart. Darüber hinaus arbeitet die Verfasserin subtil surrealistische Konzeptionen zur Ästhetik der Gewalt in Cocaine Nights heraus, die Ballard für seine Theorie der zunehmenden Banalisierung von Gewalt in der postmodernen Kultur nutzbar macht. Auch Super-Cannes thematisiert Gewalt als Bestandteil kapitalistischer Praxis, indem Ballard schockierende Mordszenen als notwendige Kehrseite einer polierten Oberfläche wohlhabender postmoderner Lebenswelt hinterfragt und voyeuristische Tendenzen der heutigen Medienwelt bloßstellt. Die Revolte der gutsituierten Mittelschicht in Millennium People weist stärker humoristische Züge auf, die als Variationen des »Surrealist Black humour« (S. 210) lesbar sind und vor allem die Sinnsuche einer saturierten Elite artikulieren, in der sinnlose Gewaltorgien die Bedeutungslosigkeit ihrer Existenz akzentuieren.

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Zusammenfassung und Ausblick

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In ihrer überraschend kurzen Schlussbetrachtung synthetisiert Baxter etwas knapp die Ergebnisse der verschiedenen Teilanalysen und stellt Ballards Œuvre als Versuch heraus, offizielle Versionen der Geschichtsschreibung kritisch zu hinterfragen, wobei der Autor hier sowohl kontinuierlich auf nicht-lineare, achronologische narrative Muster als auch auf stetig wiederkehrende Themenkomplexe zurückgreift, in denen sowohl die profunde Kritik an kapitalistischen Lebenswelten als auch seine Nähe zu realistischen Artikulationsformen offenbar wird. Ebenso gibt die Zusammenfassung einen Ausblick auf weitere Forschungsobjekte in Ballards Texten, so z.B. hinsichtlich der Verarbeitung weiterer historischer Ereignisse oder der Rolle von Gemälden innerhalb der Texte. Allerdings droht dieser etwas diffuse, mit vielen Textzitaten versehene Exkurs in neue mögliche Gebiete der Ballard-Forschung die Hervorhebung des Erkenntnisgehaltes der Studie zu verwässern. Stattdessen wäre hier eine deutlichere Positionierung der in den einzelnen Kapiteln erfolgten Analysen, gerade auch im Hinblick auf die klar umrissenen Zielstellungen in der Einleitung und die Vielseitigkeit der Teilanalysen, sicherlich im Interesse des Lesers gewesen.

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Fazit

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Sämtliche Kapitel sind eminent gut lesbar und leserfreundlich durch Zwischenüberschriften strukturiert. Generell wirken Baxters subtile Analysen sehr überzeugend. Indem die Verfasserin häufig lediglich isolierte Handlungssequenzen oder Handlungsschauplätze hervorhebt, die sich besonders für die Argumentation der Studie eignen, ohne diese jedoch in Bezug auf die übergreifende Handlung zu positionieren, läuft die Studie allerdings gelegentlich Gefahr, die Bedeutung von allgemeineren Textaussagen zu vernachlässigen. Nichtsdestotrotz stellt J. G. Ballard’s Surrealist Imagination eine originelle Auseinandersetzung mit Ballards heterogenem Erzählwerk dar, welche die prinzipielle Interdependenz und das Ineinandergreifen verschiedener Kunstformen veranschaulicht und sich somit von ausschließlich textbezogenen Werkanalysen abhebt.