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Als die Lettern laufen lernten. Medienwandel
im 15. Jahrhundert

Ein Münchener Ausstellungskatalog als
»Bilder-Atlas« zur Inkunabelkunde

  • Bettina Wagner: Als die Lettern laufen lernten. Medienwandel im 15. Jahrhundert. Inkunabeln aus der Bayerischen Staatsbibliothek München. (Bayerische Staatsbibliothek München, Ausstellungskataloge 81) Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert 2009. 240 S. zahlr. farb. Abb. Gebunden. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 978-3-89500-699-9.
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Eine internationale Konferenz der Inkunabelforscher als Anlass für eine erlesene Ausstellung

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Eine öffentliche Präsentation üblicherweise dem Blick der Allgemeinheit entzogener Kostbarkeiten aus großen Bibliotheken und Sammlungen geschieht selten zweckfrei. Das Wagnis, sie – wenn auch sorgfältig geschützt – für eine gewisse Zeit nicht nur neugierigen Blicken eines breiteren Publikums, sondern auch schädlichen Umwelteinflüssen auszusetzen, bedarf als Rechtfertigungsgrund eines äußeren Anlasses: Einen solchen bot die IFLA-Pre-conference 1 zum Thema »Early printed books as material objects« in hohem Maße, die vom 19. bis 21. August 2009 in München stattfand und in der Bayerischen Staatsbibliothek eine große Anzahl namhafter Inkunabelforscher versammelte.

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Aus diesem Anlass steuerte die Bayerische Staatsbibliothek eine ganz auf das Thema der Konferenz abgestimmte Ausstellung bei, die sich anhand von 85 hochbedeutenden »Schauobjekten« ebenfalls mit den Prinzipien, Problemen und Perspektiven der »Materialität« früher gedruckter Bücher auseinandersetzte.

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Während die Ausstellung selbst in konzentrierter Dichte zentrale Dokumente für die Entwicklung des Mediums am Übergang vom handgeschriebenen Buch zur massenhaft produzierten und verbreiteten gedruckten Inkunabel präsentierte, hält der Katalog in seinen knappen, dabei immer konzisen Beschreibungen und seitengroßen Farbabbildungen die Konzeption und den wissenschaftlichen Ertrag der maßgeblich von Bettina Wagner betreuten Ausstellung über die Dauer der Präsentation hinaus fest. Ihr wird nicht allein der Einleitungstext, sondern eine große Anzahl von Exponatbeschreibungen verdankt; die übrigen besorgten die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bayerischen Staatsbibliothek sowie Falk Eisermann, der Leiter des ›Gesamtkatalogs der Wiegendrucke‹ (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz). Dass dies durchgehend in deutscher Sprache und parallel dazu in englischer Übersetzung geschieht, ist sicherlich als Tribut an die zumeist anglophonen Tagungsteilnehmer zu werten sowie als Versuch, den hochrangigen Exponaten eine internationale Resonanz zu ermöglichen.

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Schatzkammerstücke aus der exemplarreichsten Inkunabelsammlung weltweit

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Unter dem Titel »Als die Lettern laufen lernten« akzentuieren Ausstellung und Katalog ein momentan im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehendes Forschungsthema: Die Ablösung des traditionellen handgeschriebenen Buches durch den Beginn des Buchdruckes um die Mitte des 15. Jahrhunderts, ein Prozess, der insbesondere durch die Vielfalt der drucktechnischen Neuerungen zu Recht als »Medienrevolution« bezeichnet wird, in deren Folge das handgeschriebene Buch nahezu völlig verdrängt wurde. 2 Dass als Ausstellungsort die »Schatzkammer« und der »Fürstensaal« der Bayerischen Staatsbibliothek zur Verfügung standen, ist als besonderer Glücksfall zu werten, dürfte es doch nur ganz wenige Inkunabelsammlungen geben, welche die Übergangszeit vom geschriebenen zum gedruckten Buch mit gleichermaßen hochrangigen Exponaten in ihrer ganzen Bandbreite zu dokumentieren im Stande wären. Immerhin gilt sie mit »über 20.000 Inkunabeln, die etwa 9.700 Druckausgaben des 15. Jahrhunderts repräsentieren«, als die »exemplarreichste Inkunabelsammlung weltweit« (S. 6). Die Anzahl der darunter verwahrten drucktechnischen Spitzenleistungen, die bereits des öfteren Gegenstand von Ausstellungen geworden sind 3 , ist ebenso beeindruckend wie die Aussagekraft manches nur auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Druckerzeugnisses.

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Von Gutenbergs Experiment zur Massenware Buch – Phänomene des Medienwandels

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Unter der Überschrift »Vom Experiment zur Massenware – Medienwandel im fünfzehnten Jahrhundert« arbeitet Bettina Wagner in ihrer ebenso knappen wie systematischen Einleitung die kennzeichnenden Phänomene dieses ersten Medienwandels heraus, der sich in der kontinuierlich fortschreitenden, freilich nicht völligen Ablösung des handgeschriebenen durch das in beweglichen Lettern gedruckte und massenhaft verbreitete Buch manifestiert. Dieser im Wesentlichen im Zeitraum zwischen der Erfindung des Buchdrucks und der Wende zum 16. Jahrhundert, dem Jahr 1500 als willkürlich gesetztem Ende der Ära des Wiegendrucks, in vielen Einzelschritten sich vollziehende Prozess weist manche verblüffende Parallele zum gegenwärtigen, ganz ähnlich strukturierten Medienwandel auf, der sich in der sukzessiven Abkehr vom gedruckten Buch hin zu den neuen Medien vollzieht: »Euphorische[r] Fortschrittsoptimismus und konservative Untergangsvisionen« (S. 12), die selbst in den durch das neue Medium verbreiteten Werken Sebastian Brants und Johannes Trithemius’ thematisiert werden, finden ihr Pendant »in der heutigen Diskussion über die Vorteile und Gefahren des Internet, von der Begeisterung über kostenlosen open access zu wissenschaftlichen Publikationen und digitalisierten Büchern bis zur Klage über das rückläufige (Bücher-)Lesen, über Probleme der Langzeitarchivierung digitaler Medien und das drohende Verschwinden ganzer Medientypen (wie Zeitungen), ja des Buches selbst« (S. 12).

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Ohne sich eingehender mit den bereits vielfach erörterten technischen Aspekten des Druckens mit beweglichen Lettern auseinanderzusetzen 4 , kennzeichnet die Autorin im Folgenden – immer unter Verweis auf die in der Ausstellung gezeigten »Belegstücke« – die folgenreichsten Neuerungen, die mit der Erfindung des Buchdrucks in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur eingetreten sind. Einerseits nehmen gerade die aufwendigsten Druckunternehmungen der Frühzeit, allen voran die Gutenbergbibel (Kat. Nr. 14) selbst, als herausragende Repräsentationsobjekte trotz einer bereits respektablen Auflagenhöhe eine Sonderstellung gegenüber den massenhaft produzierten Drucken des täglichen Gebrauchs ein und stehen gerade durch den individuellen gemalten Buchschmuck weiterhin der zeitgenössischen Handschriftenproduktion nahe. Dem gegenüber zeichnet sich das Gebrauchsbuch durch seine weite, häufig grenzenüberschreitende Verbreitung und die Anreicherung mit hilfreichen Textzusätzen wie Frühformen des Titelblattes, Inhaltsverzeichnissen und Registern aus, während individueller Buchschmuck abgesehen von Rubrizierung und gelegentlich manuell eingefügten Zierinitialen weitestgehend fehlt. Dass solche Drucke zu vergleichsweise geringen Preisen vertrieben werden können, besorgte ein florierender, wenngleich risikobehafteter Buchmarkt, der sich am spätmittelalterlichen Warenhandel orientiert und den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgt. Die daraus resultierenden Risiken, die bei unerwarteten Absatzschwierigkeiten zum Konkurs einzelner Druckunternehmer führen können, lassen sich in manchen Fällen durch Stützungsmaßnamen der geistlichen oder weltlichen Obrigkeit minimieren, etwa indem der Bischof die neu gedruckten Liturgica zum ausschließlichen Gebrauch innerhalb seiner Diözese bestimmt und sie entsprechend mit einem eingedruckten oberhirtlichen Privileg versehen lässt (Kat. 31, 52). Daneben bieten insbesondere die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Gestalt von Einblattdrucken 5 aufkommenden neuen Medientypen – Verordnungen, Mandate, Ablassbriefe sowie weitere Informationsschriften der geistlichen und weltlichen Obrigkeit – ganz neue Möglichkeiten, nicht nur eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, sondern durch die Finanzierung dieser Auftragsdrucke die ökonomische Basis der Inkunabeldrucker abzusichern.

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Das in der Ausstellung in aussagekräftigen Exponaten präsentierte Themenspektrum stützt sich, wie nicht anders zu erwarten, auf eine Fülle von einschlägigen Überblicksdarstellungen und Detailstudien, deren Ergebnisse auf ebenso einprägsame wie konzentrierte Art und Weise im Katalog zusammengefasst und an bezeichnenden »Objekten« dem Betrachter sinnfällig vor Augen gestellt werden können. 6

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Das erste Jahrzehnt nach Gutenbergs Erfindung
in erlesenen Exponaten

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Diesen eher allgemein gehaltenen Überlegungen lässt Bettina Wagner sodann einen Überblick über die Exponate folgen. Der »Schatzkammer« zugeordnet sind naturgemäß die herausragenden Schaustücke, die überwiegend schon im ersten Jahrzehnt nach Gutenbergs Erfindung entstanden, noch ohne die weiterhin geübte Handschriften-Tradition vorerst zu gefährden. Neue, auf den Medienwandel vorausweisende Tendenzen geben sich bereits in umfangreich illustrierten Handschriften der Werkstatt Diebolt Laubers in Hagenau zu erkennen, in dessen Handschriftensortiment allenthalben Rationalisierungsbestrebungen sichtbar werden, die auch vor den in Serien produzierten Bilderfolgen nicht halt machen (Kat. 1). Freilich ist im 3. Drittel des 15. Jahrhunderts auch die Aufnahme von Kupferstichen und Holzschnitten in handgeschriebenen Büchern zu verzeichnen, die sowohl eingeklebt als auch auf freigehaltenen Blättern oder Seiten eingedruckt beziehungsweise in die vorab handgeschriebene Textspalte gezielt eingepasst werden können (Kat. 4). Den umgekehrten Weg geht ein Ulmer Zeichner, der gegen Ende des Jahrhunderts die berühmten Holzschnitte aus Thomas Lirers Schwäbischer Chronik aus einem offenbar kolorierten Druck in farbigen Federzeichnungen weitgehend identisch kopiert (beide Exemplare zusammen in Kat. 5).

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Die Anfänge der Bildausstattung durch Holzschnitte illustrieren neben einem typographischen Pfister-Druck u. a. Beispiele aus Blockbüchern, während als Höhepunkte einer umfassenden Holzschnittillustration Bernhard von Breydenbachs »Peregrinatio in terram sanctam«, die Schedelsche Weltchronik und Francesco Colonnas »Hypnerotomachia Poliphili« aus dem Besitz Albrecht Dürers vorgeführt werden können (Kat. 10–12).

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Als »Liber Eximiae Raritatis et inter Cimelia Bibliothecae asservandus« bezeichnet schon der Historiker Andreas Felix von Oefele (1706–1780) Gutenbergs zwischen dem 6. und 24. Dezember 1454 gedruckten Türkenkalender, »das älteste, unikal und zudem vollständig erhaltene Werk, das in deutscher Sprache mit beweglichen Lettern gedruckt wurde« (S. 50). Mit diesem Druck beginnt eine weitere Exponatgruppe, die Gutenbergs ingeniöse Leistungen auf dem Feld der Druckkunst und jene seiner Mitarbeiter und Nachfolger in Mainz ebenso wie die unmittelbare Ausstrahlung der Erfindungen Gutenbergs auf andere Offizinen in den Mittelpunkt des Interesses rückt (Kat. 13–18). Hier belegen nicht nur Gutenbergs 42-zeilige Bibel in einem illuminierten Exemplar in zwei Bänden samt einer aus deren Einband abgelösten »Tabula rubricarum« (Kat. 59) sowie das im Hinblick auf seine drucktechnisch innovative Satz- und Gusstechnik (S. 60) besonders bedeutende »Catholicon« des Johannes Balbus, ein Pergamentexemplar, das den ersten von drei Druckzuständen wiedergibt, die Ausnahmestellung der Münchener Inkunabelsammlung. Ebenso tun dies ein in Gutenbergs ›Urtype‹ gedrucktes Donatfragment und Fust & Schöffers »Psalterium Benedictinum« mit zweifarbigen gedruckten Metallschnitt-Initialen, welche die traditionellen, vom Miniator oder Rubrikator manuell eingefügten Fleuronnée-Initialen bewusst imitieren. Zur Objektgruppe gesellt sich die besonders seltene 36zeilige Bibel, die um 1459–60 in Albrecht Pfisters Bamberger Offizin mit einer veränderten Form der Donat-Kalender-Type gedruckt wurde (Kat. 16). An weiteren in Mainz von Fust & Schöffer bzw. von Schöffer allein besorgten Editionen werden Formen der Ausstattung der Inkunabeln mit manuell hinzugefügten Malereien (Vollbilder, Initialen, Rankenwerk, Federzeichnungen und gemalte Druckersignete) (Kat. 22), das erste Kolophon mit der Druckermarke von Fust & Schöffer (Kat. 53) sowie besondere Korrekturverfahren, etwa die Existenz von Probeabzügen zur internen Verwendung in der Mainzer Druckerei (Kat. 38), thematisiert.

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Innerhalb der Ausstellung schließen sich Exponate an, die Besonderheiten des mehrfarbigen bzw. des äußerst seltenen Golddrucks vor Augen führen und insbesondere auf alle Facetten des manuell ausgeführten Miniaturenschmucks in Inkunabeln aufmerksam machen – ein Forschungsgebiet, das trotz mancher vielversprechender Ansätze noch immer viel zu wenig beachtet wird. Es wäre gewiss ein dankbares Unterfangen, neben den an lokale oder auch ortsfremde Miniatoren oder Illuministen vergebenen Aufträgen auch die ganz oder teilweise auf die Inkunabel-Illuminierung spezialisierten Meister und die mit einzelnen Druckwerkstätten assoziierten Maler einer näheren Prüfung zu unterziehen, um auf diese Weise trennschärfer auf die Besonderheiten etwa einer Mainzer, Nürnberger, Augsburger oder Würzburger Inkunabel-Illuminierung eingehen zu können. Als Ausgangspunkt dafür könnten einerseits vom Maler selbst signierte Werke (Kat. 21), der Vergleich mit gesicherten Erzeugnissen der Buchmalerei in Handschriften oder aber die vergleichende Untersuchung aller mit Malereien ausgestatteten Exemplare eines einzelnen Druckwerkes dienen. 7 Untersuchungsergebnisse, die für die Ausstattung der Gutenberg-Bibel bereits vorliegen, ließen sich u. U. deutlich abheben von solchen, die die höchst unterschiedlichen Ausstattungsgrade von einfach rubrizierten Exemplaren der neunten deutschen Bibel Anton Kobergers (Kat. 24) über viele Zwischenstufen bis hin zum sog. Luxuskolorit mit punzierten Goldgründen und üppigen Rankenrahmungen reichen können, die das wohl in Augsburg illuminierte Münchener Exemplar vertritt. 8

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Dem Komplex der Inkunabelillustration sind weitere Exponate zuzuordnen. So wird nicht nur gezeigt, dass aus ausländischen Offizinen importierte Inkunabeln erst in Deutschland, und zwar im Auftrag ihres Erstbesitzers, durchaus individuell illuminiert, mit dem Wappen des Auftraggebers versehen und nach seinen speziellen Wünschen gebunden werden konnten (Kat. 25). Andere illuminierte Drucke, besonders häufig glossierte Rechtstexte wie etwa das Decretum Gratiani, folgen im Layout wie in der Gestaltung der malerischen Ausstattung dem Vorbild illuminierter Handschriften, die auch die Textgrundlage zu den Drucken bildeten (Kat. 26, 34, 35).

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Daneben warten Ausstellung und Katalog naturgemäß mit zahlreichen mit Metallschnitt-, Kupferstich- und Holzschnitt-Illustrationen versehenen Drucken auf. Während letztere bereits seit den ersten illustrierten Drucken der Bamberger Pfister-Werkstätte belegt sind und in den folgenden Jahrzehnten die Inkunabelausstattung ganz wesentlich prägten, bleiben Metallschnitte und insbesondere der Kupferstich Ausnahmeerscheinungen, zumal dort verschiedene Druckverfahren miteinander kombiniert werden mussten. Auffallend ist immerhin, dass im gleichen Jahr 1481 sowohl in Florenz als auch – völlig unabhängig – in Würzburg mit dem Kupferstich experimentiert wurde. Während freilich die Mehrzahl der einem Florentiner Druck von Dantes »Commedia« mit dem Kommentar von Christopherus Landinus (Kat. 30) beigefügten Kupferstiche lediglich eingeklebt, nur wenige eingedruckt wurden, sind Georg Reysers erstmals 1479 belegte Versuche, Kupferstiche des Monogrammisten AG und anderer Stecher seines Umkreises den für die Bistümer Würzburg und Eichstätt bestimmten liturgischen Drucke einzudrucken, wohl erfolgreicher gewesen, ersetzt Georg Reyser selbst doch erst ab 1493 die gestochenen Wappen- und Kanonbilder durch entsprechende Holzschnitte (Kat. 31). Vielleicht wäre unter diesem Gesichtspunkt die Frage neu zu stellen, inwieweit Georg Reyser das Verdienst zukommt, als erster Hoch- und Tiefdruckverfahren gemeinsam in einem Druckwerk angewandt zu haben. Auch die Pionierleistungen Georg Reysers auf dem Gebiet des zweifarbigen Notendruckes wäre in diesem Zusammenhang neu zu beurteilen. Die Münchener Ausstellung lässt diese Chance freilich weitgehend ungenutzt.

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Beharren und verändern: Buchherstellung,
Vertrieb und Rezeption im Umbruch

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Selbst wenn die meisten der Spitzenwerke des frühen Buchdrucks bereits im ersten Teil der Ausstellung untergebracht waren, gestaltet sich der Übergang zum zweiten Teil durchaus organisch und konsequent. Auch hier, im »Fürstensaal«, vertreten jeweils herausragende Exponate die einzelnen Stationen innerhalb der Produktionsverläufe einer Werkstätte. Vom Lob des Schreibens mit der Hand spricht Johannes Trithemius in »De laude scriptorum manualium«, der auch dieses Werk – wie viele seiner übrigen Schriften – dem Drucker anvertraute. Doch wendet sich Trithemius’ Kritik nicht so sehr gegen das neue Medium; seine Skepsis gilt eher den damit verbundenen Problemen einer dauerhaften Bewahrung auf Papier gedruckten Schriftguts, was Bettina Wagner zu Recht als frühe Überlegung zu einer geeigneten Form der »Langzeitarchivierung« wertet (Kat. 32).

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Die einzelnen Etappen der Buchherstellung – vom Manuskript über die Wahl der geeigneten Drucktype, Satz, Rubrizierung, Korrekturverfahren einschließlich der Beseitigung von Fehlern im stehenden Satz, Texteingriffe, Werbung, Verbreitung und Abrechnung zwischen Drucker und Buchhändler – gewähren vertiefte Einschnitte in Tradition und Neuerungen bei den Herstellungs- und Vertriebsgewohnheiten in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, die sich häufig nicht grundlegend von heutigen Verfahrensweisen unterscheiden. Umfangreich dargestellt wird sodann die Nutzung fremder, selbst exotischer Alphabete, deren Buchstaben als Holzschnitte oder in beweglichen Lettern gebildet sein können wie etwa die fiktiven Fremdsprachenalphabete in einer deutschen Ausgabe von Jean de Mandevilles »Voyages« aus dem Jahr 1499 (Kat. 46).

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Überblickt man die vergleichsweise eingeschränkte Anzahl von Exponaten, wird man verblüfft sein zu sehen, dass augenscheinlich kaum einer der wesentlichen Aspekte des Inkunabeldrucks ausgeschlossen bleibt, wie schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis von Ferdinand Geldners »Inkunabelkunde« beweist. 9 Die Frage der sukzessiven Herausbildung und Weiterentwicklung eines Titelblatts (Kat. 55–58) findet dabei ebenso Beachtung wie alle Eigentümlichkeiten und Aufgaben des Einblattdruckes (Kat. 63–80). Der Rezensent vermisst lediglich nähere Ausführungen zu den verschiedenen Verfahren des Notendrucks sowie zum Bucheinband, dessen Herstellung bekanntermaßen sowohl in der Hand des Käufers wie auch in der des Verlegers bzw. Buchhändlers liegen konnte. Auch zu diesen Themenbereichen hätten die Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek höchst aussagekräftige Exponate beisteuern können. 10

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Fazit

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Naturgemäß kann eine so konzipierte Ausstellung, die noch dazu nahezu vollständig auf Leihgaben verzichtet, keine grundsätzlich neuen Einsichten über die Produktion des gedruckten Buches eröffnen. Ihre besondere Stärke liegt vielmehr darin, das Thema des medialen Wandels im 15. Jahrhundert anschaulich und konzentriert darzustellen und seine bis in die Gegenwart reichende Relevanz aufzuzeigen. Der große Gewinn des alle Exponate in mindestens einer seitengroßen, vorzüglichen Farbabbildung wiedergebenden Katalogs liegt darin, das neue Medium des gedruckten Buches mitsamt seinen Vorläufern und seinen Derivaten in alle denkbaren Facetten zu beleuchten. Jede weitere Beschäftigung mit dem Thema wie mit dem einzelnen Ausstellungsobjekt wird durch reiche, sorgfältig ausgewählte Literaturangaben, ein zweisprachiges Glossar (S. 212–219), eine sehr umfangreiche Auswahl-Bibliographie mit über 400 Titeln (S. 220–232), Namens-, Signaturenregister und Konkordanzen erleichtert. Die häufig großformatigen, manchmal dem Originalformat der Blätter angenäherten Farbtafeln wie die in die Einleitung und bisweilen in die Katalogtexte eingefügten Detail- und Vergleichsabbildungen verleihen dem Katalog gleichsam den Status eines umfassend informierenden »Bilder-Atlas« zur Inkunabelkunde. Bis zum Erscheinen des angekündigten Abbildungsbandes zum Inkunabelkatalog der Bayerischen Staatsbibliothek 11 , dessen fünf Katalog- und bislang zwei Registerbände ebenfalls im Dr. Ludwig Reichert Verlag in Wiesbaden erschienen sind, kann der besprochene Ausstellungskatalog als umfangreichster derzeit verfügbarer Bilderfundus zum Inkunabelbestand der Bayerischen Staatsbibliothek und als zuverlässiges, anregendes Arbeitsinstrument auch für den Inkunabelforscher dienen. Deshalb sollte er nicht für jenen »Büchernarren« bestimmt sein, der – wie Sebastian Brant in seinem »Narrenschiff« (Kat. 85) satirisch schildert und abbilden lässt –»überzeugt davon, gelehrt zu sein […], zwar die Bücherstapel auf seinem Lesepult mit einem Wedel vor lästigen Fliegen« schützt; »er studiert sie jedoch nicht und lässt sich somit auch nicht belehren« (S. 211).

 
 

Anmerkungen

Die »International Federation of Library Association« (IFLA) ist der internationale Dachverband der Bibliotheksverbände. Die in München stattfindende Vorkonferenz zur Jahrestagung in Mailand wurde von der IFLA-Sektion »Rare Books and Manuscripts« (RBMS) vorbereitet, deren Vorsitz Dr. Bettina Wagner (Staatsbibliothek München), die Autorin des Katalogs, von 2008–2009 innehatte. Vgl. http://archive.ifla.org/VII/s18/ (letzter Zugriff am 09.05.2010).   zurück
Mit dieser Thematik beschäftigt sich, allerdings bei geringfügig abweichender Fragestellung und zeitlicher Ausweitung in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, neben zahlreichen ähnlichen Veröffentlichungen besonders auch Tilo Brandis: Die Handschrift zwischen Mittelalter und Neuzeit. Versuch einer Typologie. In: Gutenberg-Jahrbuch 72 (1997), S. 27–57, sowie der Sammelband: Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck. Hg. von Gerhard Dicke und Klaus Grubmüller. (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 16) Wiesbaden 2003.   zurück
Zu nennen wäre insbesondere die erste große Münchener Inkunabelausstellung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Inkunabeln. Das erste Jahrhundert des deutschen Buch- und Bilddrucks. Ausstellung der Staatlichen Graphischen Sammlung und der Bayerischen Staatsbibliothek München. September-Oktober 1957.   zurück
Vgl. dazu u. a. den Katalog der Mainzer Ausstellung: Gutenberg – aventur und kunst. Vom Geheimunternehmen zur ersten Medienrevolution. Hg. von der Stadt Mainz anlässlich des 600. Geburtstages von Johannes Gutenberg. Mainz 2000.   zurück
Zur inhaltlichen Zusammensetzung der Einblattdrucke vgl. besonders Falk Eisermann: Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – VE 15. 3 Bde. Wiesbaden 2004. Einzelne Fallbeispiele beleuchten z. B. Enno Bünz: Die Druckkunst im Dienste der kirchlichen Verwaltung: ein Würzburger Dispensformular von 1487. In: Karl Borchardt / Enno Bünz (Hg.): Forschungen zur bayerischen und fränkischen Geschichte (QFW LII). Würzburg 1998, S. 227–247; Enno Bünz: Die Kirche im Dorf lassen… Formen der Kommunikation im spätmittelalterlichen Niederkirchenwesen. In: Karl Rösener (Hg.): Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne. Göttingen 2000, S. 77–167.   zurück
Dem Thema des Katalogs widmet sich ein ähnlich konzipierter Sammelband: Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert. Hg. vom Vorstand der Maximilian-Gesellschaft und Barbara Tiemann. 1. und 2. Halbbd. Hamburg 1995, 1999.   zurück
So lässt sich etwa aus der Untersuchung von Georg Reysers Psalterium mit dem Kommentar des Bischofs Bruno (HC 4011) ein Würzburger Maler fassbar machen, der – offensichtlich im Auftrag des Druckers – eine beträchtliche Anzahl aller vorhandenen Exemplare mit einer illuminierten Beatus-Initiale mitsamt einer blütenbesetzten Rankenklammer sowie mit zweifarbig ausgeführten Filigraninitialen zu den Teilungspunkten des Psalters versah und dabei deutlich zwischen Luxuskolorit (vor allem bei Pergamentexemplaren) und einfacheren Ausstattungsgraden (bei Papierexemplaren) unterschied. – Zum sog. Reyser-Maler, der auch maßgeblich an der Ausstattung der verschiedenen Ausgaben des Breviarium Herbipolense und des Missale Herbipolense mitwirkte, vgl. Helmut Engelhart: Georg Reyser zum 500. Todestag. In: Mainfränkisches Jahrbuch 56 (2004), S. 130–161.   zurück
Neue Überlegungen bietet Randall Herz: Buchmalerei in der Offizin Anton Kobergers (ca. 1472–1504). In: Ulrich Grossmann (Hg.): Dürer-Forschungen 2. Nürnberg 2009, S. 39–64.   zurück
Ferdinand Geldner: Inkunabelkunde. Eine Einführung in die Welt des frühesten Buchdrucks. (Elemente des Buch- und Bibliothekswesens 5) Wiesbaden 1978.   zurück
10 
Zu Originaleinbänden an Inkunabeln vgl. Bettina Wagner (Hg.): Außen-Ansichten. Bucheinbände aus 1000 Jahren aus den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek München. Ausstellung anlässlich der Tagung des Arbeitskreises Einbandforschung 28. August – 15. Dezember 2006. Wiesbaden 2006.   zurück
11 
Bayerische Staatsbibliothek: Inkunabelkatalog (BSB-Ink). Redaktion: Elmar Hertrich, Günter Mayer und Bettina Wagner. 7 Bde. Wiesbaden 1988–2009. Vgl. http://www.bsb-muenchen.de/Inkunabelkatalog-BSB-Ink.181.0.html (letzter Zugriff am 09.05.2010).   zurück