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Chancen der Kriminalitätsgeschichtsschreibung

  • Rebekka Habermas / Gerd Schwerhoff (Hg.): Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte. Frankfurt u. New York: Campus 2009. 441 S. 32 s/w, 2 Tab. Abb. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-593-38932-5.
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Mit dem vorliegenden Sammelband liegen die Ergebnisse einer Tagung in gedruckter Form vor, zu der Rebekka Habermas und Gerd Schwerhoff im Jahr 2006 nach Göttingen eingeladen hatten. 1 Das Ziel der Veranstaltung war in dreifacher Hinsicht ambitioniert: Erstens ging es darum, einen strukturierten Überblick über die sich besonders im letzten Jahrzehnt deutlich ausdifferenzierenden Forschungen zur Kriminalitätsgeschichte zu geben. Zweitens sollte versucht werden, diesem vergleichsweise innovativen Forschungsfeld neue Perspektiven aufzuzeigen. Drittens schließlich war angestrebt, zum Abbau von »Berührungsängsten« und disziplinären wie interdisziplinären Schranken zwischen Kriminalitätshistorikern der Frühen Neuzeit und der Moderne beizutragen.

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Das Buch ist in fünf Abschnitte gegliedert. Ein erster Teil, »Perspektiven« betitelt, umfasst zwei Beiträge, die – ausgehend von einer Synthese des Forschungsstandes – eigene theoretisch ambitionierte Vorschläge zur Weiterentwicklung der Kriminalitätsgeschichte machen. In den folgenden vier Abschnitten dominiert dagegen die Empirie. Historiker und Literaturwissenschaftler, ganz überwiegend aus dem deutschsprachigen Raum, widmen sich hier einzelnen Aspekten der Kriminalitätsgeschichte, indem sie eigene Arbeiten nicht nur exemplarisch vorstellen, sondern diese auch konkret im Forschungsfeld verorten.

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Wo steht die Kriminalitätsgeschichte?

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Wo also steht die Kriminalitätsgeschichte? Für Rebekka Habermas und Achim Landwehr, die Autoren der beiden Beiträge im ersten Abschnitt, befindet sie sich in einer Phase des Übergangs. Einerseits thematisch-methodisch konsolidiert und auch institutionell verankert, zeichne sich doch ab, dass »neue Bilder von der Geschichte des Rechts und der Kriminellen«, so die Formulierung von Habermas, beschrieben werden müssten. Sie plädiert mit Nachdruck dafür, zeitgenössische Kategorien und Perspektiven nicht unhinterfragt zum Ausgangspunkt der eigenen historischen Analyse zu machen, sondern nach den »silent referents«, den impliziten Referenzannahmen, zu suchen. Gerade Arbeiten zum 19. Jahrhundert seien meist zu stark in der Vorstellungswelt der historischen Akteure gefangen, mit der Folge, dass deren Annahmen eher reproduziert als hinterfragt würden. Im Ergebnis werde dann die inzwischen fest verwurzelte Annahme, zwischen frühneuzeitlicher und moderner Straf- und Rechtspolitik bestünde ein fundamentaler Unterschied, immer wieder von neuem bestätigt, obgleich doch bei genauerem Hinsehen zahlreiche Ähnlichkeiten zu entdecken seien.

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Auch Achim Landwehr macht sich für das Aufspüren von Ähnlichkeiten stark, allerdings im Umgang mit »Diskursen« und »Praktiken«. Es handele sich keinesfalls um sich gegenseitig ausschließende Konzepte, sondern um untrennbar miteinander verwobene Aspekte. Für die historische Kriminalitätsforschung bedeute dies, dass sie vor allem »Prozesse und Relationierungen« in den Blick nehmen solle. Der Standpunkt des Kriminalitätshistorikers wäre dann gewissermaßen der eines Beobachters zweiter Ordnung: Indem er nun seinen Blick auf die »Kulturtechniken« lenkt (verstanden als ein Begriff, der die materielle Seite des Rechts ebenso einschließen soll wie deren sozialen »Vollzug«), werde es ihm möglich, die diskursive wie performative Konstruktion der von historischen Akteuren bevölkerten und rechtlich verfassten Räume zu beschreiben. Zugleich würde, da die Relationalität immer mitbedacht sei, der Weg auch frei für die Erkenntnis von Einzelphänomen, ohne dass man sich in die Falle eines erkenntnistheoretisch naiven Wahrheitsanspruchs verirren würde.

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Epochenschwelle(n)

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Der zweite Abschnitt des Buches lautet »Kriminalität und Strafrecht in der Sattelzeit um 1800«. Eine Auseinandersetzung mit dieser maßgeblich von Reinhart Koselleck geprägten Zäsur bildet denn auch den gemeinsamen Bezugspunkt von vier ansonsten recht heterogenen Beiträgen. Dabei ist interessant, dass die Autoren in dieser Hinsicht durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen: Joachim Eibach (in einer breit angelegten Skizze zur »Geschichte der [physischen] Gewalt«) sowie Falk Bretschneider (der Veränderungen im Strafvollzug am Beispiel Sachsens untersucht) verneinen mit Blick auf die Kriminalitätsgeschichte die Annahme eines grundlegenden Wandels in der Zeit zwischen dem späten 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Anderer Auffassung sind Karl Härter und Peter Wettmann-Jungblut, die die Entwicklungen im Strafrecht (Härter) beziehungsweise der Strafpraxis (Wettmann-Jungblut, anhand von Fällen in Baden im 18. Jahrhundert) analysieren. Beide halten letztlich an einem grundlegenden Wandel zwischen 1800 und 1850 fest. Es steht zu vermuten, dass diese unterschiedliche Wahrnehmung nicht zuletzt von den unterschiedlichen disziplinären Hintergründen der Autoren geprägt ist.

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Mediale Zugänge und die Rolle der Öffentlichkeit

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Die folgenden beiden Abschnitte weiten den Blick insofern, als nun verschiedene Akteure und ihre Medien in den Blick geraten. Für die Zeit ab 1850 scheint Kriminalität zunehmend als großstädtisches Phänomen zu interessieren. Das hängt sicherlich mit Phänomenen wie der raschen Urbanisierung in der westlichen Welt zusammen, doch scheinen auch die Massenmedien selbst (im Band werden Zeitungen und Literatur, leider nicht jedoch Theaterstücke und Filme analysiert) ihren Teil zu diesem veränderten Blickwinkel beizutragen, sowohl der Zeitgenossen wie der Historiker. Mit den Beiträgen von Philipp Müller und Ben C. Hett ist der Fall des wilhelminischen und Weimarer Berlin gut untersucht, jedoch steht die Hauptstadt vielleicht zu stark im (nationalen) Fokus, gemessen an der staatlichen wie politischen Vielfalt um 1900. Wie Gewalt in der Moderne in ländlichen und kleinstädtischen Räumen – die doch für viele Untersuchungen der Frühen Neuzeit so zentral waren – hervorgerufen, ausgeübt, beurteilt und sanktioniert wurde, bleibt in diesem Buch hingegen terra incognita.

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Schriftliche und visuelle Inszenierungen von Kriminalität

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Schließlich geht es gewissermaßen an die Wurzeln der Disziplin, zur Literatur. Sie konnte ihrerseits auf Formen der Kriminalitätsdarstellung aufbauen, wie sie schon die Flugschriften des 16. und 17. Jahrhunderts popularisiert hatten. Diesen Geschichten, das zeigt der Beitrag von Gerd Schwerhoff anschaulich, kam in vielen Fällen auch eine soziale wie juristische Bedeutung zu, ja sie blieben bis zum Aufkommen der Kriminalstatistik im 19. Jahrhundert weitgehend alternativlos. Zugleich bestimmten lokale Öffentlichkeiten lange die Wahrnehmung und Deutung von Kriminalität, bis die Massenmedien eine zunächst ergänzende und spätestens im 20. Jahrhundert dann hegemoniale Stellung erlangten.

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Dass umgekehrt Kriminalberichte schon damals Bestanteile dessen enthielten, was heute gemeinhin als »Sensationalismus« gelabelt wird, arbeitet neben Schwerhoff auch Joy Wiltenburg überzeugend heraus. Ihr Beitrag, der drei Fällen häuslicher Gewalt mit Todesfolge aus dem 16. Jahrhundert näher nachgeht, deutet an, wie eng die Inszenierung von Kriminalität immer auch mit Emotionen verbunden ist. Ob diese Emotionen Teil der kriminellen Gewalt selber sind oder erst durch Zuschreibung entstehen, bliebe – gerade mit Blick auf die Gegenwart – zu diskutieren.

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Es folgen zwei Aufsätze der Literaturwissenschaftler Holger Dainat und Thomas Weitin, die zeitlich unmittelbar anschließen. Interessanterweise beschäftigen sich beide (auch) mit Friedrich Schiller, sie nehmen jedoch verschiedene Aspekte in den Blick: Weitin arbeitet am Beispiel von Schillers berühmten Vortrag »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?« aus dem Jahr 1784 heraus, wie dieser dem Theater der Aufklärung auch »kriminalitätspräventive« Aufgaben zuwies und mit dieser »Gerichtsbarkeit der Bühne« im Umkehrschluss ein Theater legitimierte, das Unzulänglichkeiten im Rechtswesen der Zeit scharf zur Sprache brachte. Dainat fragt – den eher theoretischen Überlegungen Landwehrs indirekt ein empirisches Beispiel liefernd – nach den kommunikativen Rahmenbedingungen, unter denen sich im 18. und frühen 19. Jahrhundert die Kriminalliteratur herausbildete. Das Gros der frühen Kriminalerzählungen, so führt er aus, stammte von hochgebildeten Autoren, die den sich herausbildenden »bürgerlichen« Buchmarkt nicht nur mit Unterhaltung, sondern auch Belehrung versorgen wollten. Nicht der strahlenden Held, sondern zunächst gemischte Charaktere und wenig später auch gewöhnliche oder gar »böse« Menschen zogen nun, da die »Inklusion der Bevölkerung« (Dainat) auf der Agenda stand, die Aufmerksamkeit auf sich. Wie solche Menschen handelten und dachten, das konnte, wie Schiller als einer der ersten erkannte, auch explizit nirgends besser erzählt werden als in einer vom juristischen Ermittlungsverfahren mit Material ausgestatteten, literarisch gestalteten Fallgeschichte.

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Wechselwirkungen

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Die Literatur wirkte im Umkehrschluss aber auch auf die ursprünglichen Rechtsdiskurse; Reformideen und Kritik, die ansonsten leicht der Zensur zum Opfer gefallen wären, konnten so zur Sprache gebracht werden. Schwer zu fassen ist hingegen die mittel- bis langfristige Wirkung, die solche Geschichten über die Intention ihrer Verfasser hinaus zeitigten. Dainat verweist hier etwa auf die narrative Struktur der Erzählungen, die die Biographie des Täters in den Vordergrund rückten, während seine Bestrafung – zentral für die »Schafottdiskurse« früherer Jahrhunderte – in den Hintergrund trat.

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Den Sammelband runden zwei Beiträge ab, die den Evidenzen und gleichzeitig Grenzen des Visuellen in besonderer Weise verpflichtet sind: Miloš Vec informiert in einem wissenschaftsgeschichtlich kenntnisreichen Aufsatz über Aufstieg und Fall von »Kriminologie und Kriminalistik als semiotische Disziplinen«, während Susanne Regener das photographische Bild des Verdächtigen und die Strategien der damit verbundenen Visualisierung in den Fokus nimmt und damit einen kultur- und medienwissenschaftlichen Beitrag zur Geschichte der Konstruktion »des Kriminellen« leistet.

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Theoriedefizit der »modernen« Kriminalitätsgeschichtsschreibung?

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Die Herausgeber schreiben eingangs, die Kriminalitätsgeschichte sei als eine Art »Laboratorium für weiterführende Fragestellungen« anzusehen, in der die »großen Fragen« der neueren Geschichtswissenschaft – um im Bild zu bleiben – ausprobiert würden (vgl. S. 10). Diese Aufgabe, so heißt es an anderer Stelle etwas polemisch, hätten die Forschungen zur Frühen Neuzeit bislang weit besser erfüllt als die zum 19. Jahrhundert und erst Recht die wenigen zum 20. Jahrhundert – wobei letztere im Buch allerdings kaum thematisiert werden. Unabhängig von der Frage, ob dieser Befund heute noch Gültigkeit beanspruchen kann oder ob er nicht auch Ausdruck eines spezifischen Blickwinkels ist, wirft der vorliegende Band die Frage auf, ob auch die erstgenannte Grundannahme zutrifft. So ist zwar unbestritten, dass die historische Kriminalitätsforschung einen gewichtigen Anteil an der inzwischen schon fast wieder zur Floskel verkommenen »performativen Wende« der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft seit den 1990er Jahren hat, jedoch scheint fraglich, ob die Ausdifferenzierung der Forschung momentan auch zu einem größeren Innovationspotential und einer größeren Theoriegeleitetheit – mit Blick auf andere historische Subdisziplinen und die allgemeine Geschichtswissenschaft – führt.

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Fazit

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Mit Verbrechen im Blick liegt ein Buch vor, das paradigmatisch die Vor- und Nachteile eines epochenübergreifend angelegten Tagungssammelbandes deutlich vor Augen führt. So wird dem Leser auf über 400 Seiten ein breites Panorama an Themen und Fragestellungen, durchgängig auf hohem argumentativen Niveau, ausgebreitet. Dem an der Kriminalitätsgeschichte interessierten Neueinsteiger bietet der Band in konzentrierter Form Hinweise auf Forschungsfelder und aktuelle Debatten, und auch erfahrene Kriminalitätshistoriker dürften manche Anregung finden. Allerdings stehen die einzelnen Beiträge recht unverbunden nebeneinander. So überzeugend sie als Fallstudien wirken, bei zusammenhängender Lektüre verfestigt sich der Eindruck, dass die Gräben zwischen Disziplinen und Epochen vielleicht doch tiefer sind als erhofft. Das von Habermas und Schwerhoff herausgegebene Buch ist daher kenntnisreiche Bestandsaufnahme eines Zustandes wie zugleich der engagierte Versuch, diesen zu überwinden.

 
 

Anmerkungen

Das Inhaltsverzeichnis des Bandes ist über den Datensatz der DNB (Permalink: http://d-nb.info/992153883) als PDF zugänglich (URL: http://d-nb.info/992153883/04, letzte Zugriffe: 13.08.2010, JL).   zurück