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Ist der „Einzige“ tatsächlich überall?

Neues von und über Max Stirners
Der Einzige und sein Eigentum

  • Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Ausführlich kommentierte Studienausgabe. Herausgegeben von Bernd Kast. Freiburg im Breisgau: Karl Alber 2009. 452 S. EUR (D) 49,00.
    ISBN: 978-3-495-48342-8.
  • Alexander Stulpe: Gesichter des Einzigen. Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität. (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 158) Berlin: Duncker & Humblot 2010. 980 S. Gebunden. EUR (D) 128,00.
    ISBN: 978-3-428-12885-3.
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In relativ kurzem Abstand sind zwei Beiträge zu Leben und Werk Max Stirners erschienen, die dazu geeignet sind, der Stirner-Diskussion (die sich, in Deutschland jedenfalls, wesentlich im außerakademischen Bereich abspielt) neue Impulse zu geben. Da wäre zum einen eine neue Edition des Stirnerschen Hauptwerkes Der Einzige und sein Eigentum durch Bernd Kast, zum anderen eine monumentale Monographie des Politikwissenschaftlers Alexander Stulpe, die neue Aufschlüsse über die Wirkungsgeschichte von Stirners Hauptwerk verspricht. 1

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Der Einzige

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Max Stirners einziges Buch Der Einzige und sein Eigentum 2 hat in der Philosophiegeschichte einen auf doppelte Art und Weise einzigartigen Status erlangt: Es ist erstens wesentlich außerakademisch rezipiert worden und zum Zweiten haben alle wichtigen Autoren ihre Lektürespuren fast schon systematisch verwischt bzw. Stirner, wenn sie ihn erwähnen, in Grund und Boden verdammt. Bei Carl Schmitt etwa kommt beides zusammen: Einerseits bekennt er sich emphatisch zum »armen Max« und zählt sein Werk zu den heute noch tätigen »Uran-Bergwerken der Geistesgeschichte«, andererseits ist Stirner für ihn ein »verkommener Studiker, ein Knote, ein Ich-Verrückter, offenbar ein schwerer Psychopath«. 3

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Eine solche Rezeption ist natürlich im klassisch akademischen Sinne nur schwer nachzuzeichnen, weil vielfach einfach Primärquellen fehlen. Ihre Stichhaltigkeit im Fall Stirner drängt sich dem unbefangenen Leser nach der Lektüre von Bernd Laskas Schriften aber geradezu auf 4 . Dass Bernd Kast die Arbeiten Laskas weitgehend ignoriert, ist das große Manko seiner Ausgabe. Einer der wenigen Autoren, die zumindest zeitweise dem akademischen Bereich angehörten und sich zu Stirner bekannten, war Rudolf Steiner in seiner »individual-anarchistischen« Phase, und man kann den Einzigen mit Fug und Recht als eine der Quellenschriften der anthroposophischen Pädagogik lesen (doch dazu weiter unten mehr). Das ist nur folgerichtig, denn wie kein anderes Werk der Philosophiegeschichte überschreitet der Einzige tatsächlich die Grenze zwischen Theorie und Praxis, lässt sozusagen »die Katze aus dem Sack«, wie Adorno es formuliert haben soll. 5 Phylogenetisch weit ausholend und, dazu parallel geführt, auch ontogenetisch entwirft Stirner in der Ich-Form und in immer wieder rhapsodischen Wendungen, die philosophische Diktion dabei weit hinter sich lassend, das Ideal eines wahrhaft freien Menschen, der, darin Nietzsche vorwegnehmend, ›jenseits von Gut und Böse‹ lebt: »Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die ›gute Sache‹ sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn« (EE 15). In den Ausführungen zur sozialen Verankerung seines Einzigen in einem »Verein« liefert Stirner nicht nur eine Pädagogik, sondern auch, scheinbar nebenbei, einen Abriss der Nationalökonomie in nuce (vgl. dazu etwa EE 314 ff.). Wohl nicht von ungefähr galt Stirners Übersetzung von Adam Smiths The Wealth of Nations lange Zeit als unübertroffen.

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Die erste Ausgabe des Einzigen erschien Anfang 1845. Das Buch wurde sogleich verboten, das Verbot allerdings nach kurzer Zeit wieder aufgehoben. Exemplare der ersten Auflage waren noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts regulär zu kaufen. Der überwältigende buchhändlerische Erfolg, den das Buch bis heute verbuchen kann und der es durchaus nahelegt, vom Einzigen als von einem »heimlichen Bestseller« (Laska) zu sprechen, ist eng mit dem Hause Reclam verbunden. 1894 erschien die erste Auflage mit einem wenig erhellenden Vorwort von Paul Lauterbach. Diese Ausgabe wurde bis in die 20er Jahre immer wieder nachgedruckt. Die zweite und durchaus immer noch anhaltende Stirner Renaissance nahm ihren Beginn 1972, als der Text erneut bei Reclam erschien. 1981 wurde er nochmals »durchgesehen und verbessert« und ist bis heute im Buchhandel präsent. 6 Eine besondere Kuriosität dieser Ausgabe bildet das marxistisch geprägte Nachwort des Soziologen Ahlrich Meyer, der sich auf 40 Seiten und mit einer Vielzahl von Zitaten aus Marx und Engels nicht genug darin tun kann, Stirner und sein Werk herabzusetzen. So raunt Meyer etwa im Vorwort zur Neuauflage 1981, dass »wir mit Stirner noch nicht fertig sind« und dass »Stirner nur ein Beispiel für das Versagen einer ganzen Generation der Intelligentsia« sei. 7

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Was bringt nun Kasts neue »ausführlich kommentierte Studienausgabe«? Was den Text angeht, so stützt sich der Herausgeber auf die Erstausgabe von 1845, die glücklicherweise sehr sorgfältig hergestellt wurde und kaum Druckfehler aufweist. Wieweit diese Ausgabe vom Manuskript Stirners abweicht, kann nicht mehr ermittelt werden, da kein Manuskript erhalten ist (wie übrigens der ganze Nachlass Stirners verschollen ist). Stirners Fußnoten ergänzt der Herausgeber und fügt eigene hinzu, die sich aber in der Regel auf Sacherklärungen, das Erhellen von Anspielungen etc. beschränken. Eine Fußnote wie die Nr. 10 (EE 21), die auf einen Hegel-Bezug bei Stirner hinweist, bildet die Ausnahme. Ein Kommentar macht es natürlich niemals allen recht. Kast hat sich dazu entschlossen, eher zu viel als zu wenig zu kommentieren. So erfährt der Leser, dass Königsberg heute Kaliningrad heißt und zu Russland gehört (EE 141) oder dass Schiller in Marbach am Neckar geboren wurde, was ihn zum Schwaben macht (ebd.). Ansonsten aber erhellt der Kommentar vor allem, wie sehr der Einzige mit Anspielungen aus der Bibel gesättigt ist (an zweiter Stelle dürfte Hegel kommen). Auch auf eine Vielzahl literarischer Quellen beruft sich der Text immer wieder. So zeigt sich das erstaunliche Faktum, dass ein Werk wie Stirners Einziger, das einerseits alle Diskursgrenzen zu überschreiten vermochte (und immer noch vermag), andererseits doch tief im Kontinuum europäischen Geisteslebens verwurzelt ist und diese Tradition nicht als toten Ballast nutzt, sondern als Fundgrube für sein revolutionäres Gedankengut.

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Von den vielen Missverständnissen, denen das Buch in seiner nun über 150-jährigen Rezeptionsgeschichte ausgesetzt war, versucht Kast wenigstens fünf im Anhang zu seiner Ausgabe (EE 370–394) zu entkräften, etwa den Vorwurf, Stirner habe den Mord gerechtfertigt (vgl. EE 195): Das gelingt Kast auch überzeugend unter Bezug auf die »Eigner«-Problematik.

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Zusätzlich bietet Kasts Ausgabe sinnvollerweise auch den Text »Rezensenten Stirners«, Stirners vernichtende Replik auf seine Kritiker Moses Heß, Ludwig Feuerbach und Szeliga. So kann also Kasts Ausgabe, trotz der sachlich nicht zu rechtfertigenden Ignorierung Laskas, nur begrüßt werden und trägt vielleicht zur – auch akademischen – Belebung der Stirner-Diskussion bei.

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Die Rezeption Stirners: Alexander Stulpe

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Beinahe zeitgleich mit der neuen Edition von Stirners Hauptwerk ist auch die voluminöse Arbeit Alexander Stulpes erschienen. Sie wurde vom Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin im Jahre 2007 als Dissertation angenommen. Ihr Untersuchungsgegenstand ist eine »Rezeptionsgeschichte Stirners« mit Schwerpunkt auf dem Ende des 19. Jahrhunderts (S. 18). Den theoretischen Rahmen stellt die Systemtheorie Niklas Luhmanns bereit (S. 28–44). Dargelegt werden soll die »Exemplarizität und Symptomatizität« (S. 18) von Stirners Buch, und insbesondere der Figur des »Einzigen«, für die Konstitution des modernen Individuums in seinem ganzen »Facettenreichtum« (S. 18/19). Beispielhaft nennt Stulpe hier etwa »Anarchist, Sozialist, Kleinbürger, Intellektueller, Sozialist, Nihilist, Prophet« (S. 19). Jedenfalls liefere Stirners Text für alle diese historisch erfolgten Ausprägungen ausreichend Potential. Doch mehr noch: Offensichtlich ist der Autor der Meinung, dass die Ausprägung des modernen Individuums nach 150 Jahren Stirner-Rezeption im Wesentlichen abgeschlossen sei. Er formuliert: »Stirner ist heute vergessen, weil der Einzige selbstverständlich geworden ist« (S. 45). Im Unterschied zu Nietzsche sei Stirner heute kein »Modephilosoph« (S. 896) mehr. Davon abgesehen, dass sich das eine nicht notwendig aus dem anderen ergibt und der Begriff des Modephilosophen sowieso wenig heuristisches Potential aufweist, zeigt sich so bereits am Anfang eine Unschärfe, wie sie typisch für Stulpes ganze Untersuchung ist. Stirner wird zwar an Universitäten kaum gelehrt, ist aber mitnichten vergessen (auf die für ein philosophisches Werk dieses Niveaus doch beeindruckenden Verkaufszahlen wurde bereits hingewiesen).

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Einer solch massiven These, wie sie Stulpe hier vertritt, sollte allerdings eine angemessene Untersuchung des Ausgangsmaterials vorangehen. Stulpe nimmt sich hierfür nur vier Seiten und damit nicht genug Zeit und Raum. So ist Stirners Buch nur sehr eingeschränkt als »junghegelianisch« (S. 18) zu bezeichnen, ja, in seiner expliziten Ablehnung Feuerbachs und Bruno Bauers alles andere als das. Diese Kurzatmigkeit der Analyse rechtfertigt der Autor damit, dass nur eine wissenssoziologische (S. 19) Abhandlung beabsichtigt sei. Allerdings rächt sich diese Unschärfe in der Ausgangsposition später, wenn etwa der Begriff vom Individuum zu einem Sammelbecken erklärt wird, das alles Mögliche, auch nicht von Stirner Stammende aufnehmen soll (vgl. etwa S. 292: »›(D)er ‚Einzige‹ wird dann im Sinne einer sozialphänomenologischen Typenbezeichnung verwendet, ohne dass damit die Lektüre des Einzigen oder das Bekenntnis zu Stirner vorausgesetzt wird«). Wie Stulpe seine These von der heutigen Ubiquität des „Einzigen« belegt, dazu weiter unten mehr.

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Im Folgenden entwickelt Stulpe die »große Erzählung« (S. 52) von der Rezeption Stirners (bzw. seiner zentralen philosophischen Konzeption, des Einzigen). Vier Episoden haben sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg ereignet, wovon aber eigentlich nur die Beziehung Nietzsches zu Stirner (S. 470–676) bis heute von besonderem Interesse ist. Hierzu kann Stulpe allerdings mangels neuer Erkenntnisse nichts Neues beitragen, sondern referiert wesentlich den Forschungsstand. Bemerkenswert dagegen die Ausführungen zur Stirner-Rezeption Oskar Panizzas (S. 293 ff.): Schon Panizza betrachtet Stirner als, wenn auch genialen, Psychopathen und rückt ihn damit in die Nähe von Christus (S. 299). Mit diesem Bezug auf Gesetzlos-Anarchistisches, gar auf schon klinisch Relevantes ist wohl der zentrale Rezeptionstypus des Stirnerschen Werkes benannt. Interessant ist, dass eine der wenigen Stimmen, die zur Mäßigung riefen, die Rudolf Steiners war, der Stulpe auch zu Recht mehrere Seiten widmet (S. 641–651). Steiner weist darauf hin, dass Stirner gerade nicht für »bornierten Egoismus« (S. 642) stehe, sondern für eine unbedingte Wahrheitsliebe und einem »veredelten Egoismus« (S. 645) und aus Verpflichtungen handle, die er sich selbst auferlegt habe. So mache er tatsächlich die Sache der Menschheit zu seiner eigenen, nicht aus einem verquasten Idealismus heraus, sondern weil er sie tatsächlich als die Sache aller (und damit auch seiner eigenen) erkennt.

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Bezeichnend für das, was Stulpes Arbeit so unübersichtlich macht, ist schon die Einleitung. So geht er von der Annahme aus, dass Luhmanns Systemtheorie nach Marx und der ›klassischen‹ soziologischen Periode, wie sie sich etwa bei Tönnies und Weber niederschlägt, die »dritte Kränkung« (S. 58) der modernen Gesellschaft darstelle. Um nun die Rede von den ›Kränkungen‹ deutlicher zu machen, referiert der Autor diesen klassischen Topos aus Freuds Schrift Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse und legt umständlichst auf über 100 Seiten Kopernikus, Darwin und Freud selbst dar, um schließlich bei der Narzissmus-Theorie und dem charismatischen ›Führer‹ zu landen, wie ihn etwa Stefan George verkörperte. Hier wäre weniger zweifellos mehr gewesen!

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Indem sich Stulpe auf die tatsächlich nachweisbaren Rezeptionszeugnisse beschränkt (im Rahmen einer akademischen Arbeit auch beschränken muss), schreibt er eine Geschichte, die, von Persönlichkeiten wie Nietzsche und Panizza einmal abgesehen, nur noch von historischem Interesse ist. So wird auch nicht klar, wieso ein Buch wie Der Einzige und sein Eigentum aus den von Stulpe analysierten Sektiererzirkeln heraus einen solchen, doch extrem weitreichenden Einfluss auf die moderne Gesellschaft ausüben konnte. So weitreichend immerhin, dass die Konzeption des Einzigen inzwischen doch ubiquitär sein soll.

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Doch wie belegt Stulpe diese seine zentrale These überhaupt? Anhand von genau drei Texten: Hans Magnus Enzensbergers Essay Mittelmaß und Wahn von 1988, einem »Spiegel«-Artikel mit dem Titel Der Kampf ums goldene Kalb, erschienen 1994, und anhand eines polemischen Artikel Frank Castorfs mit dem Titel Der Einzige und sein Offenbarungseid, erschienen 2004 in der »Berliner Zeitung«. Davon einmal abgesehen, dass alle drei Texte eher etwas über den Zustand der Verfasser als über die Gesellschaft aussagen, die sie zu kritisieren vorgeben, kann das doch wohl kaum als zureichende Materialgrundlage betrachtet werden. Eine interessante Fundstelle dagegen ist Reinhold Messner (sic!), der sechs Kapiteln seines Buches Überlebt Stirner-Zitate vorangesetzt habe (S. 901 f.). In einem Sammelband mit dem Titel Reinhold Messners Philosophie sei das von den akademischen Fachvertretern zugunsten Nietzsches allerdings komplett unterschlagen worden. Hier hätte Stulpe noch weiterbohren sollen!

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Auch Castorf bedient sich in seinem Artikel Der Einzige und die Milchwirtschaft ja offensichtlich nicht nur Stirnerscher Begriffe, sondern, wie Stulpe selbst zitiert, erwähnt sogar Stirners berufliches Scheitern mit seinem Milchvertrieb, um damit gleich den ganzen Neoliberalismus zu verdammen (vgl. dazu Fn. 131, S. 898). Mit der Formulierung, dass Stirner als »verarmte Fußnote zu Marx und Nietzsche« (S. 899) gestorben sei, fällt Castorf sogar noch hinter Ahlrich Meyers bereits erwähntes Nachwort zur Reclam-Ausgabe des Einzigen zurück. Immerhin hatte Meyer Stirners Bedeutung noch darin gesehen, für »Marx und Engels mehr als nur ein Anlaß zur Ausarbeitung der materialistischen Geschichtsaufassung gewesen« 8 zu sein. Beides allerdings, Messners Zitatismus wie auch Castorfs Bezug auf die Stirnersche Milchwirtschaft, widerspricht Stulpes These, dass Stirner eigentlich vergessen sei, da seine Theoreme überall verbreitet seien.

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Was das Formale angeht, so fallen die allzu flotten Motti auf. Seit Theweleit und Kittler schmückt man seinen Text gerne mit Zeugnissen aus dem Fundus der Populärkultur. So ist der Arbeit als Hauptmotto ein Zitat aus einem Lied der Gruppe Oasis vorangestellt: »Maybe I will never be / All the things that I want to be / But now is not the time to cry / Now‘s the time to find out why I think you’re the same as me / We see things they’ll never see / You and I are gonna live forever«. Was hat das noch mit dem Thema Stulpes zu tun? Auch Woody Allen kommt mit einer, nach Ansicht des Rezensenten, mäßig originellen Sentenz über das Verhältnis von Schrecken und Unglück zu Wort (S. 52). Den Beginn der Beziehung zwischen dem Stirner-Biographen John Henry Mackay und Rudolf Steiner charakterisiert Stulpe als »Beginn einer wunderbaren Freundschaft« (Fn. 517, S. 646 f.), womit er zwar aus Casablanca zitiert, aber doch in einen der Sache wenig angebrachten Tonfall verfällt.

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In der Arbeit verweisen viele Fußnoten gleich auf bis zu sechs Belegstellen. Gelegentlich scheinen dem Autoren dabei die Zitate durcheinander geraten zu sein. So finden sich bei Hans Blumenberg (»Arbeit am Mythos«, S: 32, 144 und auch 184 sowie »Lebenszeit und Weltzeit«, S. 54f.) gar nicht die Stirner-Zitate, auf die Stulpe hinweist und schon gar nicht das von Stulpe angegebene »Alles voll mit Einzigen« (S. 923), sondern »Alles voll mit Göttern«, das Blumenberg aber auf Thales bezieht. In einer so umfangreichen Arbeit kann das natürlich passieren.

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Fazit

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Grundsätzlicher Pferdefuß der Arbeit, in die sicherlich viel harte Arbeit investiert wurde, ist bereits ihr Thema. Eine solche Aufgabenstellung ist im Rahmen einer Dissertation schlicht nicht zu bewältigen, ja vielleicht überhaupt nicht im Rahmen einer akademischen Arbeit. Laska etwa vollzieht hier einen (gelungenen) Balanceakt, wenn er die Zeugnisse zusammenstellt und da, wo sie fehlen, Vermutungen anstellt und so den Leser nicht mehr als nötig an die Hand nimmt.

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Folgerichtig hat Stulpes Arbeit ihre Verdienste dort, wo die Materiallage übersichtlich ist, der Autor also im engeren Sinne akademisch arbeiten kann, was Quellensichtung und Kritik angeht. So etwa im Kapitel zu Oskar Panizza (S. 293 ff.). Doch nicht nur die Ausgangsfrage, sondern auch das Ergebnis kranken an ihrer Unbestimmtheit. Dass sich eine philosophische Individuums-Konzeption von 1845, selbst wenn sie so bestechend vorgetragen wurde wie von Stirner und eine Vielzahl von Persönlichkeiten ersten Ranges wie auch immer beeinflusst hat, heute flächendeckend durchgesetzt hat, also tatsächlich gelebt wird (wobei Stulpe gar nicht einmal genau darlegt, was denn Stirners Einziger eigentlich in seinem ganzen Umfang sozusagen ›lebensweltlich umgesetzt‹ bedeuten würde), erscheint selbst bei einem »heimlichen Bestseller« wie dem Einzigen mehr als nur kühn, vor allem, wenn man nur drei mehr oder wenige polemische Textzeugen für seine Gegenwart hat. Das Reality-TV (bzw. dessen Figurenarsenal) scheint für Stulpe eine der signifikantesten Ausprägungen des »letzten Individualisierungsschubes des 20. Jahrhunderts« (S. 902) zu sein. Der Gedanke, dass es vielleicht nur die medienwirksamste sein könnte, ein Zerrbild im eigentlichen Sinne des Wortes also, kommt Stulpe nicht in den Sinn, erzeugen und reproduzieren Massenmedien den modernen »Einzigen« seiner Meinung nach doch sowieso gleich selbst, etwa in der Werbung (S. 925).

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Dabei lässt sich doch sehr bezweifeln, ob Stirners »Einziger« tatsächlich so überall gelebt wird. Man kann das nämlich auch ganz anders sehen und das Individuum gegenwärtig so bedroht sehen wie noch nie. Man muss nicht Foucault bemühen, um zu fragen, ob etwa das Bildungswesen wirklich zu einer Ausprägung des Individuums beiträgt – und nicht eher zu seiner Beherrschbarkeit und Verfügbarmachung durch Politik und – vor allem – ökonomische Interessen. Und nicht nur angesichts der Eurokrise muss man doch bezweifeln, in welchem Maße das Individuum noch über den wirtschaftlichen Ertrag seiner Bemühungen zu disponieren vermag. Und leben wir wirklich schon in sozialen Verhältnissen, wie sie Stirner in seinem »Verein« entworfen hat, einer Gemeinschaftsform also, die den Einzelnen nicht »besitzt«, sondern seine Individualität bewahrt (vgl. dazu etwa EE 315 ff.)? Haben wir sie überhaupt schon zu definieren versucht?

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Doch würden Überlegungen dieser Art ebenfalls den Rahmen einer Rezension sprengen, die sich immer noch als eine akademische versteht.

 
 

Anmerkungen

Zudem sind die folgenden Monographien erschienen bzw. wieder lieferbar: Welsh, John F.: Max Stirner's Dialectical Egoism. A New Interpretation. Lissabon, Boulder etc.: Rowman & Littlefield 2010. Als Nachdruck: Carroll, John: Break-Out from the Crystal Palace. The Anarcho-Psychological Critique: Stirner, Nietzsche, Dostoevsky. London, New York: Routledge 2010 (1. Auflage 1974). Für November 2011 sind angekündigt: Schuhmann, Maurice Radikale Individualität: Zur Aktualität der Konzepte von Marquis de Sade, Max Stirner und Friedrich Nietzsche. Bielefeld: Transcript Verlag sowie der von Saul Newman herausgegebene Sammelband Max Stirner (Critical Explorations in Contemporary Thought). London: Palgrave. Außerdem sind bereits drei Jahrbücher der Max-Stirner-Gesellschaft erschienen. Vgl. dazu die Homepage der Gesellschaft; URL: www.msges.de.   zurück
Nachweise aus den rezensierten Werken erscheinen im Folgenden in Klammern und im laufenden Text (Stirners Buch mit der Sigle EE und der Seitenzahl, Stulpes Monographie nur unter Angabe der Seitenzahl).   zurück
Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47. Köln: Greven 1950, S. 80 f.   zurück
Besonders die beiden folgenden Titel sind für jeden Stirner-Interessierten unverzichtbar: »Ein heimlicher Hit. 150 Jahre Stirners ›Einziger‹. Eine kurze Rezeptionsgeschichte« sowie »Ein dauerhafter Dissident. 150 Jahre Stirners ›Einziger‹. Eine kurze Wirkungsgeschichte (= Stirner-Studien Nr. 1 und 2). Nürnberg: LSR-Verlag 1994 bzw. 1996. Vgl. auch den Web-Auftritt Laskas; URL: www.lsr-projekt.de.   zurück
Vgl. dazu Laska, Ein heimlicher Hit, S. 30.   zurück
Laska, Ein heimlicher Hit, S. 35 spricht von etwa 28.000 verkauften Exemplaren bis 1994. Nach Laska, ebd., S. 26 hatten sich von Lauterbachs Ausgabe etwa 84.000 Exemplare verkauft. Der Einzige und sein Eigentum hat also seit 1894 eine Auflage von über 100.000 Exemplaren erreicht.   zurück
Nachwort zu: Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart 1985 (rub 3057), S. 461 f.   zurück
Vgl. Meyer (aaO.), S. 462.   zurück