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Gebündelte Aufmerksamkeiten

Barbara Thums über eine Vielfalt kultureller Konstruktionen von Selbst und Wahrnehmung

  • Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München: Wilhelm Fink 2008. 473 S. Broschiert. EUR (D) 59,00.
    ISBN: 978-3-7705-4505-6.
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Zwischen Aufmerksamkeit und Zerstreuung, so die zentrale These von Barbara Thums’ umfangreicher Monographie, entwickeln sich seit dem 18. Jahrhundert immer wieder neue Konzepte und Modifikationen vorhandener Konstruktionen, die die Selbstsorge der Schreibenden und der Leser ebenso betreffen wie ihre Reflektion der sie umgebenden medialen Veränderung sowie ihre Selbstbeschreibung als moderne. Die Untersuchung der Konzepte von Aufmerksamkeit verspricht daher Einsicht in zentrale Aspekte der jüngeren Geistes-, Medien- und Kulturgeschichte.

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Diskurse der Selbstbegründung und der Wahrnehmung

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So ergeben sich zunächst zwei Linien, denen die Erörterungen und Interpretationen des Bandes folgen. Zum einen geht es dabei um Instanzen der – mehr oder weniger erfolgreichen – Regulierung von Wahrnehmung. ›Aufmerksamkeit‹ hat demnach Anteil an Wissensdiskursen und Weltbeschreibung ebenso wie an Lebenspraktiken: Denn in Appellen an die Steuerung der eigenen Wahrnehmung und Kognition spielt das Verständnis von Aufmerksamkeit eine wesentliche Rolle für die psychologische und physiologische Beschreibung des Menschen, betrifft aber ebenso Programme der Selbstbegründung des Einzelnen. So sei Aufmerksamkeit aufzuspannen zwischen Diätetik und Ästhetik, für deren Vermittlung und sogar für die Entstehung einiger ihrer Motive ein »genuin [...] literarische[s] Wissen« (S. 22) aufzusuchen sei.

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Zum anderen ist in der Auseinandersetzung mit den Objekten der intentional oder fremdbestimmt gerichteten Aufmerksamkeit für die lange epistemische Moderne der Umgang mit neuen Medien, mit aktueller Technisierung als spezifischer Modernisierung betroffen. Diese erscheint einerseits als eine Reizsteigerung, die Aufmerksamkeit lenken, binden und intensivieren kann, andererseits als Reizüberflutung, die Aufmerksamkeit zu zerstreuen droht. Beide Reizsteuerungen tendieren dazu, die Kontrolle über die eigene Wahrnehmung vom Einzelnen auf seine Umgebung, auf Kommunikation oder Technologie abzuziehen – und konstruieren dabei wiederum Gelegenheiten zur Behauptung von Autonomie oder zum sorgfältigen Umgang mit den veräußerten Steuerungsmechanismen.

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Es wird bereits in dieser knappen Übersicht deutlich, dass der komplexe Gegenstandsbereich sich nur sehr schwer auf einfache Unterscheidungen bringen lässt: Aufmerksamkeit und Zerstreuung, Selbst- und Fremdbestimmtheit, mediale Vermittlung und Überforderung stehen sich in immer wieder neuen Konstellationen gegenüber. Ziel und Wert der vorliegenden Untersuchung sind denn auch nicht in einer Reduktion auf wiederkehrende Themen und Motive, nicht in der Demonstration eines durchgängigen roten Fadens zu suchen, der etwa helfen könnte, andere Bereiche der Geistesgeschichte zu ordnen. Thums schlägt keine einheitliche Form oder leitende Differenz der modernen Aufmerksamkeit, auch keine einheitliche Frage vor, auf die verschiedene Positionen als Antwort gelesen werden können.

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Im Gegenteil geht es vielmehr entschieden um Komplexitätssteigerung, und die Ausführungen der Verfasserin scheinen vor allem getragen von der Bereitschaft, jederzeit die Besonderheiten des jeweils untersuchten Texts in den Vordergrund zu stellen und mit einer immensen Freude am Detail Unterschiede und Idiosynkrasien zu betonen, so dass falsche Kommensurabilitäten gar nicht erst aufkommen können:

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[W]eil eine kulturwissenschaftliche Erweiterung der Literaturwissenschaft nur dann sinnvoll ist, wenn sie nicht auf Kosten philologischer Fragestellungen und auf Kosten einer Hintanstellung jener die Eigenwertigkeit der Literatur akzentuierenden Literarizität geht, nimmt die vorliegende Studie billigend in Kauf, die kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte nicht in allen Fällen detailliert auf ihre poetische Hervorbringung von Wissen zu erschließen. Nur so läßt sich [...] vermeiden, dass literarische Texte auf ihre illustrierende Funktion für diskursgeschichtliche Metanarrationen reduziert werden. (S. 23 f.)
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Denn Thums’ Methode schlägt sich in einer großen Zahl einzelner, geschlossener und ausführlichster Lektüren im Modus eines so verstandenen und kompromisslosen »close reading« (S. 24) nieder: Fast zwanzig durchaus disparate Texte und kleine Corpora stehen der Reihe nach im Blickpunkt der Argumentation. Sie, nicht das jeweils thematisierte Konzept von Aufmerksamkeit sind vor allem Gegenstand dieser Monographie, und jeder dieser Gegenstände erhält genügend Raum, um gerade in seiner Einzigartigkeit in Sachen ›Aufmerksamkeit‹ präsentiert zu werden: Von Brockes bis Nietzsche und über fast fünfhundert Seiten. Die damit einhergehende wissenschaftliche Aufrichtigkeit, die ungerechtfertigte Vereinfachungen scheut und keiner steilen These die Widerständigkeit des Materials zu opfern bereit ist, kann das Buch ebenso sehr empfehlen wie der Ertrag der Lektüren. Ein Überblick ist dabei allerdings nur schwer zu erreichen, zu zahlreich sind die verschiedenen Aspekte und die vielen differierenden Perspektiven, die für die unterschiedlichen Beobachtungen eingenommen werden müssen.

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Daher rührt auch der Abstand, den diese Arbeit gegenüber den diskursanalytischen Studien einnimmt, in deren methodische Nachbarschaft sie sich explizit begibt (S. 23). Vorarbeiten erkennt sie vor allem in Lorraine Dastons Kurzer Geschichte wissenschaftlicher Aufmerksamkeit 1 ; anderen Historisierungen des Konzepts von Aufmerksamkeit wird dagegen eine unzureichende Berücksichtigung jener »Modernisierungs- und Beschleunigungsprozesse« vorgeworfen, die sowohl bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen und damit der späteren Konjunktur des Begriffs im 19. Jahrhundert vorausgehen als auch einen Bogen bis an den Beginn der klassischen Moderne schlagen (S. 12).

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Von der Diskursanalyse setzt sich Thums jedoch auch aus inhaltlichen Gründen ab, indem sie der Auseinandersetzung mit literarischen Texten einen anderen Stellenwert zuweist. Denn für die von ihr behauptete besondere Verklammerung von Ästhetik und Diätetik ab dem 18. Jahrhundert, die für den Komplex der Aufmerksamkeit von zentralem Interesse sei, gilt ihr die in Frage stehende Anthropologie nicht als reiner Diskurs nonformalen Wissens, sondern diese gehe ebenso sehr von literarischen Texten aus, die ihrerseits »in wissenschaftlichen Diskursen wirksam sind« (S. 23). Dies unterscheidet Thums’ Vorgehen von jener Diskursanalyse, von der die Verfasserin behauptet:

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Diese [Studien] fragen nach der Produktivität kulturell prägender Wissensordnungen und ihren sozialpsychologischen Auswirkungen sowie danach, wie diese im fiktiven Medium der Literatur erprobt werden. Poetologische und narratologische Dimensionen der diskursiven Vernetzung unterschiedlicher Wissensformen bleiben dabei allerdings unterbelichtet. (ebd.)
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Man mag diese Darstellung der Diskursanalyse für verkürzend halten oder sich eine genauere Beschreibung des fiktiven (fiktionalen?) Mediums der Literatur wünschen, dessen Verfahren für die Relation von Ästhetik und Diätetik entscheidend seien. Aber Thums meint hier nicht etwa poetische Aufhängepunkte und interdiskursive Strategien, meint nicht einzelne zentrale Metaphern, die disparate Diskurse aufeinander beziehen, oder die moderne Funktionalisierung von Fiktion für Wissenschaft und Philosophie. Eher geht es regelmäßig um die Fähigkeit der Literatur, in ihrem spezifischen Wissen verschiedene Traditionen gleichzeitig zu affirmieren, die in anderen Diskursen widersprüchlich oder exklusiv gesetzt werden. Aber vorrangig ist für den Gang der Argumentation auch hier das Interesse an der je einzelnen Poetisierung einzelner Texte, für die der Leser auf die verschiedenen Lektüren verwiesen ist. Insofern ist die besondere Rolle der Literatur bei Thums anders begründet, in der Auslegungspraxis jedoch teilweise durchaus in der Nähe jener zu sehen, die sie etwa bei Foucault als Spielraum für Brüche und Überschneidungen zwischen epistemischen Regularitäten einnimmt, dessen Betrachtung über eine bloße Erprobung von Wissensordnungen und Sozialpsychologismen in der Fiktion wohl doch hinausgeht.

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Aber diese methodologische Auseinandersetzung bindet die Aufmerksamkeit der Verfasserin ohnehin nicht weiter. Ihre Vorgehensweise soll stets aus aufzuzeigenden Beobachtungen an den jeweiligen Gegenständen begründet werden. Weil Aufmerksamkeit bereits ab dem 18. Jahrhundert ausführlich thematisiert wird, lohnt sie die Untersuchung; weil diese Thematisierung in besonderer Weise Ästhetik und Anthropologie aufeinander bezieht, ist sie nicht zuletzt in literarischen Texten zu untersuchen; weil deren je individuelle poetische Verfasstheit unhintergehbar ist, darf diese keinem übergeordneten Untersuchungsbegriff geopfert werden – so könnte ein Versuch lauten, die Selbstbeschreibung und das Verfahren des Buchs auf einen Nenner zu bringen. Eine Zusammenfassung der Lektüren läuft notwendigerweise Gefahr, in der Kürze der Darstellung diese Zurückhaltung und Genauigkeit der Verfasserin zu nivellieren.

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Von Brockes...

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Die Lektüren sind in fünf Kapitel unterteilt, deren ersten drei die zwei Pole der Aufmerksamkeit etablieren: im Kontext der Selbstbegründung und Diätetik sowie im Kontext der Ästhetik, einerseits als ästhetische Erziehung und andererseits als ästhetische Autonomie. Während diese Überlegungen ihren Ausgang im 18. Jahrhundert nehmen, richten die letzten beiden Kapitel den Blick auf spätere Veränderungen dieser Strukturen: auf »fundamentale[ ] Umwälzungen in den Wissenschaften« und die »komplementären Strategien von Klassizismus und Romantik zur Bewältigung moderner Krisenerfahrungen« (S. 29) im 19. Jahrhundert sowie auf das Denken von Aufmerksamkeit um 1900. Letzteres stehe wiederum »unter völlig neuen Voraussetzungen«, insofern eine ›Dialektik der Aufmerksamkeitsökonomie‹ zwischen positiver Aufmerksamkeit und krisenhafter Zerstreuung einerseits als Neuerung, andererseits durchaus als Parallele zu der gegenseitigen Ergänzung klassischer und romantischer Programme gelesen werden kann (S. 31): »Simmels und Nietzsches Entwürfe einer Ästhetik der Distanz« könnten mithin »wie die komplementären Antworten von Klassizismus und Romantik« erscheinen, wie die Verfasserin im Schlusswort feststellt (S. 425). Die Konstellation der jüngeren Entwürfe antwortet also auf eine Struktur, aus der sie zugleich entspringt und ihre Differenzfolie bezieht.

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Die initiale Brockeslektüre fällt vergleichsweise kurz aus. Ihre Verankerung der theologisch begründeten Forderung nach unablässiger intentionaler Aufmerksamkeit in der Wahrnehmung wird zunächst an poetischen Texten, dann an einem Streifzug durch Traktate präpariert als eine bereits in der Anlage dichotome »ästhetisch dimensionierte Beobachtungsinstanz«, die zugleich »eine an die Kategorie der Aufmerksamkeit gekoppelte, grundlegende Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt« (S. 37 f.) und eine Forderung ans Bewusstsein des Wahrnehmenden als »Bedingung der Klugheit« (S. 44) darstellt. Medial als eine explizite Parallele zum kontemporären »mikroskopischen Blick« (ebd.) verfasst, ist es diese Dichotomie von Wahrnehmung und Selbst, die in den mehr oder weniger ausdrücklichen ethischen Dimensionen von Lektüren an Christian Thomasius, Adam Bernd, Karl Philipp Moritz und schließlich an Goethes Der Mann von funfzig Jahren fortgeführt wird.

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Hier wird erstmals in actu deutlich, was unter der unhintergehbaren Rolle der Poetisierung eines Textes für die Untersuchung der Aufmerksamkeitsdiskurse verstanden werden soll: Von der narratologischen und gattungstheoretisch gefassten Beobachtung der »Verflechtung von Rahmenhandlung und Novelle« aus rekonstruiert Thums eine »Ordnungsform der Kunst als eine diätetische Toilettenkunst« (S. 135), die Ansprüche an die Glückseligkeit aus vorangegangenen Traditionen in der Form des literarischen Wissens bewahrt, aber transformiert: eine an sich widersprüchliche Selbstbegründung zwischen Erwartung und Entsagung werde durch »die systematische Eigenwertigkeit der Literatur« erst denkbar (S. 136).

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Diese »Umcodierung« gehe »mit einer Neubestimmung dessen einher, was die erkenntnistheoretische Kategorie der Aufmerksamkeit zu leisten hat« (S. 136), womit das zweite Kapitel einsetzt. Vom rationalistischen auf ein sinnesphysiologisches Paradigma übergehend wird an Georg Friedrich Meiers Sittenlehre und Ästhetik der gegenseitige Bezug von Anthropologie und Ästhetik untermauert und auf die Erörterung der Maßhaltung zwischen Aufmerksamkeit und Zerstreuung in Wahrnehmung und Subjektivität fokussiert. Hier wird nun die rhetorische Gestalt der untersuchten Texte zum Angelpunkt des Verfahrens: Frühere Forderungen werden zunehmend uneinholbar, und die »Rede über das Finden des rechten Maßes fällt sich gleichsam selbst ins Wort«, der »narrative Effekt exzentrisch-digressiven Sprechens [kommt] im Kreisen um die Unsagbarkeit der ›schönen Seele‹ [...] zum Ausdruck« (S. 26) – so insbesondere bei Christian Garve.

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An Wielands Agathon wird abermals die Spezifik des Literarischen für Gegenstand und Untersuchung thematisiert und zusammengeführt: Denn wie schon zuvor die gleichmäßige Affirmation widerstrebender Traditionen für die Literatur, wird nun für die nonformales und literarisches Wissen zusammennehmende Vorgehensweise der Untersuchung selbst ein vergleichbarer »polyperspektivisch-egalitäre[r] Blick auf das kulturelle Wissen« beansprucht, wodurch »voreilige Zuordnungen vermieden« werden können:

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Ein solcher Zugang ist überdies deshalb angemessen, weil die Ästhetisierung und die Anthropologisierung der Ästhetik, die für das 18. Jahrhundert kennzeichnend ist, das wissenschaftliche und das poetische Wissen in ein enges Wechselverhältnis setzt. (S. 205)
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Plausibel wird die Vorgehensweise wiederum vor allem durch den Ertrag der Interpretation der Texte. Dies gilt umso dringender für den Übergang von der ästhetischen Selbstsorge zur Autonomisierung des Ästhetischen, in die die Argumentation damit bereits eingedrungen ist. Mit der Innovationsforderung und dem Geniedenken verzahnt erhellt die Betrachtung sinnesphysiologischer Aufmerksamkeitstheorien überzeugend ein Wechselverhältnis zwischen Szientifizität und Literarizität, das sich vor allem im Werk von Karl Philipp Moritz zeigt: Daß er »nicht nur Pädagoge und Erfahrungsseelenkundler, sondern auch Ästhetiker und Romanautor« ist (S. 219), bietet dafür die beste Ausgangslage, die einen etwaigen Anspruch auf eine weiterreichende Beschreibung der diskursiven Verknüpfung dieser Traditionen nur dann zu unterlaufen drohte, wenn diese Verknüpfung nach Thums’ Programm nicht gerade im Besonderen der jeweiligen Poetisierung aufzusuchen wäre. Dass allerdings eine Wirksamkeit der literarischen Lösungen auf außerliterarische Wissensdiskurse im behaupteten Maße vorliegt, dafür kann die stets in literarischen Beispielen endende Nachzeichnung der Verbindungslinien nur teilweise als Beleg überzeugen.

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Die dem wissenschaftlichen und dem dichterischen Genie gemeinsame intensive und extensive Aufmerksamkeit erlaubt nun eine Engführung der »Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Gesundheit und Krankheit sowie zwischen Genie und Wahnsinn« mit einer neuen »Verhältnisbestimmung von Aufmerksamkeit und Zerstreuung« (S. 219). Sie verläuft über mehrere Stationen, an denen nun vielleicht erstmals das Ausmaß der Ernte deutlich wird, die die vorsichtige Annäherung an die einzelnen Texte bis hierher vorbereitet hat: Aufmerksamkeit wird dabei als ihrerseits problematische Lösung eines Widerspruchs zwischen metaphysischer und wahrnehmungstheoretischer Begründung des Schönen positioniert, deren Vermittlung durch die Sinnesphysiologie geleistet werden muss, die hier freilich bereits auf das Genie spezifiziert worden ist: »Nur das Genie vermag sein triebgesteuertes, unbewusstes Aufmerksamkeitsbegehren [...] mit der Aufmerksamkeit als Bewusstseinsinstanz [...] so zu koppeln, dass ein Kunstschönes [...] entsteht.« (S. 223) Diese zentrale Beobachtung fächert ein Spektrum von Einsichten an Moritz’ heterogenen Schriften von Mimesiskonzept über Negationsästhetik, Dramaturgie und Oberflächenästhetik bis zu einer neu formulierten Ornamenttheorie auf.

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Diese theoretischen Positionen werden dann noch einmal nachvollzogen an einer Lektüre – einmal nicht des Anton Reiser, sondern – der Hartknopf-Romane, die eine »narrative Kunst der Resignation« aufspürt:

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Mit Bezug auf die Etymologie des Lateinischen resignatio und seiner Verwendung in der Zeremoniellhistorie lässt sich diese als eine Kunst des permanenten Rückzugs der Zeichen verstehen, die gleichwohl bzw. gerade deshalb beständig neue Vermittlungsversuche zwischen dem lebendigmachenden Geist und dem tötenden Buchstaben entwirft. (S. 288)
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Eng an romantische Ironie angelegt, die zugleich eine Gegenüberstellung von Aufmerksamkeit und Zerstreuung in Klassik und Romantik umfasst, zeichnet diese Erzählkunst das literarische Wissen erneut durch einen Schwebezustand aus, der jedoch in die unmittelbar produktive Frage »nach den Bedingungen und Möglichkeiten einer zukunftsweisenden Lebenskunstlehre« mündet, »in der die geistige Freiheit des Subjekts und die ästhetische Selbstbildung nicht mehr den Preis eines stoischen Rückzugs von der Welt und der irdischen Liebe zahlen müssen.« (S. 288 f.) Dass die beschriebenen narrativen Verfahren noch immer Aufmerksamkeitslenkung betreiben, scheint spätestens jetzt vor allem der Anlass, nicht das Ziel der Untersuchung geworden zu sein.

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...bis Nietzsche

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Genau die Rückbesinnung auf Aufmerksamkeit erlaubt es dann jedoch, zwei jüngere Konstellationen in den letzten beiden Kapiteln als weiterhin problematische Antworten zu begreifen. Denn obwohl diese Lektüren nun zunächst auf Kant zurückgehen, geschieht dies unter dem Zeichen eines wesentlichen Neuansatzes, der der romantischen Rehabilitierung der Zerstreuung Rechnung trägt.

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Die Kant-Kritik bei Novalis und die Auseinandersetzung mit experimentellen Neufassungen von Wissenschaft in Goethes Schrift über den Versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt und dann vor allem in den Wahlverwandtschaften stellt zwei räumliche Metaphern für die Organisation von Wissen als Erkenntnis durch Aufmerksamkeit vor: Kristallisierung durch Darstellung als ›Wechsel von Verfestigung und Verflüssigung‹ wird bei Novalis zugleich als »Wechselrepräsentation von Aufmerksamkeit und Zerstreuung« gelesen. Möglich wird sie durch eine »Poetik der Unterbrechung«, die die unendliche Reflexionsbewegung der universalen Kristallisation erst diskursiv zugänglich macht. Reihenbildung ordnet andererseits bei Goethe sowohl dem expliziten wissenschaftlichen Verständnis nach den Umgang mit dem Experiment als auch die Versuchsanordnungen, die die Struktur seines Romans fundieren.

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Wenn hier erneut die intensive Lektüre den Blick auf den Ausgangspunkt im Aufmerksamkeitsdiskurs zu verstellen beginnt, kehrt das letzte Kapitel zu einer ausdrücklicheren Reflektion von dessen Begriffen zurück. Distanz bestimme um 1900 die erneut verkomplizierte, durch abermalige Krisen veränderte Verfahrensweise der Ästhetik mit den aus der Anthropologie überlieferten Differenzen, die in beschleunigte, fragmentarisierte und kontingente Erfahrungen übergehen. Und dies bei zwei Autoren, deren kurze aber intensive Lektüren andeutungsweise noch einmal die Dichotomie von Aufmerksamkeit und Zerstreuung und von Klassik und Romantik wiederholen.

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Georg Simmels Lebenskunst der Resignation orientiert sich an Moritz, sie begegnet aber neuen »Schwierigkeiten [...] unter den Bedingungen der Moderne« (S. 402), die eine Abgrenzung des besonderen Ästhetischen in Spannung zu seiner Bezüglichkeit auf Kontexte betreffen: »die allgemeine Schwierigkeit des Lebens«, so Simmel, »daß die Elemente von Gesamtheiten dennoch beanspruchen, autonome Ganze für sich selbst zu sein«. 2 Symbolische Anschauung kann nur mehr dann als Lösungsversuch nach Simmel unternommen werden, so Thums, wenn die »klassizistische Rezeptionsform einer kontemplativen Aufmerksamkeit lediglich melancholisch erinnert« wird – auf diese Erinnerung freilich kommt es dabei operativ an (S. 403).

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Dieser ästhetischen Nähe der Distanz stellt die letzte Lektüre schließlich ein »Pathos der Distanz« (S. 404) bei Nietzsche gegenüber. Wagner als moderner Künstler schlechthin konzentriert die mediale Reizsteuerung als Erregung und Diffusion von Aufmerksamkeit, gegen die eine besondere Form befreiter Disziplin zu entwickeln ist: Askese und Diätetik kehren in der widerleiblich orientierten Rhetorik Nietzsches ebenso noch einmal wieder wie die Fokussierung einer Experimentalkunst, die bei ihm den freien Geist betrifft: in der zentralen Konzeption der ewigen Wiederkunft, aus deren Reihenbildung ein ›ästhetischer Imperativ‹ erwächst, der eine Radikalisierung des romantischen Aufmerksamkeitskonzepts und seiner Operationalisierung von Zerstreuung voraussetzt.

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Die Modernisierung tritt also in dreifacher Weise in eine Verschränkung mit Aufmerksamkeit: In einem breiten epistemischen Sinne schlägt sie sich bereits in der zunehmenden Thematisierung und komplexeren Konstruktion der Kategorie überhaupt seit dem frühen 18. Jahrhundert nieder; als verschärfte Krise spielt sie dann andererseits in zunehmend engerem, epochalen Sinn die Rolle einer verändernden Kraft, für die die vorherigen Schilderungen den Ausgangs- und Angriffspunkt stellen: Einmal bereits in der romantischen Aufwertung der Zerstreuung, ein weiteres Mal in den radikaleren Krisen um 1900. Mehr als die von der Spezifik der Lektüren eingeschränkte Parallelführung von klassisch-romantischer Komplementarität mit einer anderen Wechselbeziehung zwischen Simmel und Nietzsche ist es diese fortdauernde Verklammerung von Aufmerksamkeitsdiskursen und Modernität, deren Nachweis die Summe der Textanalysen und -interpretationen leistet.

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Fazit

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Die Geschichte der modernen Aufmerksamkeit, die Thums schreibt, führt eine überwältigend reiche Schatzkammer vor – einen einheitlichen Schlüssel zum Zugang bietet sie nicht. Darin liegen sowohl der Reiz als auch die Widerständigkeit dieser Monographie, deren Lektüre je nach besonderem Interesse des Lesers auch ermüdend werden kann, obwohl jedes einzelne Kapitel mit großem Gewinn zu lesen ist. Es gibt unendlich viel zu entdecken, nach der einen Entdeckung zu fragen, würde Thums’ Interesse verfehlen. Daher könnte auch die jetzt schon lange Liste der betrachteten Texte jederzeit noch verlängert, ja vervielfacht werden. Wer daraus einen Vorwurf machen wollte, das Material sei nicht bis zum Letzten durchdrungen worden, muss zeigen, dass eine strengere Ordnung ohne falsche Vereinfachungen möglich wäre. Indessen ist die grobe Orientierung an klassischer und romantischer Aufmerksamkeit und Zerstreuung in Wahrnehmung und Subjektivität eine Landkarte, gegenüber der sich die Momente jeder einzelnen Lektüre stets als reicher erweisen.

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Bewiesen ist hier vor allem, dass es sich lohnt, die Frage nach Aufmerksamkeit und Zerstreuung an Texte der Moderne heranzutragen, weil sie immer wieder ertragreich beantwortet werden kann – und immer wieder neu. Sowohl im Sinne solcher einzelner Lektüren als auch für das Interesse an übergreifenden Antworten bietet sich damit noch ein großes Feld für weitere Untersuchungen. Dessen Fruchtbarkeit muss nach Barbara Thums’ Buch außer Zweifel stehen.

 
 

Anmerkungen

Lorraine Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. München: Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung 2001.   zurück
Georg Simmel: Der Bilderrahmen. Ein ästhetischer Versuch. In: Gesamtausgabe, Bd 7.1. Hg. v. Rüdiger Kramme u.a.. Frankfurt/M. 1995, S. 101–108, hier S. 107, zitiert nach Thums S. 403.   zurück