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Whodunit?
Geschichte, Kriminalliteratur und Strafrecht

  • Achim Saupe: Der Historiker als Detektiv - der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman. (Histoire) Bielefeld: transcript 2009. 542 S. Kartoniert. EUR (D) 44,80.
    ISBN: 978-3-8376-1108-3.
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Die Geschichte gibt zahllose Rätsel auf. In der europäisch geprägten Kultur sind Detektive und Historiker jene Figuren, die einem zuerst als professionelle ›Experten‹ in den Sinn kommen, wenn es darum geht, Rätselhaftes zu entschlüsseln. Geschichte im Fernsehen wird häufig auf diese Weise inszeniert und häufig bedient sich auch historische Belletristik einer detektivischen Erzählweise und Motivik. Nicht zuletzt auch Historiker selbst haben mitunter ihre Forschungsergebnisse wie die Entschlüsselung eines Kriminalfalles aufgebaut. Und manches Mal haben Historiker direkt von ihrer Arbeit als einer ›detektivischen‹ gesprochen.

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Interdependenzen

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Eigentlich liegt es daher nahe, sich die Interdependenzen der beiden Professionen einmal systematisch anzuschauen. 1 Sind die Ähnlichkeiten vor allem metaphorischer Natur oder schwingen die Kriminalliteratur und die Geschichtsschreibung auf einer grundsätzlichen Ebene im Gleichklang? Hierzu ist es notwendig, auch den kriminalistischen Diskurs, das heißt jenen von Straf- und Prozessrecht, als Klammer einzubeziehen. Die Überschneidungen und Verflechtungen der Diskurse sind vor allem seit dem späten 18. Jahrhundert plausibel, modernisieren sich doch Kriminalistik, Kriminalliteratur und Geschichtswissenschaft in den folgenden Dekaden. Hierbei fällt der Blick auf die Erzählweisen der Kriminalliteratur wie der Geschichtsschreibung und damit ist ein weiteres Moment benannt, in dem die Professionen einander berühren. Dies ist ein Ausgangpunkt der Studie des Potsdamer Zeithistorikers Achim Saupe, der diese Thematik in seiner umfangreichen Dissertation untersucht.

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Das Resultat zielt auf zweierlei: den Nachweis dafür zu führen, wie sich die Vorstellung vom Detektiv als Historiker im Verlauf vom 18. bis zum 20. Jahrhunderts herausgebildet hat (S. 11), und darzulegen, wie der Nationalsozialismus in der Literatur – namentlich in Thrillern – repräsentiert wird. Es geht also um nicht weniger als eine Geschichte der Geschichtstheorie, die Verknüpfung zwischen der Tätigkeit von Historikern mit derjenigen von Detektiven und/oder Strafverfolgungsbehörden und die poetologischen und narratologischen Verzahnungen der Geschichtsschreibung und der Kriminalliteratur.

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Strafrecht, Geschichte, Kriminalliteratur

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Gelingt dem Verfasser der Nachweis, dass Historiker und Detektiv sich auch als der jeweils andere sehen oder präziser: sich in einer theoretisch-praktisch sehr ähnlichen Welt bewegen? Ist die Darstellung des Nationalsozialismus als Kriminalroman eine Figur, die historiographisch sinnvoll ist? Eine eindeutige Antwort verbietet sich jedoch, da mit entscheidend ist, wie weit man sich auf die Reichweite der Metapher vom Historiker / Detektiv einlässt und ob der NS-Historiographie eine Zuschreibung als »Kriminalroman« neue Perspektiven zu eröffnen vermag. Saupe macht ein Angebot, sich mit beidem auseinanderzusetzen.

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Zunächst stellt er im ersten Abschnitt die Erzählformen historischer Studien vor und macht somit deutlich, dass sich die Strukturen in historischen Darstellungen auf die vier Grundformen von Romanze, Komödie, Tragödie und Satire zurückführen lassen. In diesem Teil wird die Auseinandersetzung mit den Erzählweisen der Historiker dargestellt. Der Abschnitt bildet einen guten Überblick zur Debatte und kann als eine Einführung zu den Ansätzen Hayden Whites, Paul Ricœurs, Carlo Ginzburgs und der Annales-Schule gelesen werden, und sie macht zudem mit einschlägigen Überlegungen Michel Foucaults vertraut.

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Darauf aufbauend werden im zweiten Teil – dem umfangreichsten des Buches – die Verzahnungen des kriminalistischen mit dem historischen Diskurs ausgebreitet. Hierbei folgt Saupe einem chronologischen Aufbau und macht aus einer zeitlichen Übereinstimmung in der Fortbewegung des straf- und prozessrechtlichen Denkens und der Theorie der Geschichtsschreibung ein Argument für deren gegenseitige Durchdringungen. Das reicht vom Gebrauch entsprechender Metaphern, direkten Bezugnahmen bis hin zu Vermutungen über Inspirationen durch den strafrechtlichen Diskurs – wie im Falle Johann Gustav Droysens (S. 98 ff.). Das ist zwar nicht immer ganz überzeugend, schwächt aber ein wichtiges Kernargument nicht, dass nämlich die Debatten um den Umgang mit ›Fakten‹ und ›Wahrheit‹ ganz ähnlich inspiriert sind. Das Indiz und seine Würdigung wird zum Dreh- und Angelpunkt historischer wie strafrechtlicher Analysen, womit das von Carlo Ginzburg auf das Ende des 19. Jahrhunderts verortete Indizienparadigma in den Humanwissenschaften mit gutem Grund bereits ein halbes Jahrhundert vorher als wirksam herauspräpariert wird. 2 Der Untersuchungsrichter und dessen ›freie‹ Würdigung des Beweismaterials ist hier das Modell, welches sich in Geschichtsschreibung, Strafrecht und Kriminalliteratur gleichermaßen zeigt. Hier weist Saupe in seinen Beispielen Verschiebungen in der Erzählstruktur nach, die mit den veränderten Maßgaben von Strafrecht und Strafprozessordnungen (und Geschichtswissenschaft) einhergehen.

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Diese Grundthese wird auch im folgenden Abschnitt zum so genannten Golden Age of Crime (gemeint ist die Zwischenkriegszeit) überprüft. Auf Historikerseite werden besonders Robin George Collingwood und Marc Bloch gewürdigt. Diese auch deswegen, weil sie sich nachweislich für Kriminalliteratur interessierten – bei Collingwood gibt es einen wichtigen Text, der explizit darauf verweist (Who killed John Doe). Auf der Seite der Kriminalliteratur wird Agatha Christie hervorgehoben, weil sie mit historischen Vorgehensweisen vertraut war. So entsteht ein dichtes Gewebe, mit dem Saupe die gegenseitigen Inspirationen und Folgen für die jeweiligen Erzählweisen nachzuweisen versucht. Das Modell des Untersuchungsrichters, welches seit Mitte des 19. Jahrhunderts dominiert habe, werde im Verlauf der Zwischenkriegszeit durch dasjenige des Detektivs abgelöst. Eine wichtige Verschiebung zur vorangegangenen Periode besteht ferner darin, dass es nun mehr um das Verstehen eines Falles gehe, weniger um eine Be- oder Verurteilung des vergangenen Geschehens, ob in Geschichtsschreibung oder im Kriminalroman.

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Die Argumentation konzentriert sich ab diesem Abschnitt zunehmend auf die Beziehungen zwischen Geschichtsschreibung und Kriminalliteratur. Entwicklungen im strafrechtlichen Diskurs sind (leider) nicht mehr berücksichtigt, ebenso wenig wie die Ausgestaltung der Kriminalpolizei als der Behörde verfolgt wird, die letztlich das strafprozessual wichtige Beweis- oder Indizienmaterial heranschafft und aufbereitet.

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Nationalsozialismus als Kriminalroman?

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Der vierte Abschnitt, bei dem es um den Nationalsozialismus im Kriminalroman geht, bildet eigentlich eine eigenständige Monographie. Hier werden die französische, anglo-amerikanische sowie die bundesrepublikanische Kriminalliteraturen (aber auch des Kriminalfilms in Kino und TV) mit derjenigen der DDR zusammen betrachtet, wobei das empirische Schwergewicht auf dem DDR-Kriminalroman liegt (S. 24). Es werden auf sehr gelungene Weise jeweils die Verschiebungen im Umgang und der Darstellungsweise im Verlauf der Jahrzehnte nach 1945 gezeigt, inhaltliche Schwerpunktsetzungen verfolgt und die Entwicklung des Genres mit dem historischen Kontext in Beziehung gesetzt. In der Tat sind hier die Folgerungen überzeugend, dass sich in der (trivialen) Kriminalliteratur eine Auseinandersetzung, oder eben auch deren Ausbleiben, mit traumatischen historischen Geschehnissen verfolgen lässt. Hierbei schwingt die Kriminalliteratur im Gleichklang mit dem, was als Erinnerungskultur bezeichnet werden kann. Geschichte also im Modus des Kriminalromans, der einen poetologischen Eigensinn entfaltet.

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Vielleicht ist aber gerade durch das Beispiel ›NS-Verbrechen im Kriminalroman‹ die Interdependenz zwischen Geschichtsschreibung, Strafrechtsdiskurs und Kriminalliteratur so plausibel, nachvollziehbar und offensichtlich, dass diese Zusammenhänge auch für die Zeit davor als naheliegend erscheinen, ohne aber ebenso überzeugend nachgewiesen werden zu können.

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Einladung zur Debatte

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So einleuchtend die grundsätzliche Verortung von Geschichtswissenschaft, Straf- und Prozessrecht und Kriminalliteratur in einem gemeinsamen diskursiven Feld ist, so uneindeutig sind aber die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Saupe macht dies auch gelegentlich deutlich, wenn er betont, dass es nicht um Übereinstimmungen geht oder direkte Zusammenhänge von Ursache und Wirkung. Selbstverständlich sind ihm die großen Unterschiede zwischen Untersuchungsrichter und Historiker klar. Gelegentlich aber werden die Leser dann doch einfach aufgefordert, einem Argument zu folgen, ohne dass sie überzeugt werden, wie in der folgenden Aussage: »Geschichte und Verbrechen gehörten zusammen – dies war dem gebildeten Bürgertum um 1870 im Zeichen des Historismus und Kriminalliteratur inzwischen deutlich geworden« (S. 184). Allerdings erfährt man über die Rezeption des zeitgenössischen Lesepublikums und die Haltung der Teilnehmer der Fachdiskurse zu wenig, und so hängen die Folgerungen letztlich in der Luft. Dabei drängt sich die Frage auf, ob die Aussage empirisch hinreichend abgesichert ist. Angesichts der teils stärker national begrenzten Diskurse im 19. und frühen 20. Jahrhundert muss die Reichweite etwa von Droysen, Bloch und Collingwood kritisch gewürdigt werden, obwohl moderne Geschichtswissenschaft immer in einem internationalen Dialog stand. Hier wird implizit zu sehr vom gegenwärtigen Diskurs ausgegangen. Dem Argument wäre jedenfalls gedient, wenn eine größere Bandbreite an Theoretikern und Praktikern des Faches herangezogen worden wäre. Ob sich die Historiker in der Zwischenkriegszeit wirklich zunehmend als Detektive verstanden (S. 189), ließe sich so eher nachweisen. Dagegen sind die Parallelen zwischen der »historiographischen Forschungserzählung als ›Mimesis des Suchens und Findens‹ und den fiktionalen Richtergeschichten« (S. 196) zweifellos vorhanden und somit vielleicht das eigentlich wirkmächtige Phänomen.

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Alles in allem ist Saupes Studie ein guter Ausgangspunkt, um sich über Geschichtstheorie und umfassendere kulturelle Zusammenhänge zwischen den Diskursen von Geschichtswissenschaft, Strafrecht und Kriminalliteratur zu orientieren. Sie erlaubt es, auf dieser Folie nochmals über Geschichtsschreibung als literarisches Genre nachzudenken und sich der poetologischen Bedingungen der Historiographie zu vergegenwärtigen.

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Besonders überzeugend ist der vierte Abschnitt, der mit seinem reichhaltigen empirischen Material eine willkommene Ergänzung erinnerungskultureller Forschung für die Epoche nach 1945 darstellt. Vergleichend aufgebaut, West- wie Ostdeutschland einschließend, öffnet sich hier ein fruchtbares Feld.

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Andere Ergebnisse Saupes fordern zu kritischer Würdigung heraus: »So überlegt er einleitend, ob sich über die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hinaus aufgrund der Interdependenz der Genres eine (populär)kulturelle »Perspektive [erschließe], durch die insgesamt der Nationalsozialismus als Kriminalroman wahrgenommen werden kann« (S. 24) und somit die professionelle Geschichtsschreibung nicht unberührt gelassen habe (ebd.).«

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Allerdings sind die Formulierungen »kann« und »nicht unberührt« hinreichend weit gefasst, dass die Aussage in jedem Fall richtig ist. Sicherlich kann der Nationalsozialismus auf vielerlei Folien gelesen werden und die Geschichtsschreibung ist von zahllosen kulturellen, politischen und sozialen Erscheinungen berührt; eben weil sie sehr stark in dem zeitlichen Rahmen ihres Entstehens eingebunden und somit darin verwoben ist. Auch die Überlegung, dass der pointierte Rätselroman zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirklich zur Projektionsfläche der Geschichtstheorie geworden sei (S. 474), gilt es noch eingehender zu diskutieren, vor allem unter Einbeziehung jener Geschichtstheoretiker, die sich in ihren Schriften nicht explizit auf Kriminalliteratur, Detektiv oder Forensik beziehen.

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Ein Postscriptum noch zur Lesbarkeit der Studie: Sie ist an sich gut lesbar und der Text ist gut untergliedert. Problematisch ist aber die verlegerische Entscheidung, einen engen Zeilendurchschuss und eine kleine Schriftgröße zu wählen, die sich so entweder in kleinformatigen Taschenbüchern finden, oder für Fußnoten verwendet werden. Letztere sind dagegen in fast gleicher Schriftgröße, aber serifenlos gesetzt und damit leichter lesbar als der Haupttext. Das macht die Lektüre nicht eben einfacher. Mag sein, dass eine etwas größere Schrifttype den Text über 500 Seiten hätte anschwellen lassen. Für die Leseraugen wäre es allemal ein Gewinn gewesen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Barbara Korte / Sylvia Paletschek (Hg.): Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln: Böhlau 2009.

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So argumentiert auch Friedrich Lenger: Detektive und Historiker – Detektivgeschichten und Geschichtswissenschaft. Ebd., S. 31–41.

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