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Tatorte

Eine Typologie zum Realismus des Raums
in der ARD-Reihe Tatort und ihre Umsetzung
am Beispiel Münchens

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1. Im Fadenkreuz der Republik

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Der Erfolg der ARD-Krimireihe Tatort ist in der bundesdeutschen Fernsehgeschichte einzigartig. Der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt ist es gelungen, ein Serienkonzept zu entwerfen, das auf die eigenen Organisationsstrukturen hin zugeschnitten ist, und es ist ihr gelungen, dieses Konzept auf Dauer zu stellen. Welche Gründe gibt es dafür? Worin besteht das Erfolgsrezept? Diese Fragen lassen sich schwerlich in einem Satz beantworten. Eins steht jedenfalls fest: Um ein heterogenes Publikum über einen langen Zeitraum zu binden, bedarf es möglichst effektiver Strategien der Erzeugung von Serialität. Nicht die einzelne Folge allein zieht das Interesse auf sich, die Gesamtheit der Folgen einer Serie und die Gesamtheit der Serien dieser Reihe entwickeln eine Art Sog, der eine große Anzahl an Zuschauerinnen und Zuschauern beinahe jeden Sonntagabend um 20.15 Uhr vor die Fernsehgeräte zieht. 1 Zu den besonderen Merkmalen der Reihe gehören der feste Sendeplatz und der einheitliche Vorspann mit der Musik von Klaus Doldinger und den Augen bzw. Beinen von Horst Lettenmayer, der damit so ziemlich die einzige erwähnenswerte ›Rolle‹ seines Lebens spielte (sieht man einmal von der Figur eines Gewerkschaftsvorsitzenden in der Schimanski-Folge Der Pott von 1989 ab) und der dafür einmalig 400 DM erhielt. 2 Veränderungen im Vorspann gibt es bis heute nicht; im Abspann ist die Variationsbreite größer, so etwa ging die Tatort-Melodie dort zwischen 1970 und 1978 nach 45 Sekunden ins Jazzige über. 3

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Eine herausragende Strategie der Krimireihe Tatort, Effekte des Seriellen zu erzeugen, ist die ›im Fadenkreuz der Republik‹ angebotene Raum-Ordnung – in der Literatur findet sich dafür nicht zu Unrecht die Bezeichnung »›Länderspiegel mit Leichen‹«, 4 der »Landeskunde« im »Thriller«-Format liefere und auf diese Weise den ›wahren‹ »Gesellschaftsroman« der Bundesrepublik Deutschland schreibe. 5 Die Reihe setzt in je unterschiedlicher Weise auf Regionalität, genauer auf eine Regionalität, die zugleich darauf zielt, überregionales Interesse hervorzurufen und ein möglichst ausgewogenes Stammpublikum zu gewinnen.

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Davon ausgehend soll im Folgenden die mediale Topographie der Reihe Tatort in zwei Schritten entfaltet werden. Im ersten Teil wird anhand einer Typologie der Raumordnungen im Tatort der Versuch unternommen, die in den weit über 700 Folgen vorliegenden topographischen Angebote sowie deren Funktionen zu systematisieren. Das ARD-Format Tatort bildet die Realität unterschiedlicher Räume nicht nur ab, so die leitende These des Beitrags, sondern erzeugt allererst jene Räume, als deren Abbildung es sich dann versteht. Im Sinne eines Arbeitsprogramms bietet es sich an, die unterschiedlichen Raum-Ordnungen der Reihe in fünf Typen zu unterteilen: Im Typus ›Realismus des Lokalen‹ (a) wird über den Ermittlungsstandort Lokalkolorit erzeugt; im Typus ›Realismus des Globalen‹ (b) entziehen sich die Folgen der konzeptionellen Verpflichtung auf Regionalität oder überschreiten diese; im Typus ›Realismus der Vernetzung‹ (c) werden die Regionen nicht als abgeschottete Einheiten präsentiert, sondern lösen die eigenen Grenzen über vielfältige Formen der Vernetzung auf; der Typus ›Realismus des Ländlichen‹ (d) vermeidet die plakative (oder einfache) Wiedererkennung, indem er die Orientierung an ›landmarks‹ urbaner Räume aufgibt; und der Typus ›Realismus des Romantischen bzw. Mythischen‹ (e) ruft die Standards eines auf Realismus abonnierten Tatort-Konzepts zwar noch auf, unterläuft diese dann aber, u.a. indem Erklärungsmuster außerhalb der gängigen Erfahrungswirklichkeit bemüht werden.

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Der zweite Teil des Beitrags erprobt das vorgeschlagene typologische Modell am Beispiel der Tatort-Serie des Bayerischen Rundfunks seit den 1990er Jahren mit punktuellen Rückblicken auf Folgen der 1980er und 1970er Jahre. Auf diese Weise lässt sich erstens veranschaulichen, dass die Aufmerksamkeit auf eine konkrete Stadt wie München im Tatort historischen Veränderungen unterliegt; zweitens wird in einem Überblick zu den Folgen des Ermittlerduos Batic/Leitmayr von 1991 bis heute die Tragfähigkeit der Typologie zum Realismus des Raums erprobt; drittens macht eine Detailstudie zu Das Glockenbachgeheimnis (1999) die komplexen funktionalen Überschneidungen der typologisch unterscheidbaren Raumdarstellung transparent. Diese Folge endet mit einer bemerkenswerten Anspielung auf Thornton Wilders Our Town (1938), die als Modus der Selbstreflexion auf die in dieser Folge visualisierten Zeit- bzw. Erinnerungsräume fungiert.

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2. Typologie der Raumordnungen

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Das Programm der regionalen Differenzierung ist zentrales Alleinstellungsmerkmal des Tatort-Formats und gehört zu den maßgeblichen Gründen für den andauernden Erfolg der Reihe – insbesondere, weil die Reihe (mehr als andere Serien) die Handlungsorte für ihr Konzept der Zuschauerbindung produktiv macht. Die gewählten Orte zeichnen sich dabei jeweils durch sowohl relative Konstanz als auch periodische Revision aus. Demnach sichert sich die Reihe kontinuierliche Aufmerksamkeit, indem sie Räume erzeugt, die die regionale Vielfalt Deutschlands wenn nicht abbilden, so doch plausibel erscheinen lassen. Diese Räume garantieren Anschlussfähigkeit nach vielen Richtungen hin: über den Bezug zu regionalen Ereignissen; über ›Zeichen‹ wie Dialekte, Autokennungen, regionale Medien und Festkultur; über ›landmarks‹ wie Gebäude oder Landschaften.

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Dass diese Räume eigens erzeugt werden (das gilt insbesondere für ›landmarks‹ wie Gebäude), sei es im Studio, sei es durch Motivimporte anderer Städte, 6 widerspricht dem Konzept dabei nicht. Die Auswahl von Drehorten folgt ästhetischen und wirkungsstrategischen Erwägungen, nicht zuletzt aber geht es dabei um die Senkung von Produktionskosten. Bekanntlich erlaubt der Realismus der Reihe fiktive Gestaltungselemente (genauer die Idealisierung des Realen), und zwar insbesondere dann, wenn diese Erfindungen den Eindruck des Authentischen vertiefen und so eine möglichst breite Wiedererkennung garantieren – im besten Fall verbinden selbst ortsfremde Zuschauer die entsprechenden ›Zeichen‹ mit dem verhandelten Lokal.

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Das geschieht über (für die Handlung selbst dysfunktionale) Sehenswürdigkeiten und touristische Attraktionen wie das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig 7 .

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Bild 1: Die Kommissare Ehrlicher und Kain spielen Boccia vor dem Denkmal; Tödliches Verlangen, 24. April 2000, MDR.

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Auch das (ebenso dysfunktionale) Spiel mit regionalen Mentalitäten dient dem Konzept der lokalen Wiedererkennung – wobei die je spezifische Mentalitätszuweisung dann wiederum gerade von einheimischen Rezipienten regelmäßig als unzulängliche Verkürzung (als Stereotyp) kritisiert wird. Zu denken ist dabei etwa an den Hauswirt des Stuttgarter Kommissars Bienzle, namens Rominger, mit seinem sprichwörtlich schwäbischen Geiz, seiner Fixierung auf die Kehrwoche und seinen Blockwart-Allüren. Sobald Bienzle oder Hannelore Schmiedinger, die Lebensgefährtin des Kommissars, das Treppenhaus betreten, öffnet sich Romingers Wohnungstür, und der Hauswirt als Hüter von Moral und Anstand, Recht und Ordnung kommt zum Vorschein.

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Filmausschnitt 1: Bienzle und der Sizilianer, 24. Juli 2005, SWR (0:12:35 bis 0:12:57).

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Es lag von daher nahe, den Stuttgarter Tatort nach dem Generationenwechsel 2008 neu zu akzentuieren. In einem Artikel von Bernd Dörries heißt es dazu: »Das Bild von Stuttgart, so befürchtete man vor allem in Stuttgart, wurde in den vergangenen Jahren auch vom Tatort in der ARD geprägt«:

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Vom schwäbelnden Kommissar Bienzle, von Viertelesschlotzern, vom Hausmeister und der Kehrwoche. Bienzle war wohl nirgendwo so unbeliebt wie in Stuttgart selbst. Viele haben Bienzle persönlich genommen. Weil man gar nicht so sei wie er. Oder nicht so sein wollte. Was sollen bloß die Leute denken? Von dieser Stadt. Ha noi.
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Aus diesem Grund verfolge die neue Serie mit Richy Müller und Felix Klare ein ganz anderes Konzept: »urbaner, schneller und vor allem weniger schwäbisch«. 8 Auf die Frage des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, was bleiben werde von Bienzle, bestätigt dessen Autor Felix Huby – ohne dies zu beabsichtigen – das stereotype Muster: »Vielleicht der Mann, der vom schwäbischen Hauswirt gezwungen wird, die Treppe rechts nach oben und links nach unten zu gehen. Damit sie gleichmäßig abgenutzt wird und nicht nur in der Mitte«. 9

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Der WDR nahm schon zu Beginn der 1980er Jahre einen Konzeptwechsel vor: Nachfolger des pragmatisch-nüchternen Kommissars Haferkamp wurde Horst Schimanski, der gern auch als eine Art rebellischer Bürgerschreck rezipiert wurde. 10 Die Neuartigkeit der Serie zeigte sich schon in der ersten Szene der ersten Folge, Duisburg-Ruhrort, am 28. Juni 1981 – und auch hierfür spielte die Raumordnung eine entscheidende Rolle:

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Filmausschnitt 2: Duisburg-Ruhrort, 28. Juni 1981, WDR (0:00:20 bis 0:01:20).

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Die Kamera fokussiert einen Finger auf der Starttaste eines Kassettenrekorders; der Song Leader of the Pack (1964) der Girl-Group The Shangri-Las ist zu hören, der von Sehnsucht, Sommer und Motorradfahren handelt. Man sieht einen Mann von hinten, er kratzt sich am Rücken. Auf Augenhöhe mit diesem Mann schweift der Blick über eine Stadt, die zu großen Teilen aus Industrieanlagen zu bestehen scheint; diese prägen die Silhouette der Stadt. Der Mann wirkt ganz in sich versunken. Kurz: Nicht eine Handlung (oder gar ein Verbrechen), sondern eine Figur, nicht die Arbeitswelt der Figur, sondern ihr privates Umfeld stehen im Mittelpunkt. Dabei geht es weniger um das Privatleben des Kommissars als vielmehr um die Botschaft: Die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben ist durchlässig. Die Verbrechen ereignen sich dort, wo der Kommissar wohnt; die Täter sind in seinem unmittelbaren Umfeld zu Hause; er kennt sie und ist zudem physiognomisch und habituell mit den ›Objekten‹ seiner Recherchen leicht zu verwechseln. Seine Wohnung ist ebenso ›vermüllt‹ wie die ihre, sein Leben ebenso unstet; er spricht ihre Sprache. Zwischen Subjekt und Objekt wird so nicht mehr trennscharf unterschieden. Die Figur Schimanski ist Teil der Industrie- und Arbeiterstadt Duisburg, mit ihrem Schmutz, ihrer Armut, ihrer Melancholie und herben Schönheit. Die enge Verbindung von Figurendarstellung und Rauminszenierung führte sogar dazu, dass der Strukturwandel der Region seit den 1990er Jahren im Duisburger Tatort des WDR nicht mitgemacht wird – auch wenn man deshalb die ›Schmuddel‹-Locations und heruntergekommenen Straßenzüge oder Stadtviertel inzwischen in Köln aufnehmen musste, weil sie in Duisburg nicht mehr vorhanden waren. 11 Noch die eigenständige »Schimanski«-Folge Tod in der Siedlung (22. April 2007) reinszeniert und aktualisiert die Eingangssequenz von Duisburg-Ruhrort – nach 26 Jahren.

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Filmausschnitt 3: Tod in der Siedlung (bis 00:01:10).

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Es genügt im Übrigen, das Lokal nur zu benennen, ohne dass dieses zugleich im Bild erschiene:

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Beispiel 1: Wenn ein englischsprachiger weiblicher Gast in der Hotellobby die Reeperbahn auf dem Stadtplan erfragt (pars pro toto), ist die Stadt Hamburg als ganze präsent, obwohl die Folge Tod auf dem Eis mit den Kommissaren Stoever und Brockmöller von 1986 eine Art Kammerspiel vorführt und den Handlungsraum Hotel deshalb nie verlässt.

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Filmausschnitt 4: Tod auf dem Eis, 7. September 1986, NDR (ca. 0:41:00).

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Beispiel 2: Dass Kommissar Trimmel in einer Sequenz der ersten Tatort-Folge Taxi nach Leipzig von 1970 nicht mehr in Hamburg oder in der DDR unterwegs ist, sondern in Frankfurt, erfährt der Zuschauer über das Autoradio, aktuell über die Wetteransage des Hessischen Rundfunks (mit Erkennungsmelodie).

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Filmausschnitt 5: Taxi nach Leipzig, 29. November 1970, NDR (0:16:16 bis 0:16:37).

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Auf den Punkt – und schließlich auf die o.g. Typologie gebracht: Das ARD-Format Tatort bildet mit der Realität unterschiedlicher Räume die Eigenlogik deutscher Städte ab, die es in der Abbildung selbst erst erzeugt. »Filmische Stadtansichten sind immer Stadterfindungen«, sagt Guntram Vogt 12 ; und in Björn Bollhöfers kulturgeographischer Studie über die Kölner Tatort-Serie heißt es entsprechend: »Die Geographie der Filmwelt entspricht folglich nicht immer der Geographie der realen Welt. Vielmehr produziert sie Landschaften und erschafft Orte, die es ohne diese Filmwelt so nicht gäbe. Die Welt wird interpretiert […]«. Zugleich findet diese Interpretation resp. Kreation von Realität »Eingang in die alltägliche Wirklichkeit«. 13 Dabei betreibt die ARD-Reihe nolens volens so etwas wie Stadtmarketing – und das umso überzeugender, je genauer die Topographie der Städte (etwa als Wege durch die Stadt) erzählt wird. 14 Gelegentlich ist in der Literatur deshalb auch vom ›Werbefilmcharakter‹ der Reihe die Rede; 15 in Duisburg (Innenhafen), Köln, Münster oder Berlin werden bereits Tatort-Stadtführungen angeboten.

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Dass der Generationenwechsel in der Tatort-Serie des SFB Ende der 1990er Jahre nicht zuletzt darauf zielte, mit den neuen Kommissaren Ritter und Stark zugleich die Urbanität des Lokals in das einer Hauptstadt angemessene Licht zu rücken, ist in diesem Zusammenhang bezeichnend. So gesehen arbeitete die Berliner Tatort-Serie mit am Versuch Berlins, Hauptstadt zu werden und in der Konkurrenz mindestens mit den europäischen, aber auch mit den nordamerikanischen Metropolen zu bestehen: Till Ritters »erste Einsatzfahrten« seit 1999 »filmte man« wie eine »Sightseeingtour durch die neue Hauptstadt. Friedrichstraße, Mauerreste, Fernsehturm, Reichstagskuppel, zu viel Berlin, zu wenig Tatort«. 16

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Die programmatische Nähe der Reihe zur sog. Lebenswirklichkeit sowie der konzeptionell verordnete Bezug zu lokalen Ereignissen 17 spiegelt sich in einer Raumordnung, die die wiederum konzeptionelle »Kookurrenz« der ARD-Sendeanstalten reflektiert – die Kooperation in der Verwirklichung einer gemeinsamen Reihe und den Wettbewerb (= die Konkurrenz) im Serienvergleich. Insgesamt sind fünf Raumtypen auszumachen:

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• der Typus des lokalen Raums,

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• der Typus des globalen Raums,

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• der Typus des vernetzten Raums,

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• der Typus des ländlichen Raums sowie

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• der Typus des romantischen bzw. mythischen Raums.

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Die meisten der bereits zitierten Filmbeispiele lassen sich dem ersten Typus subsumieren: dem ›Realismus des Lokalen‹. Hier übernimmt die je spezifische Darstellung des Ermittlungsstandorts die Funktion, Lokalkolorit zu erzeugen, indem signifikante Bauwerke, Straßenzüge oder landschaftliche Eigenheiten eingeblendet werden: der Berliner Fernsehturm, die Stuttgarter Königsstraße, der Bodensee oder das Wattenmeer. Diese ›landmarks‹ sollen den Ort als solchen präsent werden lassen und in seinen Eigenheiten profilieren. Für den Handlungszusammenhang sind diese lokalen Details zumeist gar nicht oder nur sekundär relevant – etwa wenn an den Kölner Rheinbrücken eine Wasserleiche auftaucht oder das Mordopfer im Umfeld des Leipziger Thomanerchors oder des Stuttgarter Opernhauses situiert wird. Je genauer auf diese Weise ein Lokal dargestellt ist, desto weniger fällt ins Gewicht, dass nicht wenige Serien zumeist aus Etat-Gründen größtenteils im Studio oder an ganz anderen Orten gedreht worden sind: die SWR-Produktionen im Studio Baden-Baden, die Tatort-Folgen aus Ludwigshafen spielen szenenweise in Karlsruhe, und Schimanskis Duisburg wurde, wie bereits erwähnt, nicht selten in München oder Köln erzeugt. Zu den wirkmächtigsten Inszenierungen gehört die Erfindung der rechtsrheinischen Kölner Currywurst-Bude mit Panoramablick auf den Kölner Dom. Es handelt sich dabei (mit Bollhöfer) um einen sog. »Establisher-Shot«, der eine weite Einstellung in der Totalen vornimmt, um erstens einen Überblick zu bieten und zweitens ausreichend Platz für bekannte ›landmarks‹ zu schaffen. 18

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Bild 2: Kölner Currywurst-Bude.

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Dieselbe Funktion übernehmen, wie bereits am Stuttgarter Beispiel illustriert, stereotype regionale Zuschreibungen oder Dialekte, die zumeist zusätzlich ›feine (soziale) Unterschiede‹ markieren und damit Milieu-Studien ermöglichen – wie die Tatort-Reihe profitiert auch der neue deutsche Heimatfilm seit der Jahrtausendwende, prominent Marcus H. Rosenmüllers Wer früher stirbt ist länger tot (2006), von diesem Interesse. Schon in früheren Produktionen, etwa in Wodka Bitter-Lemon (Haferkamp, 13. April 1975; WDR), verweist der Dialekt – neben entsprechend gestalteten Wohnorten – auf die Distinktion arm (jung) und reich (alt). Das Mordopfer Irene ist jung, sie arbeitete als Lehrling in einem Betrieb, ihr Vater spricht Dialekt. Der Tatverdächtige ist schon älter, er gehört als Fabrikbesitzer (und damit als Chef jenes Betriebs, der Irene ausbildet) der Düsseldorfer High-Society an, das Hochdeutsche ist hier so selbstverständlich wie die Luxuslimousine oder die Jagd als Hobby. Die Industrie- und Arbeiterstadt Essen, also Haferkamps eigentlicher Ermittlungsstandort, rückt in dieser Folge gar nicht erst in den Blick.

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Dass der bislang einzige komplett in Plattdeutsch gedrehte Tatort »Wat Recht is, mutt Recht bliewen« (2. Mai 1982, NDR) in der Kritik und beim Publikum wegen Unverständlichkeit durchfiel, zeigt: Die Reihe Tatort fußt zwar auf regionalen Differenzen, ihre Folgen bedienen aber ein überregionales Publikum.

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Der zweite Typus, bezogen auf den ›Realismus des Globalen‹, versammelt Folgen mit unterschiedlichen Merkmalen, die sich der konzeptionellen Verpflichtung auf Regionalität entziehen oder diese transzendieren. Dies geschieht a. durch die Auflösung der Handlungsorte ins Beliebige – oder b. durch die Internationalisierung der Fälle und Orte – oder c. durch die Auflösung traditioneller Milieus über Ermittlerfiguren wie ›den Kroaten‹ Ivo Batic (München), ›den Italiener‹ Mario Kopper (Ludwigshafen) oder den ›deutschtürkischen Undercoverpolizisten‹ Cenk Batu (Hamburg). Dass – seiner Filmbiographie nach – der Saarbrücker Kommissar Franz Kappl (Maximilian Brückner; seit Aus der Traum, 15. Oktober 2006) aus einem kleinen Dorf nahe dem bayerischen Traunstein kommt (und deshalb gelegentliches Heimweh mit Hendlmeiers Hausmachersenf bekämpft) und der neue Stuttgarter Kommissar Thorsten Lannert (Richy Müller; seit Hart an der Grenze, 9. März 2008) aus Hamburg in die Schwabenmetropole übersiedelt, ist zwar an sich schon bemerkenswert. Daran lässt sich zum einen eine Tendenz zur fortschreitenden Delokalisierung der Reihe ablesen; zum anderen bietet die Konfrontation mit dem Ortsfremden die Chance, das Spezifische des Lokals genauer herauszuarbeiten.

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Bild 3: Richy Müller (rechts) alias Kommissar Thorsten Lannert.

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Dennoch kann der neue Stuttgarter Tatort, wie bereits angedeutet, als Beleg für a. (»Auflösung der Handlungsorte ins Beliebige«) gelten, zumal er von seiner Konzeption her genau darauf angelegt ist. Dem Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt zufolge handelt es sich bei Hart an der Grenze um einen Kriminalfilm, »der überall spielen kann«. 19

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Filmausschnitt 6: Hart an der Grenze, 9. März 2008, SWR. – Thorsten Lannerts erste Begegnung mit der Bevölkerung ›Stuttgarts‹.

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Entsprechendes gilt für den Generationenwechsel in Leipzig: In Todesstrafe (MDR, 25. Mai 2008), dem ersten Tatort mit den neuen Kommissaren Andreas Keppler (Martin Wuttke) und Eva Saalfeld (Simone Thomalla), findet sich so gut wie kein Lokalkolorit. Die Nachfolger des ›Berufs-Ossis‹ Peter Sodann (als Kriminalhauptkommissar Bruno Ehrlicher) »gehören zur assimilierten Generation, der man nicht mehr ansieht, anhört, anmerkt, ob sie aus der DDR oder der BRD stammt« (das gilt sowohl für die Schauspieler als auch für die von ihnen verkörperten Figuren). 20

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Die »Internationalisierung der Fälle und Orte« (b.) war der Reihe von Beginn an eingeschrieben. Durch sie sollte das Genre ›deutscher Kriminalfilm‹ internationales Renommee erwerben. Darüber hinaus stand das Realismus-Konzept im Vordergrund, nicht der Regionalismus. Das mag nicht zuletzt darin begründet sein, dass in den ersten Jahren bereits fertig gestellte oder weitgehend konzipierte Krimi-Produktionen der Sender nachträglich dem neuen Label Tatort subsumiert wurden – etwa die ersten Trimmel-Folgen oder die Serie mit Zollfahnder Kressin.

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Das regionale ›Fadenkreuz‹ wurde aber bereits bedient, gerade mit den Produktionen des BR, und seit Duisburg-Ruhrort zu Beginn der 1980er Jahre wurde es kontinuierlich weiter ausgebaut und konturiert. 21 Darüber hinaus sind Kombinationen aus globaler und lokaler Perspektive typisch für die Reihe Tatort. Beispiele hierfür sind etwa die vom amerikanischen Drehbuchautor und Regisseur Samuel Fuller verantwortete Kressin-Folge Tote Taube in der Beethovenstraße (7. Januar 1973, WDR), die einen weltweit agierenden Erpresserring mit dem Karneval in Köln koppelt – beim Publikum fiel die auf Englisch gedrehte und im Nachhinein synchronisierte Folge allerdings durch; die Schimanski-Folge Zahn um Zahn (27. Dezember 1987, WDR), die in Duisburg und Marseille spielt; die WDR-Produktion Manila (Ballauf/Schenk, 19. April 1998), die vermittels einer ambitionierten Filmästhetik und Dramaturgie und am Fallbeispiel von Kindesmissbrauch und Kinderhandel Kölner Lokalkolorit mit einem Auslandseinsatz auf den Philippinen kombiniert; oder die SWR-Folge Kalte Herzen mit Odenthal und Kopper (2. April 2000), bei der gemeinsame Ermittlungen der Ludwigshafener Kriminalpolizei mit einem Kollegen aus Los Angeles teils in Deutschland, teils in den USA durchgeführt werden (wobei der Hollywood-Schriftzug als Wahrzeichen von Los Angeles in ausführlichen Panoramafahrten in Szene gesetzt wird).

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Bild 4: Tote Taube in der Beethovenstraße,7. Januar 1973, WDR.

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Bild 5: Manila, 19. April 1998, WDR.

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Zwei aussagekräftige Beispiele für den dritten Typus (den ›Realismus der Vernetzung‹) bieten die beiden Koproduktionen von MDR und WDR: Quartett in Leipzig (26. November 2000), mit dem die ARD ›30 Jahre Tatort‹ feierte, sowie Rückspiel (10. November 2002) – jeweils ermittelten die Teams aus Köln und Leipzig gemeinsam, einmal in Leipzig, das andere Mal in Köln. Dadurch boten sich viele Gelegenheiten, die je spezifische Regionalität der Serien auszuagieren, indem sich ›das Eigene‹ der Beobachtung und den Kommentaren ›des Anderen‹ aussetzt und beidem standhalten muss. Zugleich legte es dieses Vorgehen nahe, das Verhältnis der sog. ›neuen‹ zu den ›alten‹ Bundesländern zu reflektieren.

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Im Zusammenhang einer Beschattung trifft Kain in Rückspiel auf einer Autobahn-Raststätte in der Nähe von Köln mit den westdeutschen Kollegen Ballauf und Schenk zusammen. Als diese ihn erkennen, heißt es gleich zur Begrüßung: »Bist Du in den Westen abgehauen oder hast Du Sehnsucht gehabt?« (10. November 2002, WDR/MDR; 0:10:43). Weil die beiden ostdeutschen Kommissare Köln nicht kennen (»Wir sind zum ersten Mal in Köln«; 0:18:02), kann das Lokal ausführlich ›zu Wort‹ kommen – etwa über Panoramaschwenks über die Kölner Rheinbrücken und den Dom (0:14:17 bis 0:14:25 u.ö.), über den berühmten Kiosk (1:02:33) oder auf einer Beschattungsfahrt durch die Stadt (1:11:30 bis 1:11:46). Während die Kölner Kommissare aber bislang noch nie den Weg ins renommierte Kunstmuseum des Erzbistums Köln, Kolumba, gefunden haben, also als Kulturbanausen vorgeführt werden, zitiert der gebildete Ostdeutsche Ehrlicher gelegentlich auch gern einmal den ›deutschen Nationaldichter‹ Friedrich Schiller (0:17:43 bis 0:17:46). Der ›Ossi‹ spricht Russisch – was für den Fall hilfreich ist (0:25:16 bis 0:25:20), der ›Wessi‹ versucht dies ebenfalls, allerdings mit mäßigem Erfolg (0:26:44 bis 0:26:49). Ballauf (»Grüppchen-Bildung Ost-West machen wir jetzt nicht«) und Ehrlicher (»Vom Westen lernen heißt Siegen lernen«) ziehen sich gern auf (0:55:28 bis 0:55:32), und Schenk erhält von seinen Kollegen einen Trabi als neuen Dienstwagen – in der Handhabung ist er auf seinen Beifahrer Ehrlicher angewiesen (0:59:48 bis 0:59:57 u.ö.).

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Mit anderen Worten: Das Ost-West-Thema, hier verarbeitet als Komödienthema, und das Thema ›Lokalkolorit West‹ erscheinen in der Darstellungslogik der Folge eng verzahnt. Kulturelle Differenzen werden zudem beim Thema ›Essen und Trinken in Köln‹ offensichtlich: Die Leipziger fühlen sich betrogen, weil sie auf die Bestellung des Kölner Lokalgerichts ›Halver Hahn‹ kein halbes Brathähnchen, sondern ein Roggenbrötchen mit Käse erhalten (1:15:55 bis 1:16:17). Das Finale versammelt schließlich alle vier Ermittler wiederum an der sog. »Wurstbraterei«, dem Kiosk also oder, wie es hier heißt, dem »Nabel der Welt«. Dabei sorgen neben dem Gebäude lokale Essgewohnheiten und lokales Liedgut (Willy Millowitsch) für die Erzeugung des ›Eigenen‹ im Blick der ›Fremden‹ aus dem Osten.

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Filmausschnitt 7: Rückspiel, 10. November 2002, WDR/MDR (1:25:41 bis 1:26:57).

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Ein weiteres Beispiel für den ›Realismus der Vernetzung‹ stellt jener sorgfältig erzählte Weg eines Ortsfremden durch eine Stadt in Automord dar (30. November 1986, HR): Wien begegnet Frankfurt, Oberinspektor Marek trifft auf Kommissar Brinkmann. Mareks fremdkulturell irritierter Blick auf Frankfurt und ›das Hessische‹ erschließt nicht nur den heimischen Raum als solchen sowie dessen (auch stereotype) Besonderheiten. Er lässt die scheinbare Überlegenheit dieses Raums zunehmend brüchig werden, indem er den Mehrwert des externen Blicks für die Ermittlungsarbeit komödiantisch herausstellt. Ohne die Mitarbeit des zunächst lebensuntüchtig und vertrottelt wirkenden Österreichers würde der Fall schwerlich aufgeklärt werden. Damit hat der Schauspieler Fritz Eckhardt seiner Figur des Oberinspektors ein eigenes Drehbuch geradewegs ›auf den Leib geschneidert‹. ›Das Österreichische‹ wird dabei als zwar umständliches, aber durchaus liebenswertes und mit ›Mutterwitz‹ ausgestattetes Alternativmodell zur trockenen Ermittlungsarbeit Brinkmanns profiliert.

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Filmausschnitt 8: Automord, 30. November 1986, HR; Mareks Begegnungen mit Einheimischen auf der Suche nach dem Weg ins Hotel Imperial.

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Für den vierten Typus, den ›Realismus des Ländlichen‹, liegen in den Produktionen der meisten Sendeanstalten Beispiele in je eigener Ausgestaltung vor. Ihr Pendant hat die gelegentliche Verlagerung der Ermittlungsarbeit in dörfliche Mikrokosmen, die auf überschaubarem Raum die gängigen Optionen zwischenmenschlicher Interaktion bereit halten und vorführen, im Genre des seit den 1970er Jahren konjunkturell schwankend, aber kontinuierlich entwickelten ›Neuen deutschen Heimatfilms‹: seien dies die Landarzt- und Schwarzwaldklinik-Serien oder Edgar Reitz’ Heimat-Trilogie der 1980er und 1990er Jahre, sei dies der neuerliche Heimatfilm-Boom seit der Jahrtausendwende (neben den Filmen Rosenmüllers u. a. Heimatfilm! von Daniel Kraus, 2003, Emmas Glück von Sven Taddicken, 2006, Requiem von Hans-Christian Schmid, 2006, oder der in Brandenburg spielende Film Jagdhunde von Ann-Kristin Reyels, 2007).

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Für dieses Genre gilt wie für die ins Ländliche verlagerten Tatorte, dass die Provinz nicht länger ein in sich geschlossenes, ›vormodernes‹ Alternativmodell zur Stadt bietet, die für die Neuerungen der Moderne herzuhalten hätte. Vielmehr ist, wie Wolfgang Struck gezeigt hat, die Provinz zum einen »längst Teil der modernen Welt«, zum anderen »Gegenstand einer Beobachtung, die aus der Ferne kommt, so dass die vermeintliche Heimat unter dem distanzierten, gleichsam ethnographischen Blick des Fremden […] selbst als fremd erscheinen kann und muss«. 22

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Struck bezieht sich dabei auf ein frühes Beispiel einer vorwiegend im ländlichen Raum angesiedelten Tatort-Serie: die Folgen mit dem Kieler Kommissar Finke, in denen nicht selten die schleswig-holsteinische Provinz zum Handlungsort wird; Kiel selbst bleibt zumeist ausgespart (nicht so die im Call-Girl-Milieu angesiedelte Folge Nachtfrost, 1974). Finkes erster Fall, Blechschaden (1971), spielt in Sieverstedt, der zweite, Strandgut (1972), auf Sylt, der dritte, Jagdrevier (1973), in einem abgelegenen ›norddeutschen Modell-Dorf‹ 23 namens Niederau – und der bis heute berühmteste Finke-Tatort, Reifezeugnis (1977), in einer Kleinstadt. Lokalkolorit wird in Strandgut etwa dadurch eingeholt, dass in einem sehr ausführlichen Abspann, der keinerlei Bezug zur eigentlichen Krimihandlung mehr hat (die Kommissare verlassen Sylt mit dem Autozug), und damit über eine gleichsam epische Landschaftsschilderung zugleich die eigentümliche geographische Lage der ›Insel‹ und die üblichen Zufahrts- und Abfahrtswege ins Bild gesetzt werden.

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Bild 6: Strandgut, 1972.

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Auch die Münchner Tatort-Kommissare zieht es gelegentlich in die bäuerlich-dörfliche Sphäre (Tod auf der Walz, 6. November 2005, BR), das Team Stoever und Brockmöller ermittelt auch einmal auf dem Campingplatz (Undercover-Camping, 2. November 1997, NDR) oder auf einer Insel (Tod vor Scharhörn, 7. Januar 2001, NDR), und Lena Odenthal in einem im Pfälzer Wald gelegenen Dorf. Letztgenannte Folge – Tod im Häcksler (13. Oktober 1991, SWF) – brachte es bis in den Landtag von Rheinland-Pfalz, der über etwaig diskriminierende Tendenzen dieser Folge für die entsprechende Region zu debattieren hatte, weil sich deren Vertreter gegen den Vorbehalt des Rückständigen und Archaischen zur Wehr setzten. Der ORF entwickelte das Sondermodell eines ›Neuen Bergfilms‹ (Passion, 30. Juli 2000), und die Hannoveraner Kommissarin Lindholm bewegt sich ohnehin vor allem in ländlichen Räumen, also in der Provinz und nicht in der ›Metropole‹ Hannover. Schon bei ihrem ersten Einsatz (Lastrumer Mischung, 7. April 2002, NDR), der im südoldenburgischen sog. ›Güllegürtel‹ situiert ist, erhält Lindholm eine Dauerwelle nach Dorfart; Märchenwald (24. Oktober 2004) spielt im Weserbergland und Hexentanz (13. April 2003) im Teufelsmoor nordöstlich von Bremen.

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Bild 7: Passion, 30. Juli 2000, ORF.

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Zu beachten ist dabei, dass die Ausweitung der Ermittlungsstandorte ›im Fadenkreuz der Republik‹ seit der Jahrtausendwende zugleich eine Ausweitung des Tatort-Konzepts auf einen Realismus ländlicher Regionen implizierte – in Analogie zum Konzept des ursprünglichen DDR-Konkurrenzformats Polizeiruf. Das gilt für die bereits erwähnte Serie aus Hannover ebenso wie für das Konstanzer Modell (Klara Blum seit 2002, SWR) oder die Folgen aus Münster (Boerne und Thiel, ebenfalls seit 2002, WDR). In diesem Sinne lässt sich von einer Provinzialisierung der Reihe Tatort seit der Jahrtausendwende sprechen.

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Diesem vierten Typus ist ein fünfter Typus zuzuordnen, der als ›Realismus des Romantischen bzw. Mythischen‹ bezeichnet werden kann. Die Nähe des fünften zum vierten Typus ist zumindest dann augenscheinlich, wenn im dafür einschlägigen Fall keine urbanen Räume, sondern Landschaftsräume im Mittelpunkt der Handlung stehen und diese zugleich motivieren oder kommentieren. Dies gilt etwa für die Blum-Serie aus Konstanz, die in nicht wenigen Folgen den Bodensee und die Bodensee-Landschaft zu einer Art Handlungsträger macht, indem sie diesen / diese zugleich ins Unbestimmte auflöst – augenscheinlich in 1000 Tode, 3. November 2002, SWR. Mit ähnlichen Landschaftsbildern arbeitet auch die Tatort-Serie aus Münster bereits in ihrer ersten Folge Der dunkle Fleck (20. Oktober 2002, WDR).

[75] 

Die Fälle aus Münster unterlaufen das Realismus-Gebot von Beginn an, indem neben der Konstruiertheit des Plots das Komödiantische ausgestellt wird: Der dunkle Fleck installiert eine Moorleiche, die nach vielen Jahren zufällig dann wieder auftaucht, als eine Frau ermordet wird. Als ehemaliges Kindermädchen des Hauses hatte diese die Tochter der noch jugendlichen Selbstmörderin aus deren inzestuöser Beziehung mit dem eigenen Vater an Kindes statt angenommen und aufgezogen. Das mythisch-nebulöse Bild in der Einleitungssequenz zitiert Unheimliches und Unerklärliches (bzw. beschwört eine entsprechende Atmosphäre), verstärkt noch durch die Stimme eines Kindes, das Annette von Droste-Hülshoffs Ballade Der Knabe im Moor, »O schaurig ist’s übers Moor zu gehn«, rezitiert. Zugleich führt sich schon diese Folge als Komödie ein, indem sie das bedrohliche Szenario im Bild der unversehens untergetauchten Hand bricht, die auf das Unwahrscheinliche der gesamten Anordnung verweist.

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[77] 

Filmausschnitt 9: Der dunkle Fleck, 20. Oktober 2002, WDR (Eingangssequenz).

[78] 

Darüber hinaus soll dieser letzte Typus die Kategorisierung jener (eher seltenen) Folgen und Fälle ermöglichen, die, wie die Odenthal-Folge Tod im All (12. Januar 1997, SWF), vom Realismus-Konzept der Reihe abweichen. Sie ruft die Standards zwar noch auf, unterläuft diese dann aber, wenn die Lösung des Falls ›überirdische‹ Erklärungsmuster nahe legt. Mit Andrzej Zalewski ist damit die Grenze zu postmodernen Filmkonzepten überschritten, die nicht länger auf eine (wenigstens annähernde) Entsprechung von realer und erzählter Welt im Film zielen. An die Stelle der realistischen Motivation tritt so eine rein ästhetische, die ohne Rücksicht auf Zuschauererwartungen den Konstruktcharakter der fiktionalen Welt hervorhebt und mit dem selbstreferentiellen Potential des Genres spielt. Anders gesagt: Die Tatort-Folge verweist auf sich selbst. 24

[79] 

[80] 

Filmausschnitt 10: Tod im All, 12. Januar 1997, SWF (Schlusssequenz).

[81] 

Ein Ufo hebt vor den Augen der Kommissarin ab und verschwindet im Weltall. Diese Erscheinung wird nicht erklärt. Vielmehr legt die Schlussgebung nahe, dass mit der ›Realität‹ einer solchen Erscheinung zu rechnen ist: Der geheimnisvolle Anrufer, der sich kurz vor der Abreise des Ufos per Telefon bei Lena Odenthal meldet, ohne sich zu erkennen zu geben, könnte aus dieser Welt stammen. Zugleich macht der dadurch motivisch erzeugte Rahmen des Films eine Verbindung zu eben jenem anonymen Anrufer plausibel, der zu Beginn der Handlung die Ermordung des Bestseller-Ufologen Lunik van Deeling gemeldet hatte.

[82] 

Wie auch immer dieser Schluss aufzulösen ist, für die Raumordnung dieser Folge jedenfalls hat er Konsequenzen: Das Lokal des Ludwigshafener Tatort wird in den Weltraum (hinein) transzendiert, in unbekannte Räume, die jenseits unserer Erfahrungswirklichkeit liegen, deren Existenz allerdings auch nicht endgültig widerlegt ist. Dass sich, wie eingangs gesagt, das Realismus-Konzept der ARD-Reihe nicht nur auf die nachvollziehbare Wirklichkeit, sondern zudem auf Möglichkeitsräume bezieht, ist in diesem Fall am weitesten (von allen uns bekannten Tatort-Fällen) ausgereizt.

[83] 

3. Münchner Räume

[84] 

Keine andere Tatort-Serie lässt sich so sehr auf die konkreten Lokalitäten einer Stadt ein wie die Produktion des BR mit dem Duo Batic und Leitmayr, das seit 1991 ermittelt. Diese Aufmerksamkeit ›aufs Lokal‹ gehört explizit zum Programm der für die Serie verantwortlichen Redakteurin Silvia Koller. Bei ihrem Amtsantritt in der Fernsehspiel-Redaktion hat sie deshalb den beliebten Radiosprecher des BR Udo Wachtveitl als Ermittlerfigur ausgewählt: Das bayerische Timbre einer bekannten Stimme sollte bei den Zuschauern offenkundig Heimatgefühle wecken. Auf jeden Fall verfolgt Koller dezidiert das Konzept, die Stadt München selbst zum Gegenstand der Kriminalhandlung zu machen.

[85] 

München, so Koller, wäre gern eine Weltstadt, sie sei aber »eine verkleidete Stadt« voller verkapselter dörflicher Mikrokosmen. In diesem Sinn wird der Heimatfilm als Konzept auf die Stadtdarstellung übertragen: »Die Stimmung, die Sinnlichkeit der Stadt muss glaubwürdig wiedergegeben werden«, betont Koller, wobei München nicht allein durch die Maximilianstraße repräsentiert werde (wie etwa der Kölner Dom im Tatort des WDR): »Es gibt auch Ecken, wo es noch zugeht wie vor fünfzig Jahren.« 25 Auf diese Weise kommen verschiedene Zeitebenen bzw. erinnerte Vergangenheiten ins Spiel, so dass in die Stadtdarstellung im Tatort des BR zunehmend historische Dimensionen eingeschrieben werden wie in den Folgen Das Glockenbachgeheimnis (30. September 1999) und Der oide Depp (27. April 2008). Darüber hinaus bezieht sich Koller mit diesem Konzept auf bestimmte Filmtraditionen, wenn sie neben den Screwball-Comedys von Lubitsch und Wilder den französischen Regisseur Eric Rohmer in der Tradition der Nouvelle Vague erwähnt. Von Rohmer zitiert sie den Satz, dass »die Straßen von Paris immer die richtigen Orte der Handlung« seien. 26

[86] 

In den Münchner Tatorten seit 1991 werden die städtischen Räume also bereits vom Konzept her weitaus weniger abstrakt bzw. sekundär durch Wahrzeichen zur Wiedererkennung erzeugt, wie dies an den skizzierten Beispielen anderer Sendeanstalten deutlich wurde. Mit anderen Worten dienen die Stadtansichten hier weniger zeichenhaft dem Lokalkolorit, sie werden vielmehr oft tatsächlich als ein konkreter Raum mit einem bestimmten Milieu genommen, in dem die Krimihandlung spielt. 27 Der städtische Raum ist dann nicht mehr – so wie in den oben ausgeführten Beispielen – mehr oder weniger zweitrangig, sondern er motiviert den Kriminalfall selbst. Genau deshalb werden Folgen wie Das Glockenbachgeheimnis auch an den tatsächlichen Schauplätzen, von denen die Rede ist, gedreht. Der Ort ist keine Erfindung, sondern er wird als realer Ort in die Fiktion der Kriminalhandlung integriert. Koller gibt Drehbücher nach dieser Maßgabe direkt in Auftrag, um darauf hin die dazu passenden Regisseure auszuwählen. Dazu gehören u.a. Martin Enlen, Dominik Graf, Vivian Naefe oder Friedemann Fromm von der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen, die maßgebend dazu beigetragen hat, dass München seit Faßbinder oder Rudolf Thome als Filmstadt prominent geworden ist.

[87] 

Nicht zuletzt ist München für den Fernsehkrimi als Genre bedeutsam: Folgt man Hickethier, so gilt die Stadt sogar »als die heimliche Hauptstadt des deutschen Krimis« 28 ; genauer müsste man sagen: als Hauptstadt des deutschen Fernsehkrimis, denn neben der ›ersten Krimiserie‹ Der Kommissar 29 ist z.B. auch Derrick in München situiert – dieser wie die Vorgängerserie mit Vorliebe im Villenviertel des Münchner Südens, in Grünwald. 30 Bis heute spielt München für den deutschen Fernsehkrimi auch außerhalb der Tatort-Reihe eine prominente Rolle, denkt man an Serien wie Unter Verdacht mit Senta Berger (Regie der drei ersten Folgen: Friedemann Fromm) 31 , an den Polizeiruf des BR mit Edgar Selge und Michaela May oder an die neue Serie Kommissar Süden mit Ulrich Noethen: Die beiden ersten Folgen nach Büchern von Friedrich Ani, der u.a. Das Glockenbachgeheimnis schrieb, wurden von den Münchner Tatort-Regisseuren Martin Enlen oder Dominik Graf gedreht. 32 Bereits in den frühen 1960er Jahren war München Schauplatz für den Fernsehkrimi, blickt man auf Serien wie Funkstreife Isar 12 (1960–1963) zurück, die in der Tatort-Folge Der oide Depp (2008) mit eingeblendeten Sequenzen und mit gezielt anachronistischen Mitteln (altes Filmmaterial, alte Kameratechnik, typische plot-Strukturen der 1960er Jahre) gleichsam dokumentarisch reinszeniert wurde:

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Bild 8: Der oide Depp, 2008; Blick auf das München der 1960er Jahre.

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Mit der Umstellung der Aufmerksamkeit auf konkrete Lokalitäten reagiert der Münchner Tatort auf Dominik Grafs Befund, der, wie zitiert, anlässlich der 400. Folge 1998 das »Verschwinden der Orte« in dieser Reihe feststellte: Es gebe keine »Topographien, keine Genauigkeit im Erzählen der Wege durch die Städte«. 33 Dass sich das Konzept, München selbst zum Ort der Krimihandlung zu machen, gerade in dieser Stadt anbietet, hat viel mit ihren spezifischen Verhältnissen, mit ihrer Eigenlogik zu tun.

[91] 

Wegen ihrer barocken und klassizistischen Architektur im Gefolge der Prunkbedürfnisse der Wittelsbacher im 19. Jahrhundert hat man München zur nördlichsten Stadt Italiens erklärt. Sie hat mit dem Föhn aus dem Süden ein ganz eigenes Klima, und sie ist trotz der Olympischen Spiele 1972 und trotz ihrer High-Tech-Industrie seit Franz Josef Strauß’ Politik aus Laptop und Lederhose bis heute durchaus dörflich strukturiert. Im Interview Ein Münchener Gefühl zählt Udo Wachtveitl Aspekte auf, die dieses Image und die soziale Atmosphäre begründen: München sei eine teure Stadt mit hohen Mieten, aber keine wirkliche Metropole, ein Ort mit pittoresken Ecken und »im besten Sinne unseriös«. Einerseits begünstigt dies die soziale Inklusion von ›Szenen‹, andererseits sorge die Biergartenkultur dafür, »dass alle miteinander gemütlich sein können«. Und weil hier »jeder gern so ein bisserl nach oben schmeckt«, bleiben auch die »Klassenschranken« durchlässig. 34

[92] 

Im BR-Tatort der 1970er und 80er Jahre, d.h. in der Ära von Melchior Veigl und Ludwig Lenz, ist noch die Tendenz festzustellen, München und seine Umgebung bloß zeichenhaft in Szene zu setzen, d.h. keine konkrete Lokalität zum Schauplatz der Handlung zu machen. Wie oben ausgeführt, gehört der Regionalismus nicht von Beginn an zum Tatort-Konzept. Allerdings verbindet sich der Realismus-Anspruch schnell mit der föderalen Organisationslogik der Reihe aus Serien einzelner Sendeanstalten. Früh kommen damit regionale Verhältnisse ins Spiel, ohne dass diesen jedoch notwendig bereits eine besondere Bedeutung für die Krimihandlung zukommt: Zwar hat bereits der Titel der ersten BR-Folge Münchner Kindl (9. Januar 1972) einen bayerischen Einschlag. Wie dann auch in der späteren Veigl-Folge Wohnheim Westendstraße (9. Mai 1976) spielt die Stadt für die Kriminalhandlung selbst aber nur bedingt eine Rolle, obwohl es tatsächlich eine Westendstraße in der Nähe des Hauptbahnhofs gibt, wo die Leiche des italienischen Gastarbeiters gefunden wird.

[93] 

Die Ausländerthematik in dieser Folge wird folglich an einem symbolischen Ort der Zu- und Abreise eröffnet. Sieht man von Veigls bayerischem Temperament ab, so könnte dieser Tatort tatsächlich ganz ähnlich in einer anderen Stadt spielen, selbst wenn die in der Folge thematisierte Konkurrenz zwischen Italienern (mit Sinn für Kultur) und Türken in München sowie die Liaison einer Münchner Bedienung in einem bayerischen Wirtshaus mit einem kulturbeflissenen italienischen Gastarbeiter (der Deutsch lernt und Opern hört) gerade in dieser Stadt aus den angedeuteten Gründen motiviert erscheint. Ansonsten spielt vor allem der Mittlere Ring eine gewisse Rolle, insofern die Autofahrten Veigls mit der Dolmetscherin durch das städtische Straßentunnelsystem zu seiner veränderten Einstellung gegenüber Ausländern beitragen. Das ›Bayerische‹ wird hier also insgesamt weniger über die städtische Topographie als über kulturelle Räume und Temperamente erzeugt, angezeigt durch den Dialekt und die mentalen Dispositionen der Ermittler Veigl und Brettschneider.

[94] 

Entsprechend abstrakt bleibt dann auch die Landschaftsdarstellung auf dem Weg zur illegalen Baustelle. Landschaft wird hier nicht als ein bestimmter Raum mit atmosphärischer Bedeutung gezeigt. Vielmehr wird sie in zeittypischer Manier, genauer auf der Basis der noch dominierenden »Fernsehspiel-Dramaturgie« 35 , ausgeschnitten und verengt, weil das Interesse in erster Linie der Handlung gilt. Man hat es folglich auch in der Darstellung von Naturräumen mit ›verstellten Blicken und engen Räumen‹ zu tun. 36

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Bilder 9a, b, c: Landschaftsdarstellung in Wohnheim Westendstraße, 9. Mai 1976, WDR.

[99] 

Erst in den 1980er Jahren wird München im Tatort in ersten Ansätzen zum Ort mit bestimmten sozialen Eigenheiten: etwa die Ludwigstraße über das Siegestor in Richtung Schwabing in der Eingangssequenz der Lenz-Folge Schicki-Micki (29. Dezember 1985). Diese Topographie wird hier atmosphärisch zum Träger einer Handlung, die bereits im Titel einen für München typischen Modus der Vergesellschaftung ins Spiel bringt. Der Fernsehzuschauer kennt ihn seit Helmut Dietls Serie Monaco Franze (1983 ff.) als ein Münchner Phänomen: Schwabing und die Schickeria gehören zusammen. Unterlegt mit ›bayerischen‹ Hackbrett-Klängen, schweift in Schicki-Micki ein Stadt-Indianer (ein ehemaliger Wirt, der sein Wirtshaus an Großinvestoren verloren hat) durch Schwabing, wo die alte Wirtshauskultur mitten in der Stadt durch neue touristische Attraktionen zerstört wird.

[100] 

[101] 

Filmausschnitt 11: Schicki-Micki, 29. Dezember 1985 (Eröffnungssequenz)

[102] 

Der Englische Garten, in dem man die Leiche findet, ist in dieser Folge dagegen kaum identifizierbar, sondern nur abstrakt an den Joggern im Zeichen seiner neuartigen Nutzung für den Freizeitsport zu erschließen. Er wird damit noch nicht wie dann in der Batic/Leitmayr-Folge Ein Sommernachtstraum (25. Juli 1993) zum Ort, der die Handlung selbst trägt. Insofern lässt sich an Schicki-Micki Mitte der 1980er Jahre der Übergang vom sekundär erzeugten zum konkreten Raum beobachten, der für die Krimihandlung selbst relevant wird. In Wohnheim Westendstraße spielt München dagegen als ein solcher Ort keine spezifische Rolle. Die Ausschließung der Gastarbeiter in Wohnheimen könnte vergleichbar genauso in anderen Städten spielen. Und selbst die erste Batic/Leitmayr-Folge Animals (1. Januar 1991) knüpft an das alte Paradigma an, wenn die meisten Räume sowohl in der Stadt als auch auf dem Land durchaus unspezifisch bleiben.

[103] 

[104] 

Filmausschnitt 12: Animals, 1. Januar 1991 (Eröffnungssequenz).

[105] 

Dagegen wird das Voralpenpanorama in der Folge …und die Musi spielt dazu (11. Dezember 1994) tatsächlich als bestimmte Landschaft um den Ammersee präsentiert – im damals neuen 16:9 Format, das Gestaltungsspielräume im Anschluss an Kinokonventionen eröffnet. Zugleich wird diese Landschaft wie ein künstlich koloriertes Postkartenidyll komplementär zum Kitsch der Volksmusiksendung inszeniert, so dass sie die in der Folge gestaltete Parodie auf dieses Fernsehgenre visuell beglaubigt.

[106] 

[107] 

Bild 10: …und die Musi spielt dazu, 11. Dezember 1994.

[108] 

Erst mit dem Ermittlerduo Batic/Leitmayr und dem von der Redakteurin Silvia Koller erarbeiteten Konzept – ein Münchner Tatort muss demnach ›münchnerisch‹ klingen; die Geschichte kann so nur in München spielen; der klare Blick auf ein Milieu ist unerlässlich 37 – erschließt die Serie sukzessive die konkrete Raumordnung einer Stadt und ihrer Umgebung: »Die Filmemacher arbeiten sich Folge für Folge durch die unterschiedlichen Quartiere, und im Optimalfall präsentiert man jedes davon in einer ganz eigenen Ästhetik. […] Episoden aus der Bayern-Metropole sind – und das im besten Sinne – Heimatkunde.« 38 Genauer besehen wird die Topographie der Stadt seit Mitte der 1990er Jahre nach allen Himmelsrichtungen hin erkundet, weil nun auch der hässliche Münchner Norden oder die Gegend nach Osten und damit auch in Richtung Niederbayern und Oberbayern ausgeleuchtet werden – also nicht mehr allein der idyllische Süden der Reichen und Schönen, das Villenviertel Grünwald oder der Starnberger See, wo noch Der Kommissar oder Derrick bevorzugt ermittelten. 39

[109] 

Die im ersten Teil erwähnte jüngere Tendenz, dass Tatorte wie die neuen Serien in Stuttgart oder Leipzig ›überall spielen können‹, trifft also gerade auf den Münchner Tatort seit Batic/Leitmayr meist nicht zu – obwohl natürlich auch das vorkommen kann, denkt man etwa an die nüchterne Sozialstudie Kleine Herzen (16. Dezember 2007): Gefilmt im Stil der Berliner Schule (Christian Petzold), ist München hier praktisch nicht wiederzuerkennen.

[110] 

Nicht selten wird die für den Münchner Tatort typische Anbindung der Krimihandlung an tatsächlich existierende Lokalitäten bereits im Titel einer Folge angekündigt: Viktualienmarkt (12. März 2000), Das Glockenbachgeheimnis (3. Oktober 1999) oder Der Traum von der Au (21. Oktober 2007). Über die Merkwürdigkeiten der Auer Dult als Touristenattraktion wird der Zuschauer gleich zu Beginn in Der Fremdwohner (17. November 2002) durch einen amerikanisch akzentuierten Radiosprecher informiert, der Karl Valentin persifliert und damit zugleich dessen Bedeutung für den teils skurrilen, teils subversiv-anarchischen Humor des Münchner Tatorts markiert. Der Titel A gmahde Wiesn (23. September 2007, Regie Martin Enlen) lässt das Oktoberfest (›die Wiesn‹) neben Konnotationen anklingen, die für den Fall symptomatisch werden (›ein Vorhaben, das nicht schief gehen kann‹). Andere Folgen spielen ebenfalls an konkreten Orten, die Münchens Topographie prägen: In der selten beachteten Folge Perfect Mind – Im Labyrinth (15. Dezember 1996) etwa dient der Englische Garten als Schutzraum für Gespräche, die der Kontrolle durch die Sekte entgehen sollen. Kainsmale (20. September 1992) zeigt eingangs die Isar-Auen, an denen Batic und Leitmayr mit Freundinnen ihre Freizeit genauso verbringen wie die neuen ›Gastarbeiter‹ aus der ehemaligen DDR. Eine jüngere Folge, Gesang der toten Dinge (29. März 2009), schließlich handelt zu großen Teilen im Schlosspark Nymphenburg.

[111] 

3.1 Typologie an Beispielen im Überblick

[112] 

Typus des ›lokalen Raums‹

[113] 

München als konkreter Ort bzw. München als ›Heimat‹ wird in der Folge Vorstadtballade (17. Dezember 2004) thematisiert, daneben in den Folgen Starkbier (7. März 1999) und Der Traum von der Au (21. Oktober 2007). Man erkennt an den Beispielen, dass sich die oben skizzierte Tendenz um 2000 verstärkt. Als Medien- und Kulturstadt wird München in Aida (7. Juli 1996) mit der Oper als Bestandteil des Münchner Kulturbetriebs profiliert. Bei anderen Folgen resultiert die lokale Anbindung aus den Genre-Parodien auf ›bayerische‹ Fernsehformate: auf Volksmusiksendungen des BR in der Folge …und die Musi spielt dazu (11. Dezember 1994) auf der einen Seite und auf die daily soap in Einmal täglich (29. Oktober 2000) auf der anderen. Hierbei ist an die Münchner Produktion Marienhof seit 1992 zu denken, mit der neben Gute Zeiten, schlechte Zeiten die Geschichte der daily soap im deutschen Fernsehen begann. Den Literaturbetrieb in der Verlagsstadt München persifliert Wenn Frauen Austern essen (12. Oktober 2003), das öffentliche Leben der Stadt als von einem ›Staatssender‹ wie dem BR und von einer einzigen Partei kontrollierte Sphäre thematisiert die Folge Perfect Mind – Im Labyrinth (15. Dezember 1996).

[114] 

Das Echtzeitexperiment Außer Gefecht (7. Mai 2006) stellt den Olympiaturm symbolisch ins Zentrum einer Handlung, in der es um die moralische Bewertung von Tötung auf Verlangen durch die Giftspritze geht.

[115] 

[116] 

[117] 

Bild 11a: Turm im Dunklen; Bild 11b: die Todesspritze.

[118] 

Nicht selten blicken Batic und Leitmayr auch sonst gern von diesem Wahrzeichen der Stadt im Norden über die Frauentürme hinweg zu den Alpen, aus deren Richtung der Föhn kommt. Symptomatisch wird das Olympiadorf in Dominik Grafs Folge Frau Bu lacht (26. November 1995) eingesetzt, die zu Recht für ihre filmische Grandiosität gerühmt wird. Der Ort erscheint hier auch deshalb motiviert, weil mit der Olympiade 1972 der Aufstieg Münchens zu einer Metropole im Zeichen der Globalisierung beginnt, die in dieser Folge im Unwetter aus Amerika als Vorschein der Klimakatastrophe ins Bild gesetzt wird. Auch die Darstellung sozialer Verhältnisse, die das Fremde im vermeintlich vertrauten Eigenen zeigen, wird präzise auf das z.T. heruntergekommene Olympiagelände im Münchner Norden (»Endzeit«) bezogen.

[119] 

[120] 

[121] 

Bilder 12a, b: Olympiadorf in Frau Bu lacht, 26. November 1995.

[122] 

[123] 

Filmausschnitt 13: Zeugin, die mit dem Fuß an einer herumliegenden Plastiktüte hängen bleibt.

[124] 

Ähnlich funktioniert die frühe Thematisierung prekärer Arbeitsverhältnisse und das entsprechend ärmliche Leben in dörflich strukturierten Münchner Vororten in der Folge Norbert (28. November 1999), die im ehemaligen Arbeiterviertel Berg am Laim im Osten der Stadt, an einer Gewerbezone zwischen Zentrum und dörflichem Umland spielt. Gerade hier führt der unverbindliche, bayerisch-kumpelhafte Umgang Leitmayrs mit Norbert als ›Freund‹ die Katastrophe herbei. Auch solche primär als Sozialstudien angelegte Folgen werden demnach an konkrete Lebensverhältnisse (die gerade in München deutlich zutage tretenden Unterschiede zwischen arm und reich) und an lokale Mentalitäten der Stadt zurückgebunden.

[125] 

[126] 

[127] 

Bilder 13a, b: Norbert, 28. November 1999.

[128] 

Nicht zuletzt gehört der Dialekt zu den Verfahren, Lokalkolorit zu erzeugen. In jüngerer Zeit schlägt er sich sogar in entsprechend gestalteten Titeln nieder: A ghmade Wiesn (2007) und Der oide Depp (2008) zum Beispiel. Erstmals deutet sich dies in der Folge …und die Musi spielt dazu (1994) an. In der Folge Der Prügelknabe (21. April 2003) profiliert ein Gastermittler aus Franken mit seinem Dialekt das spezifisch Bayerische von Batic und Leitmayr. In wachsendem Maße spielt dabei auch die Geschichte eine Rolle – genauer zum einen das Älterwerden der Ermittler in der midlife crisis (Schwarzer Advent, 8. November 1998), zum anderen die Erinnerung an ihre Jugend, die sich mit einem Ort als ›Heimat‹ verbindet, so in der Folge Das Glockenbachgeheimnis (1999) (siehe 3.2).

[129] 

Typus des ›globalen Raums‹

[130] 

Geht man, wie oben erläutert, von den Ermittlerfiguren aus, repräsentieren die BR-Folgen diesen Typus eher selten in Reinform, was das Konzept von Silvia Koller bestätigt: Batic und Leitmayr ermitteln nicht jenseits der Grenzen der bayerischen Landeshauptstadt und ihrer näheren Umgebung. Gelegentlich muss einmal mit dem Ausland telefoniert werden wie in der Folge Schwarzer Advent (1998), hier mit Chile, wo der autoritäre Vater des Täters lebt. Dies ist aber weniger für den Fall relevant als vielmehr dafür, die defizitären Fremdsprachen-Kenntnisse der Kommissare vorzuführen, die so einmal mehr als bloße local heroes gezeigt werden. Ähnlich funktioniert auch das broken English Carlos, als er die asiatischen Polizisten-Kollegen durchs Glockenbachviertel führt, worauf noch einzugehen ist (siehe 3.2). Mit Batic kommt schließlich der erste Ausländer als Kriminalhauptkommissar ins Deutsche Fernsehen, so dass an dieser Figur u.a. auch die Auflösung Jugoslawiens und die nachfolgenden Kriege der 1990er Jahre reflektiert werden. In der Regel herrscht im Münchner Tatort die oben erläuterte, durchaus typische Kombination des lokalen mit dem globalen Raum vor, so in Frau Bu lacht (1995), Die chinesische Methode (10. November 1991), Und dahinter liegt New York (23. Dezember 2001) (Sehnsucht nach Amerika) oder in der Folge Kleine Diebe (3. September 2000) (rumänische Straßenkinder). In der Genre-Parodie auf Volksmusiksendungen …und die Musi spielt dazu mit ihren bunten Trachten werden der code vestimentaire und das Verhalten von Batic und Leitmayr auf eine dafür einschlägige amerikanische Krimiserie bezogen: »Wegen zwei Kindsköpfen, die wieder mal Miami Vice spielen wollen, werde ich meinen Kopf nicht hinhalten« (1:14:31 bis 1:14:34).

[131] 

[132] 

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[134] 

Bilder 14a, b, c: …und die Musi spielt dazu, 11. Dezember 1994.

[135] 

Typus des ›vernetzten Raums‹

[136] 

Auch dieser Typ spielt im Münchner Tatort aus den erläuterten Gründen eher nur eine beiläufige Rolle. Beispiele hierfür sind der fränkische Kommissar aus Nürnberg als Urlaubsvertretung für Batic in der Folge Der Prügelknabe (21. April 2003), in der gleichzeitig ein kroatischer Verwandter Batics auf Besuch als Kollege in die Ermittlungen hineinredet. Lena Odenthal ist als Fan des FC Freiburg im Olympiastadion zu Gast in Kleine Diebe. In der Folge Gesang der toten Dinge (29. März 2009) ermittelt eine Kollegin aus Basel als Carlo-Ersatz, womit sich die Frage stellt, wie diese Funktionsstelle nach dem Ausscheiden Carlos in Zukunft besetzt sein wird: mit einer neuen Figur in der Kontinuität der Folgen oder mit wechselnden Gastermittlern, die einen entsprechend exotischen bzw. für Münchner Verhältnisse fremden Touch haben. Damit würde die zum frühen Tatort-Konzept gehörende Amtshilfe 40 aktualisiert (die seit den 1980er Jahren in den Hintergrund trat), um so durch einen Blick von außen das Münchnerische zu profilieren.

[137] 

Typus des ›ländlichen Raums‹

[138] 

Der Münchner Tatort erschließt das ›Bayerische‹ nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land, und zwar in alle Himmelsrichtungen: Wolf im Schafspelz (24. Februar 2002) etwa thematisiert das Bauernsterben im Münchner Norden; Tod auf der Walz (6. November 2005) in der Regie von Martin Enlen begibt sich in den Süd-Osten, genauer in die gemäßigte Voralpenlandschaft Oberbayerns mit dem fiktiven Ort Wurmannsreuth im Landkreis Miesbach, wobei durch die Zimmermannskluft Bezüge zum DDR-Eastern Spur der Steine (1966, mit Manfred Krug) evident werden. Dominierend für die Bildsprache dieser Folge sind atmosphärische Landschaftsbilder bei vorherrschendem Eindruck epischer Langsamkeit. Durch gleitende Überblendungen und das vorherrschende matte Grün, das den Raumeindruck flächig macht, wird Zeitlosigkeit erzeugt. Komplementär dazu wird der fiktive Ort Wurmannsreuth als archaischer Raum mit Riten und Aberglauben exponiert.

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[142] 

Bilder 15a, b, c: Tod auf der Walz, 6. November 2005.

[143] 

Der Bezug auf den ›Neuen deutschen Heimatfilm‹ bleibt deutlich, zumal auch hier die vermeintliche Idylle durch häusliche Gewalt in der dörflichen Welt und durch die Stigmatisierung Andersartiger gebrochen erscheint. Dem Heimat-Raum mit seinen festen Grundmustern, gezeigt in geschlossenen Räumen, werden offene Räume als das Fremde entgegengesetzt. Dies trifft sowohl auf die Walzleute als auch auf die Stadt München zu: Das ländliche, ebenso festgefügte wie patriarchalische Wertesystem kollidiert mit dem Kapitalismus in der Stadt. Der Bauunternehmer Pirner erscheint in seinem Profitstreben als Zerstörer und Ausbeuter. Sein modernes, offenes Büro steht im Gegensatz zum Bauernhof der Familie Leitgeb. Im sozialen Raum reagieren die Figuren auf dessen Wert- und Sinnangebot, weil sie durch ihn gebannt bleiben. Der Heimat wird neben der engen Verbindung der Familie auch eine spezifisch bauliche und landschaftliche Qualität zugeschrieben. Die bayerische Naturlandschaft wird durch kulturelle Setzungen wie die spezifische Esskultur (Weißbier, Schweinsbraten) semantisiert. Zu diesem Raum gehören Vorratsholz, grüne Hügel, schmale Pfade und die Dorfkirche als Zeichen des katholischen Glaubens.

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Bilder 16a, b: Tod auf der Walz, 6. November 2005.

[147] 

In eine andere Himmelsrichtung geht die Folge Wolf im Schafspelz (24. Februar 2002), in der das Bauernsterben im Münchner Norden thematisiert wird. Die Folge Vorstadtballade schließlich verknüpft das Münchner Schlachthofviertel im Südwesten der Stadt mit seinen Traditionsgaststätten und seiner Altmünchner Atmosphäre mit Figuren vom Land, wenn sich Simon Schwendtner und seine Verlobte Burgi Wiese aus dem Niederbayerischen zu einem Operettenabend in die Stadt aufmachen.

[148] 

Typus des ›romantischen‹ bzw. ›mythischen Raums‹

[149] 

Für diesen Typus stehen die atmosphärisch aufgeladenen Landschaften in der Folge Tod auf der Walz: Im dörflichen Raum sind noch archaische Auffassungen der Landbevölkerung aus Fluch und Aberglauben virulent. Die ländliche Umgebung ist geprägt durch Sitten und Gebräuche, die zur Mythologisierung von merkwürdigem Verhalten führt: Franzi Brandl wird aus der dörflichen Gemeinschaft ausgeschlossen, mit Aberglauben belegt und mit einem Abwehrzauber ›bekämpft‹. Franzi selbst hält an der Vorstellung fest, dass jeder, der sie liebt, sterben muss. Das Verflucht-Sein und ihre Projektionen verbinden sich in der Wahrnehmung: In Franzi selbst, die an parapsychologische Fähigkeiten glaubt, wird die Differenz zwischen Einbildung und Realität durchlässig. Alle Grenzen geraten ins Schwimmen, und die Landschaft bildet diese Grenzauflösung ab, indem in das diffuse matte Grün rote Töne einwandern.

[150] 

Erst zum Schluss, auf Franzis Weg in den Westen, gewinnt die Landschaft wieder klare Konturen. So wird in dieser Folge das Fremde eigener Kulturtraditionen im eigenen Kulturraum gezeigt, z.B. im Schnack, einer Kunstsprache der Walzleute. Nimmt man darüber hinaus die Metaphorik der ›Schächte‹, das dominante Wasser-Motiv und die psychischen Folgen sozialer Umstände im Unbewussten hinzu, dann lässt sich diese Folge als ein Komplementärunternehmen zum (ebenfalls von Martin Enlen gedrehten) Glockenbachgeheimnis lesen: Auch hier gehen die semantischen Komplexe ›Heimat‹ und Erinnerung eine unheilvolle Verbindung ein.

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[152] 

[153] 

Bilder 17a, b: Tod auf der Walz, 6. November 2005.

[154] 

Weiterhin ist diesem Typus die Folge Ein mörderisches Märchen (4. März 2001) zuzuordnen, insofern der Täter die Ermittler mit Rätselspielen vor sich hertreibt, die deren professionelle hermeneutische Kompetenzen narrt; außerdem die Folge Der Fremdwohner (17. November 2002), die das rätselhafte Sozialverhalten des ›Fremdwohnens‹ in der ohnedies von komischen Figuren bevölkerten Au durchspielt. Leitmayr muss sich dieses sonderbare Phänomen erst von einer fachkundigen Psychologin erklären lassen.

[155] 

3.2 Das Glockenbachgeheimnis

[156] 

Dass in der von Martin Enlen gedrehten Folge Das Glockenbachgeheimnis (Drehbuch Friedrich Ani) in erster Linie der Typus des ›lokalen Raums‹ abgedeckt wird, legt schon ihr Titel nahe: Sie siedelt die Krimihandlung in einer konkreten Topographie, in einem real existierenden Münchner Stadtviertel an, in dem Leitmayr geboren wurde und seine Kindheit bis zum 12. Lebensjahr verbracht hat. Komplementär dazu wird diese Heimat ins Verhältnis zur verlorenen jugoslawischen Heimat von Batic gesetzt, so dass sich aus dem expliziten Besprechen dieser beiden unterschiedlich vergangenen Heimaten Überschneidungen mit dem Typus des vernetzten Raums ergeben. Diese kommen mit dem gemeinsamen Urlaub von Frieda, Doris und Paul Rochus in Jugoslawien und damit durch Friedas Liebe zum Kroatischen ins Spiel. Sowohl Batic als auch Leitmayr werden durch Frauen im Glockenbachviertel (Frieda und Susi) an ihre jeweiligen Jugendlieben erinnert. Für Leitmayr aber ist das Glockenbachviertel der noch bestehende Ort individueller Kindheitserinnerungen, während die Heimat von Batic nicht mehr existiert.

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Bild 18: Vorspann mit Blick auf das Viertel, Straßenschild Gärtnerplatz.

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Straßenschilder und Stadtansichten verweisen auf Lokalitäten des Viertels, die an den Originalschauplätzen wie dem Gärtnerplatz, dem Spielplatz am Glockenbach oder an der Holzstraße gedreht wurden. Explizit erwähnt wird die Hans-Sachs-Straße. Eine Ausnahme bildet nur das Café Jasmin, das tatsächlich 1952 in der Maxvorstadt gebaut wurde und damit nicht zum Viertel gehört. Zugleich erfährt der Zuschauer durch Carlos Stadtführung mit einer Gruppe japanischer Polizei-Kollegen einiges über die Geschichte des Viertels vom einstigen ›Kleine-Leute-Viertel‹, das auch durch Leitmayrs Erinnerung an die dortigen früheren Wohnverhältnisse als solches deutlich wird, zum Zentrum der Münchner Schwulen- und Lesbenszene seit den 1980er Jahren. Carlo dazu abfällig: »Super Viertel. Zugereiste, Schwule, Ausländer« (0:18:43) – komplementär zu seiner ebenso spöttischen Erklärung von Leitmayrs Herkunft gegenüber den Japanern: »He’s a real working class heroe« (0:55:59).

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Der Umbruch zum ›In‹-Viertel wird auf die Handlung um die Scham des Homosexuellen Paul Rochus und auf dessen Geheimnis mit den Jugendfreundinnen Frieda und Doris bezogen. Auch diese Scham geht auf Rochus’ religiöse Sozialisation in den 1950er Jahren zurück. (Er bekreuzigt sich beim Selbstmordversuch.) Diese Zeit ist in der Wohnung, in der Rochus zusammen mit seiner Mutter lebt, konserviert. Die ›Zugereisten‹ aus Künstlern, Starfriseuren und Freischaffenden mit Bars und Kneipen lösen seit den 1980er Jahren die alte, geschlossene Sozialstruktur auf, die sich zugleich im verstockten bzw. ›verschwiegenen‹ Verhalten der hier aufgewachsenen Bewohner bewahrt: Eine Dame in einem Mietshaus verweigert Batic und Leitmayr den Zutritt; stets müssen sich beide als Polizisten, selbst gegenüber Kindern, ausweisen. Seit den 1990er Jahren ist die Gegend ein begehrtes Wohn- und Ausgehviertel. Diese Mischung aus Alt und Neu macht das Viertel nun auch attraktiv für Großinvestoren, die sich, so Leitmayr, zuerst »Schwabing unter den Nagel gerissen« haben, »dann Haidhausen, dann Neuhausen, jetzt das Glockenbachviertel« (0:21:32).

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Topographisch ist für die Folge der Gegensatz von Oben und Unten kennzeichnend: Oben finden die Baumaßnahmen für das noble Altenheim ›Glockenbachparadies‹ durch den Architekten Feuerbach statt – gebaut für reiche Münchner in einem alten Viertel der kleinen Leute. Unten fließt der Glockenbach durch dieses von Stadtbächen durchzogene Gebiet. Allerdings ist dieser Bach in den Untergrund verbannt bzw. im wahrsten Sinn des Wortes zubetoniert worden, während oben nur noch der Westermühlbach fließt, in dem Rochus zu Beginn der Folge die Leiche seines Freundes Leonard – Lennie – Martens entdeckt. Auch diese historischen Sachverhalte werden in der Folge explizit mitgeteilt, u.a. durch Einblendung älterer Karten vom Viertel.

[162] 

Der Verlust dessen, was als Heimat gefühlt wird, führt bei Leitmayr zu wehmütigen Erinnerungen – gerade im generationenübergreifenden Sinn. Hatte Leitmayrs Großvater in einer Bürgerinitiative noch für den Erhalt des letzten oberirdischen Baches im Viertel gekämpft, ist die unterirdische Geographie jetzt längst in Vergessenheit geraten. Weil aber Leitmayr aus seiner Kindheit das geheimnisvoll verborgene Kanalsystem kennt, durchschaut er auch den Mordhergang.

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Vorgestellt wird die Gegend zunächst von Carlo, der als Ersatz-Reiseführer eine Gruppe japanischer Polizisten im Polizei-Bus, der die Radfahrer drängelt, durch die Stadt führt: »The very famous Glockenbachviertel«, so Carlo radebrechend zu den vom Unheimlichen seiner Berichte erstaunten Kollegen, »is the most, äh, äh, geheimnisvoll, hm…huuuh…mysterious Viertel in Munic. There is water under every house« (0:02:44): Es gebe hier zahllose Morde, »in the last years, sixteen people were killed […] and the mörderes are still on the streets« (0:03:10) –»da Wahnsinn«, kommentiert daraufhin der Busfahrer in typisch bayerischer Manier zwischen Spott und Verwunderung und mit abschätzigem Blick die Ausführungen des Ersatz-Reiseführers.

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Filmausschnitt 14: Gruppe japanischer Polizisten im Polizei-Bus.

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In der verborgenen Unterwelt verzweigt sich das Geheimnis des Mordes. Denn dieser steht in Verbindung mit einem früheren Unfall beim Kinderspiel, an dem Frieda, Doris und Paul beteiligt waren und das einem mit den dreien befreundeten Jungen durch Ertrinken das Leben gekostet hatte. Gleich zu Beginn zeigt die Folge das Ereignis und bringt dadurch das leitmotivische Wasser ins Spiel.

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Bild 19: Das Glockenbachgeheimnis (0:01:06).

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Die unterirdischen Bachläufe des Glockenbachviertels werden so als Ort eines Kindheitstraumas lokalisiert. Sie führen den Zuschauer in eine dunkle Tiefe, in die Kindheit der 1950er Jahre im Glockenbachviertel, und sie stehen für den fließenden Untergrund, für das Unbewusste und Verdrängte in der Erinnerung – v.a. in der traumatisierten Psyche des Homosexuellen Paul Rochus, in der das Geheimnis der verschworenen Dreiergemeinschaft so eingekapselt ist, wie im Café Jasmin die Zeit der 1950er Jahre still gestellt zu sein scheint: Hier zeigt sich die Gegenwärtigkeit der 1950er Jahre bis ins ikonographische Detail: im Schriftzug und in der Inneneinrichtung.

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Bilder 20a, b: 0:15:26 und 0:08:38.

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Das amorphe Wasser der Unterwelt steht für das Unbewusste des Viertels. Mit der filmischen Wiederholung der Szene tritt das Geheimnis an die Oberfläche, als sich Frieda dazu bekennt, Leonard Martens ermordet zu haben. Das Wasser als Zentralmotiv steht aber auch für die Zeit: für ihr Fließen und für den Kontrollverlust, den die stockende blaue Tinten-Schrift im Abschiedsbrief von Rochus mit ihren nach Links und Rechts fallenden Buchstaben festhält und zugleich abbildet.

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Bild 21: 1:03:12.

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Unten fließt das Wasser, oben scheint die Welt in Schnee und Eis erstarrt zu sein. Vielfältig umspielt die Folge diesen semantischen Komplex in leitmotivischen Wasserbildern und Wasser-Geräuschen: stürzendes Wasser in der Eingangszene; das Plätschern und Rauschen des Baches; der Regen; das Eingießen des Kaffees; schließlich die Wassertropfen oben und in den Schächten bis hin zu den Tränen von Doris nach dem Bruch des Geheimnisses durch Friedas Liebe zu Batic. Darüber hinaus spiegelt sich das Motiv in den kalten Händen Friedas und der in ihrer hellen Design-Wohnung vorherrschenden Farbe Blau gegenüber den warmen Farben und Tönen in Rochus’ dunkler Wohnung mit ihren Rosen-Tapeten, gelben Narzissen oder in Rochus’ rot-blauem Karopullover.

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Bild 22: 0:54:52.

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Auch die von ihm als eine Art Markenzeichen bevorzugte violette Fliege im Zeichen seiner Homosexualität verweist auf seine Zwischenposition. Die verwelkenden Rosen im Café Jasmin gegenüber den die Zeit konservierenden Tapeten-Rosen symbolisieren die Vergänglichkeit, während mit den kalten Händen der Mörderin Frieda der Mord nicht mehr ausgelöscht werden kann. Friedas Hände erzählen die Geschichte: Sie sind es, die Lenny töten, und sie bleiben deshalb für immer kalt. Batic wiederum fühlt sich sofort an die kalten Hände seiner ersten Freundin in Kroatien erinnert. Auch die Hände verweisen damit auf die Zeit, auf ihr Vergehen und auf das Unvergängliche in der Erinnerung.

[180] 

Darüber hinaus wird das Fließen, nicht zuletzt durch gleitende filmische Übergänge, auf vielfältige Weise thematisiert: etwa im Feng Shui des Architekten Feuerbach, der beim Verhör eine Skizze mit Wasser-Symbolik anfertigt und den mangelnden Ermittlungserfolg von Batic und Leitmayr mit dem fehlenden Fluss ihrer Büros erklärt.

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Bild 23: 0:38:32.

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›Unten‹, d.h. im Inneren bzw. in der Erinnerung der Figuren fließt es so unkontrollierbar wie das hereinströmende Wasser in der Eingangssequenz oder die blaue Tinte auf Rochus’ Abschiedsbrief. ›Oben‹ dagegen ist alles in einer Winterstadtlandschaft zu Eis erstarrt, so dass nur der Konsum von Getränken Grenzen zerfließen lässt: Weißbier, Weißwein, Tee und Kaffee korrespondieren erkennbar den ständig zu hörenden Wassergeräuschen.

[184] 

Auf die ›globalen‹ Aspekte des in dieser Folge auch historisch gestaffelten lokalen Raums verweisen vor allem die Baumaßnahmen, die bereits in der ersten Stadtansicht auf das Glockenbachviertel angedeutet werden.

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Bild 24 (Wiederholung von Bild 18): 0:02:07.

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Auch die Räume des Architekten Feuerbach unterscheiden sich durch ihre moderne und helle Einrichtung von den dunklen Kneipen des Viertels. Selbst die Schwulenkneipe, in der der ermittelnde Batic als netter Polizist ein Bier spendiert bekommt, ist dunkel, an diesem Tag aber auch wie ausgestorben, weil ihre üblichen Besucher bei einem Marianne-Rosenberg-Konzert sind. Den neuen Verhältnissen werden damit anachronistische Räume gegenübergestellt, in denen sich das alte München bewahrt – auch in der dunklen Kneipe »Kapaun« mit einem extrem bayerischen Wirt, der wiederum gegenüber den Schwulen keine Vorurteile hat: »Mir san a tolerande Wirtschaft. Do gibts nix«.

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[189] 

Bild 25: 1:06:06.

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Vor allem wird die Globalisierung an den Kollegen aus Japan gezeigt, die Carlo durch Münchens Sehenswürdigkeiten führt (und zwar deshalb, weil sich die dafür eigentlich zuständige Kollegin mit bayerischem Essen den Magen verdorben hat). Im Blick der japanischen Gäste äußert sich das, was die Welt von München kennt: Als Leitmayr hoch oben über der Stadt vom Turm gegenüber dem Rathaus auf das Münchner Stadtviertel Giesing hindeutet, löst das bei den Besuchern sofort mit freudigem Lächeln den Namen »Beckenbauer« aus (0:56:18). Die Globalisierung lokaler Räume zeigt sich schließlich an Details: Die japanischen Kollegen sind Teil der Münchner Touristen, ausgestattet mit modernsten Digitalkameras; die Mutter von Paul Rochus spielt in ihrer antiquierten Wohnung Computer-Schach, und die bayerischen Ermittler essen Sushi und trinken Bier dazu (weil dies magenschonender sei).

[191] 

Auch die Schwulen-Szene im Viertel verweist auf die Globalisierung Münchens seit den 1980er Jahren: In einer Szene wird sie als toleranter und aufgeschlossener gezeigt als die verstockten Bewohner des Viertels. Trotz dieser äußerlich günstigen Bedingungen kann aber Rochus seine Scham über die eigene Homosexualität nicht überwinden. Er begreift sie als Abweichung, obwohl sie gerade in diesem Viertel kein Problem wäre. Daran zeigt sich die Übermächtigkeit der eingekapselten Vergangenheit, denn er kann seiner Sozialisation in den 1950er Jahren nicht entrinnen. Die Verdrängung der eigenen Homosexualität schlägt sich nieder im zwanghaft schematischen Verhalten und schnell ausbrechender Aggression. Scham empfindet Rochus einerseits deshalb, weil das Geheimnis der Kindheit ans Tageslicht kommt, andererseits, weil er die Aufdeckung seiner Homosexualität befürchtet. Der Wunsch nach Befreiung von Schuld und Scham begründet seine Sehnsucht nach Erlösung im Tod, die aber auch schnell in Aggression umschlagen kann: sowohl in der Großmarktszene, in der bemerkenswerterweise Fisch verkauft wird, als auch nach seinem Selbstmordversuch gegenüber Leitmayr.

[192] 

Der ländliche Raum bleibt in der Folge insofern präsent, als das Glockenbachviertel in den 1950er Jahren noch dörflich strukturiert war, angedeutet in der Lederhose des ertrinkenden Jungen. So hat man sich wohl auch Leitmayr in seiner Kindheit vorzustellen. Selbst die Funktion der verlorenen Wette, die Batic, Leitmayr und Carlo dazu bringen, sich die Haare bzw. den Bart zu rasieren (Jugend vs. Alter), lässt sich auf die Präsenz der Kindheit in der Gegenwart beziehen: Einerseits steht sie im Verhältnis zum Kinderreim beim Ertrinkungsspiel (»eins zwei drei und Du bist frei«; 0:00:35), andererseits zur mehrfach wiederholten Rede, dass auch der Unfall durch Ertrinken doch nur ein Spiel von Kindern gewesen sei. (Beide Ermittler werden in der Folge explizit als über 40 Jahre alt bezeichnet, so dass sie Mitte der 1950er Jahre geboren sind.)

[193] 

Ländlich wirken vor allem die dunklen Wirtshäuser. Sie präsentieren sich wie die Wirtshäuser in der Folge Auf der Walz oder in der Folge Vorstadtballade, die an der Grenze zwischen Stadt und Land im ›vorstädtischen‹ Schlachthofviertel spielt. Hier wird einem verlobten Paar aus Niederbayern, das sich zu einem Operettenbesuch in der Stadt aufhält, Gewalt angetan, obwohl sich die beiden darin zunächst anheimelnd geborgen gefühlt haben.

[194] 

Der ›romantische Raum‹ äußert sich im Unheimlichen des in der Unterwelt verschlossenen Geheimnisses: Frieda, Doris und Paul teilen einen Unfall ihrer Kindheit als Erinnerung, der als Trauma in ihren Psychen wuchert. Das Unheimliche bleibt subjektiv gebrochen wie die Erinnerung an die Kindheit selbst. Die Unterwelt des Glockenbachviertels repräsentiert damit einen Erinnerungsraum (und ein Modell der Psyche), der in der Folge präzise auf die Topographie der 1950er Jahre bezogen wird. Dies verdeutlicht zuletzt ein bemerkenswerter szenischer Übergang, der einmal mehr auch das Fließen der Zeit abbildet: Als Batic den Liebesbrief an Frieda (die er gerade verhaftet hatte) empfängt, steigt in einem short cut in Leitmayr mit der Stimme Susis die Erinnerung an einen Abschiedsbrief auf, den er als Jugendlicher von seiner frühen Liebe erhalten hatte. Gleich darauf sieht man, wie Leitmayr, gebeugt über den Westermühlbach, sich an diese erste Freundin erinnert.

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[196] 

Filmausschnitt 15: Das Glockenbachgeheimnis (1:26:26 bis 1:27:48).

[197] 

Mit der kreisenden Kamerabewegung über ihm und über dem fließenden Bach wird er selbst in das Viertel und seine Erinnerungen als Heimat eingeschlossen. Die Kamerabewegung weist ihn so als einen Teil des Ortes und seiner Geschichte aus. Durch Einstellungsgrößen der Totale und Halbtotale werden die Personen in der ganzen Folge ihrem Handlungsraum untergeordnet: Sie wirken durch ihn bestimmt. Gleich zu Beginn wird das Stadtviertel mit einer weiten Einstellungsgröße eingeführt und dann schnell auf seine Figuren fokussiert, so dass auch vorher bereits andere Figuren als Teil der Stadt-Landschaft erscheinen.

[198] 

»In unserer kleinen Stadt« sinniert Batic ganz zum Schluss, wodurch er Leitmayr für den Besuch des Hofbräuhauses am letzten Tag der Japaner aus der Erinnerung an Susi herausreißt. ›Unsere kleine Stadt‹ meint zum einen das überschaubare München mit seinen geschlossenen Stadtvierteln. Zum anderen steckt darin eine Anspielung auf Thornton Wilders Stück Our town (1938), das in der Tradition des Epischen Theaters von der Präsenz der Toten in der eigenen Gegenwart handelt: in Wilders Stück durch die temporäre Rückkehr der toten Emily in ihr Leben in Grover’s Corners.

[199] 

Zugleich wird mit dieser Anspielung die Topographie der 1950er Jahre literarhistorisch gewendet. Wilders Drama stellt das allgemein Menschliche im Alltag durchschnittlicher Personen auf der Sinn-Suche dar, indem es die wiederkehrenden Grundfragen der menschlichen Existenz an wichtigen Stationen ihres Lebens behandelt. Der parabolische Modellcharakter des Stücks erklärt dessen großen Erfolg auf den Bühnen in Nachkriegsdeutschland und dann auch als Schullektüre. Der Titel wird zitiert, als Leitmayr dem Ende seiner Jugend nachsinnt. Susi hatte ihn damals verlassen, weil er sowieso einmal eine Karriere als »Geheimagent« in der großen weiten Welt machen würde. Aber auch Leitmayr ist nie aus München hinausgekommen.

 
 

Anmerkungen

Zu Einschaltquoten und Marktanteilen von 1970–2003 vgl. Christina Ortner: Migranten im tatort. Das Thema Einwanderung im beliebtesten deutschen TV-Krimi. Marburg: Tectum 2007, S. 58–63 – zu den neuesten Zahlen siehe http://www.daserste.de/tatort/beitrag_dyn~uid,5tcmwk8npmvi6hxv~cm.asp, eingesehen am 8. August 2009.   zurück
Bertram Eisenhauer: Tatort Deutschland. Sozialgeschichte und Mentalitäten im Spiegel des Kriminalfilms. In: Claudia Cippitelli / Axel Schwanebeck (Hg.): Das Mord(s)programm. Krimis und Action im deutschen Fernsehen. Frankfurt/M.: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik 1998, S. 63–87, hier S. 65.   zurück
Jochen Vogt: Tatort – der wahre deutsche Gesellschaftsroman. Eine Projektskizze. In: J. V. (Hg.): MedienMorde. Krimis intermedial. München: Fink, S. 111–129, hier S. 117, 111.   zurück
Beispiele für Motivimporte bei Björn Bollhöfer: Geographien des Fernsehens. Der Kölner »Tatort« als mediale Verortung kultureller Praktiken. Bielefeld: transcript 2007, S. 186 ff.; für multiple Raumzuschreibung, ebd., S. 190.   zurück
Dass die beiden Kommissare seit Tödliches Verlangen dauerhaft nicht mehr in Dresden, sondern in Leipzig ermitteln, bestimmt zum einen die Szene des Films, mit der Ehrlicher und Kain in die Folge eingeführt werden: Ehrlicher und Kain nähern sich ihrer neuen Wirkungsstätte an, indem sie sich einer Führung durch das stadthistorische Museum anschließen und sich (ebenso wie dem Zuschauer) ein genaues ›Bild‹ davon machen. »Lass’ uns erst einmal die Stadt kennen lernen«, so Ehrlicher zu Kain, gebeugt über eine Modelldarstellung der Stadt Leipzig (0:04:47). Zum anderen schließt ein Detail des Vortrags im Museum den neuen Ermittlungsstandort zugleich mit dem Thema des aktuell verhandelten Falls zusammen: Der Hinweis auf das Schwert, mit dem Woyzeck hingerichtet worden sei, ruft eine ›klassische‹ Dreiecksbeziehung auf, um die es auch im vorliegenden Fall geht (hier zwischen Mutter, jugendlichem Liebhaber und Tochter). Die Führung durchs Museum erfolgt darüber hinaus in unverkennbar sächsischem Dialekt.   zurück
Bernd Dörries: Richy, fahr schon mal den Porsche vor! Stuttgarts Kommissar Bienzle war nirgendwo so unbeliebt wie in Stuttgart selbst. Der neue Tatort mit Richy Müller soll urbaner, schneller und vor allem weniger schwäbisch sein. In: Süddeutsche Zeitung, 7. März 2008 (http://www.sueddeutsche.de/kultur/683/435430/text/, eingesehen am 8. August 2009). – Vgl. auch: Heike Hupertz: So stellt man sich Männerfreunde vor. Mit Richy Müller und Felix Klare bricht eine neue Ära des Stuttgarter Tatorts an. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. März 2008, Nr. 58, S. 45.   zurück
Nikolaus von Festenberg / Barbara Supp: »Heilige Liebe, heiliges Geld«. Autor Felix Huby, 68, über den Abschied seines Tatort-Helden Bienzle, das Regionale und das Ewig-Böse in den TV-Anstalten. In: Der Spiegel 8/2007, 17. Februar 2007, S. 76.   zurück
10 
Zu Haferkamp und Schimanski vgl. Eisenhauer (Anm. 4), S. 79 f., 81 ff.; Thomas Koebner: Tatort – zu Geschichte und Geist einer Kriminalfilm-Reihe. In: Institut für Neuere deutsche Literatur Philipps-Universität-Marburg (Hg.): Tatort. Die Normalität als Abenteuer (Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 9, Dez. 1990). Marburg: Schüren 1990, S. 7–31, hier S. 20 f.; Egon Netenjakob: Das Vergnügen, aggressiv zu sein. Zum Schimanski-Konzept innerhalb der Tatort-Reihe der ARD. In: ebd., S. 32–39; Wilma Harzenetter: Der Held »Schimanski« in den Tatort-Folgen des WRD. Ein Protagonist der achtziger Jahre. Alfeld: Coppi 1996; Eike Wenzel: Expeditionen in die Kälte – Die Haferkamp-Tatorte. In: E. W. (Hg.): Ermittlungen in Sachen Tatort. Recherchen und Verhöre, Protokolle und Beweisfotos. Berlin: Bertz 2000, S. 137–159; Eike Wenzel: Nicht mehrheitsfähig. Interview mit Hajo Gies. In: ebd., S. 163–174; Eike Wenzel: Der Star, sein Körper und die Nation. Die Schimanski-Tatorte. In: ebd., S. 175–202.   zurück
11 
Mark Terkessidis: Die Heimatflüsterer. Ausländische Namen machen verdächtig. Im Tatort ist das Regionale immer noch gut deutsch. Und wenig authentisch. In: du. Zeitschrift für Kultur, Nr. 779, 2007, S. 26 f.    zurück
12 
Guntram Vogt: Die Stadt im Kino. Deutsche Spielfilme 1900–2000. Marburg: Schüren 2001, S. 12.    zurück
13 
Bollhöfer (Anm. 6), S. 19.   zurück
14 
Dominik Graf: 400 Jahre Tatort! In: Programmdirektion Erstes Deutsches Fernsehen (Hg.): 400. Tatort. München: FilmRed. 1998, S. 6–11, hier S. 11: »Das Verschwinden der Orte, die Beliebigkeit der Szenerien ist die fatalste Schwäche der Serie geworden. Dabei war es die größte Stärke seines Konzepts, die verschiedenen Orte, die unterschiedlichen Räume zu erzählen. Jetzt gibt es noch hier und da mal eine Totale der Städte, und es gibt den einen oder anderen eher folkloristischen Dialekt-Auftritt von Nebendarstellern. Aber es gibt keine Topographien, keine Genauigkeit im Erzählen der Wege durch die Städte […]«.   zurück
15 
»Die Krimireihe entwirft ein Image der Städte«, »inszeniert […] die deutschen Städte als konsumierbare Kulisse, als touristisches Bild, in dem die Besonderheit des Ortes, seine Authentizität, gerade durch das Klischee gewährleistet wird« (Terkessidis [Anm. 11], S. 27).   zurück
16 
Clemens Niedenthal: Von A bis Z. Ein Tatort-Glossar. In: du. Zeitschrift für Kultur, Nr. 779, 2007, S. 45–53, hier S. 45.   zurück
17 
Gunter Witte: 200mal Tatort. Eine Erfolgschronik ohne Beispiel. In: ARD-Magazin 2 (1987), H. 6, S. 6–8, hier S. 4: »Dessen Hauptvorzug ist es offensichtlich, hierzulande produziert zu sein, heimische Geschichten zu erzählen. So hieß auch das ursprüngliche Konzept: Einbeziehung der regionalen Besonderheiten eines jeden Sendegebietes, Auswahl von Stories, die mit der Realität zu tun haben, ohne dabei Dokumentarcharakter zu beanspruchen«. Dementsprechend wird der Tatort aus der Perspektive des Auslands als spezifisch deutsch wahrgenommen: Michael Kimmelman: German Viewers Love Their Detectives. In: New York Times, 26. August 2009 (http://www.nytimes.com/2009/08/27/arts/television/27abroad.html?_r=1, eingesehen am 3. September 2009).   zurück
18 
Bollhöfer (Anm. 6), S. 134.   zurück
19 
Dörries (Anm. 8).   zurück
20 
Else Buschheuer: Langsam ist es egal. Simone Thomalla und Martin Wuttke sind als neue Leipziger Tatort-Kommissare nicht mehr eindeutig ostdeutsch. In: Süddeutsche Zeitung, 21./22. Mai 2008, Nr. 117, S. 15.   zurück
21 
Vgl. dazu Terkessidis (Anm. 11).   zurück
22 
Vgl. Wolfgang Struck: Kommissar Finke und die Ethnographie der Provinz. In: Wenzel (Anm. 10), S. 105–126, hier S. 113.   zurück
23 
Ebd., S. 118.   zurück
24 
Vgl. dazu Andrzej Zalewski: Strategiczna dezorientacja. Perypetie rozumu w fabularnym filmie postmodernistycznym. Warszawa: Instytut Kultury 1998, S. 68, 76.   zurück
25 
Michael Seewald: Sie machen den Tatort, sagte ihr Chef. Die Kommissare des Tatorts aus München kennt jeder. Kaum einer aber Silvia Koller, die beim Bayerischen Rundfunk die Fäden zieht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Mai 2008, Nr. 118, S. 38.   zurück
26 
27 
Zum Milieu-Realismus als Anspruch Kollers vgl. auch http://www.tatort-fundus.de/web/index.php?id=6951, eingesehen am 8. August 2009.   zurück
28 
Knut Hickethier: Einleitung. Das Genre des Kriminalfilms. In: K.H. unter Mitarbeit von Katja Schumann (Hg.): Filmgenres Kriminalfilm. Stuttgart: Reclam 2005, S. 11–41, hier S. 36.   zurück
29 
Ingrid Brück / Andrea Guder / Reinhold Viehoff / Karin Wehn: Der deutsche Fernsehkrimi. Eine Programm- und Produktionsgeschichte von den Anfängen bis heute. Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, S. 148.   zurück
30 
Vgl. dazu Dominik Graf: München – Die nackte Stadt. In: Wenzel (Anm. 10), S. 255–258, hier S. 255.   zurück
31 
32 
33 
Graf (Anm. 14).   zurück
34 
Eike Wenzel: Ein Münchener Gefühl. Interview mit Udo Wachtveitl. In: Wenzel (Anm. 10), S. 245–254, hier S. 246.   zurück
35 
Brück / Guder / Viehoff / Wehn (Anm. 29), S. 204 f.   zurück
36 
Vgl. die so untertitelten Abbildungen bei Struck (Anm. 22), S. 110, zudem die Abb. S. 119, 120.   zurück
37 
Zit. nach http://www.tatort-fundus.de/web/index.php?id=6951, eingesehen am 8. August 2009.   zurück
38 
Christian Buß: Brisanz gibt es nicht zum Nulltarif. Ab und zu wagt eine Produktion die Konfrontation. Und wir erfahren etwas über den Zustand des Landes. In: du. Zeitschrift für Kultur, Nr. 779, 2007, S. 30 f., hier S. 31.   zurück
39 
Vgl. Graf (Anm. 30), der die Abkehr vom Süden und die Hinwendung zu den sozial prekären Wohngebieten in Giesing (S. 255) oder im Münchner Norden – hier spielt auch Grafs Folge Frau Bu lacht – als Kennzeichen des Münchner Tatorts seit den 1990er Jahren ausführt (S. 256 f.).   zurück
40 
Beispiele bei Niedenthal (Anm. 16), S. 45.   zurück