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Paläographische Forschung lebt

  • Karin Schneider: Gotische Schriften. II. Die oberdeutschen Handschriften von 1300 bis 1350. 2 Bände. Band 1: Textband: 8. Band 2: Tafelband: 4. Wiesbaden: Residenz 2009. 384 S. 162 s/w Abb. EUR (D) 248,00.
    ISBN: 978-3-89500-603-6.
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Fortsetzung

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Nach fast einem Vierteljahrhundert hat Karin Schneider ihre sicher als grundlegend zu bewertenden 1 Studien zu den gotischen Schriften in deutscher Sprache 2 mit einem Band zur ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts fortgesetzt. Die stark angestiegene Handschriftenproduktion in dieser Zeit zwingt die Autorin dazu, sich auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts und auf den oberdeutschen Sprachraum zu beschränken. Sie unterteilt den Raum in verschiedene Subregionen, die sich nicht ganz mit denen des Vorgängerbandes decken: zum bayerisch-österreichischen und südwestdeutsch-alemannischen Raum gesellen sich noch Böhmen sowie Nordbayern und Ostfranken.

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Die Methode hat sich gegenüber dem älteren Band nicht verändert. Karin Schneider ermittelt in den datierten lateinischen Handschriften die Kriterien, die als Indizien für Datierung und Lokalisierung der Schrift verwendet werden können. Es zeigt sich dabei, dass der Ansatz produktiv ist, »Zierelemente« nicht nur generalisierend als Teil des kalligraphischen Niveaus zu werten, sondern sie als zeittypische Stilmerkmale zu betrachten. 3 Karin Schneider bespricht dann eingehend ihre Beispiele und ordnet sie, solide auf kodikologische Hintergrundinformationen und kunsthistorische Forschungsmeinungen gestützt, paläographisch ein. Eine Beschreibung der Schreibsprache gibt zu jedem Stück weitere Hinweise für die Lokalisierung. Ebenso dienen kodikologische Beobachtungen wie zum Beispiel die typische Gestaltung der Versanfänge in den bayerisch-österreichischen Handschriften als Indizien.

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Wie schon der Vorgängerband, liefert der Tafelteil von der überwiegenden Mehrzahl der im Textband besprochenen Handschriften je eine Seite. Die Photographien sind hervorragend, und dennoch kann man die paläographischen Beobachtungen im Text nicht immer am Bild nachvollziehen, schlicht weil nicht immer alle Phänomene auf einer Seite zusammenkommen, wie zum Beispiel ein Zierstrich am auslautenden t in Stuttgart WLB HB III 22 (S. 52) auf Tafel 41 nicht zu finden ist.

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Schriftsystem und -entwicklung

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Was sind nun die Ergebnisse dieser Methode? Karin Schneider ordnet ihre Schriftformen in ein System aus Textura, Textualis, Halbkursiven und Kursiven, in denen sich im 14. Jahrhundert Studienkursiven, Kanzleikursiven und Buchkursiven zu differenzieren beginnen. Die kalligraphische Textura erstarrt am Beginn des 14. Jahrhunderts. Moderne Stilelemente sind die Weiterentwicklung der doppelten Brechung, die rechtwinklige Umbrechung von Schaft und Fußstrich, die Verzierungen an Oberlängen, auslautendem t und dem Schulterstrich des r oder die konkaven Einwölbungen ehemals gerader Federzüge beispielsweise am Kopf des a, im h-Bogen und an den Köpfen von e und c. Sie helfen, zwischen Schriften vom Anfang und aus der Mitte des 14. Jahrhunderts zu unterscheiden. Die Textualis ist gegenüber diesen Entwicklungen offener, nimmt aber auch vereinfachende Formen auf, verlängert s und f unter die Zeile oder verzichtet auf die Buchstabenverzierungen. Damit ist die Grenze zu Schriften erreicht, die als Halbkursiven aus der Kursive Schleifenbildung und verlängerte Unterlängen an s und f übernehmen. Buchkursiven sind in dem vorgestellten Material noch die Ausnahme und finden sich eigentlich erst im zweiten Jahrhundertviertel.

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Bei der Mikrosicht, die Karin Schneider einnimmt, fällt auf, wie wenig von einem durchgestalteten Schriftsystem die Rede sein kann, sobald man die Merkmale der kalligraphischen Typen wie eines textus praescissus verlässt. Die einzelnen Buchstabenformen, mit deren Hilfe »alte« und »moderne« Schriften identifiziert werden, ziehen sich deshalb auch durch das gesamte Spektrum der Formen: Das zweistöckige a, die ›verkümmerte‹ Form des g mit verkleinerter, beinahe in das Mittelband integrierter Unterlänge, der Übergang vom Schrägstrich auf dem i zum i-Punkt, das Aufkommen des ›Brezel‹- und des ›Rücken‹-s sind ein paar der Merkmale, die sich verstärkt im von Karin Schneider untersuchten Zeitraum durchsetzen. Dabei lassen sich diese modernen Elemente am frühesten im Südosten (Bayern und Österreich) belegen, während gleichzeitige Schriftbeispiele aus dem Südwesten eher konservativ wirken.

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Weniger Schriftlichkeitsforschung als Handschriftenneudatierungen

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Die ausgewählten Handschriften enthalten überwiegend literarische Texte. Jedoch schon der Umstand, dass der Schreiber des oberbayerischen Landrechts auch literarische Handschriften geschrieben hat, zeigt, wie sinnvoll es ist, auch Verwaltungsschriftgut in die Analysen mit einzubeziehen. So verwendet Karin Schneider auch Urbare und Urkunden als Referenzpunkte. Aus Sicht des Historikers wäre hier eine Vertiefung zu wünschen, die helfen könnte, Schriftlichkeit als Kulturtechnik besser einzuordnen.

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Karin Schneider ist behutsam mit zusammenfassenden Interpretationen in diesem Bereich. Als Leser kann man vielleicht als ein Fazit formulieren, dass die Gestalt der Schrift vorrangig dem kalligraphischen Anspruch des Schreibers und seines Auftraggebers sowie dem Stand des Schreibers geschuldet ist, während die Sprache des geschriebenen Textes nur eine untergeordnete Rolle spielt. Der Hauptnutzen der Arbeit liegt jedoch in der systematischen Zusammenstellung von paläographischen Merkmalen und darin, wichtige Schriftdenkmäler in deutscher Sprache mit den gewonnenen Merkmalen zu begutachten.

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Die katalogartige Besprechung der einzelnen Schriftdenkmäler ermöglicht Karin Schneider nämlich einige Datierungen und Lokalisierungen, welche die bisherige Forschung korrigieren. Als Beispiele seien hier nur kurz genannt Wien cod. 2685 (S. 35 f.) mit einer Kaiserchronik und Wien cod. 12887 mit einem Passionsspielfragment (S. 36 f.), Cgm 57 mit einem Text von Mai und Beaflor auf fol. 1–52 (S. 114), die Sammelhandschrift des so genannten »Wasserburger Codex« aus der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe cod. Donaueschingen 74 (S. 142), Kremsmünster Hs 243 mit einem Speculum humanae salvationis auf lateinisch und deutsch (S. 143 f.) oder das Marquard-Biberli-Legendar in Solothurn S 451 (S. 147). Das Handschriftenverzeichnis des Bandes ist also für den textkritisch arbeitenden Germanisten sicher ebenso wichtig wie das Inhaltsverzeichnis.

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Zukunft der Paläographie?

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Angesichts der zeitlichen und räumlichen Beschränkung stellt sich die Frage, ob man sich mit derselben Methodik systematische Studien zu Mittel- und Niederdeutschland oder zur zweiten Hälfte des 14. Jahrhundert wünschen sollte. Die Leistung, die Karin Schneider mit den beiden bisherigen Bänden erbracht hat, legt ein klares Ja als Antwort nahe. Die in der systematischen Zusammenschau ermittelten Schriftmerkmale können offensichtlich helfen, ungenaue und unklare Datierungen und Lokalisierungen zu verbessern. Diesem Urteil widersprechend, liefern die Bände ausreichend Beispiele für konservative und individuell gestaltete Schriften, die nicht paläographisch eingeordnet werden können, so dass man auch die Skepsis von Gerhard Powitz ob der paläographischen Methode verstehen kann. 4 Aktuelle Forschung sucht deshalb zum Beispiel mit Hilfe des Computers nach mit dem menschlichen Auge nicht mehr eindeutig zu beschreibenden Schriftmerkmalen. 5 So weit muss man nicht gehen. Es hätte näher gelegen, die markanten Buchstabenformen und Gestaltungsmerkmale in den Handschriften als Bilder tabellarisch anzubieten, eine für die modernen Informationstechnologien leichte Aufgabe, die inhaltlich im schematisierten Aufbau des Buches schon angelegt ist. Sie wäre vielleicht eine sinnvolle Erweiterung des bewährten Konzeptes gewesen.

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Bei der Lektüre des Buches könnte der Eindruck entstehen, dass Paläographie jenseits der Bestimmung des Schreibers in Jahrhundertvierteln abliefe und Datierungen auf Jahrzehnte genau ermögliche. Dabei zeigen auch die Studien Karin Schneiders ebenso wie andere aktuelle Studien, dass die Phasen des Übergangs lang sein können, für den Übergang von der gotischen Kursive des 15. Jahrhunderts zur Kurrent hat zum Beispiel Ellen Bosnjak jüngst eine Experimentierphase von einem Dreivierteljahrhundert ausgemacht, in der alte und neue Formen ohne Regelmaß parallel verwendet werden. 6 Karin Schneiders Neudatierungen ziehen solche Phänomene jedoch in Betracht und sind so eine gute Grundlage für die weitere Arbeit mit den Handschriften. Die von Karin Schneider verwendeten Kriterien für die Datierung und Lokalisierung deutschsprachiger Handschriften können und sollten deshalb als Hilfsmittel auch für Schriften von Texten in lateinischer Sprache betrachtet werden. Auch der zweite Teil der Gotischen Schriften in deutscher Sprache ist mehr als nur eine germanistische Spezialstudie, nämlich ein paläographischer und kodikologischer Referenzpunkt.

 
 

Anmerkungen

Vgl. die Rezensionen von C.W. Edwards in: Modern Language Review 85 (1990), S. 239–241 und Walter Koch in: ZBLG 52 (1989), S. 684–685.   zurück
Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. Bd. I: Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband, Tafelband. Wiesbaden 1987.   zurück
Karin Schneider: Buchstabenverzierungen als Datierungshilfen im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert. In: Scriptorium 54 (2000), S. 35–39.   zurück
Powitz-Kritik: Gerhardt Powitz: Datieren und Lokalisieren nach der Schrift. In: Bibliothek und Wissenschaft 10 (1976), S. 124–136 und G.P.: Was vermag Paläographie? In: Urkundensprachen im germanisch-romanischen Grenzgebiet. Hg. von Kurt Gärtner und Günter Holtus. Beiträge zum Kolloquium am 5./6. Oktober in Trier. (Trierer Historische Forschungen 35) Mainz 1998, S. 233–251. Auch in: G.P.: Handschriften und frühe Drucke. Ausgewählte Aufsätze zur mittelalterlichen Buch- und Bibliotheksgeschichte. (Frankfurter Bibliotheksschriften 12) Frankfurt/M. 2005, S. 9–41.   zurück
Vgl. z.B. Mark Aussems / Axel Brink: Digital Palaeography. In: Codicology and Palaeography in the Digital Age. Hg. von Malte Rehbein, Patrick Sahle und Torsten Schaßan. (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 2) Norderstedt 2009, S. 293–308.   zurück
Ellen Bosnjak: Urkundenpaläographische Untersuchungen zum Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit (15. und 16. Jh.). In: AfD 55 (2009), S. 263–344.   zurück