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Schiller. Charlotte Schiller

Gaby Pailer entdeckt die Autorin Charlotte Schiller wieder

  • Gaby Pailer: Charlotte Schiller. Leben und Schreiben im klassischen Weimar. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009. 203 S. Gebunden. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3534219735.
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»Gedenkjahre«, so konstatiert Claude Haas in einem ZEIT-Artikel zu Schillers 250. Geburtstag, »finden offenbar statt aus Pietät und Verlegenheit. Die meisten Bücher, die zu solchen Anlässen erscheinen, sind Geschenkartikel für Leute, die schon alles haben.« 1 Mag Haas’ Beurteilung auch etwas zugespitzt sein; das Gefühl, dass – vier Jahre nach dem Schillerjahr 2005, in dem sich der 200. Todestag jährte – erneut eine Anzahl von Texten auf den Markt geworfen werden, die nicht als »streitbare Diskussionen über das Schillersche Werk« gelten können, sondern als »einfühlsame Schilderungen der Lebensstationen und des familiären Umfelds des Dichters,« 2 kann einen durchaus beschleichen.

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Noch ein Schiller-Buch? Ja!

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Bei dem hier zu besprechenden Text nun handelt es sich um eines dieser neu erschienenen Schiller-Bücher, aber das Buch ist keiner der Texte, die nur als »Geschenkartikel dienen für Leute, die schon alles haben«, sondern es leistet einen genuinen Beitrag zur (literaturwissenschaftlichen) Forschung. Denn nicht Friedrich Schiller steht diesmal im Zentrum des Interesses, sondern Charlotte Schiller, geborene von Lengefeld, seine Frau. Nun könnte man einwenden, dass dies nichts Neues sei. Schließlich war ›Schillers Frau‹ in den letzten Jahren häufig Thema verschiedener erfolgreicher Monographien, zu nennen wären beispielsweise Eva Gesine Baurs »Mein Geschöpf musst Du sein.« Das Leben der Charlotte Schiller oder Hansjoachim Keines Schillers Lotte. Porträt einer Frau in ihrer Welt. Und auch das ›komplexe‹ Verhältnis zwischen Schiller und den beiden Schwestern von Lengefeld wurde – unter anderem von Ursula Naumann (Schiller, Lotte und Line. Eine klassische Dreiecksgeschichte) und Jörg Aufenanger (Schiller und die zwei Schwestern) – untersucht.

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Trotzdem gibt es einen entscheidenden Unterschied: All diesen Texten ist gemein, dass sie Charlotte Schiller mehr oder minder als ›Schillers Gattin‹, als die Frau an der Seite des großen Dichters in den Blick nehmen. Gaby Pailer wechselt in ihrer Monographie die Perspektive: Sie widmet sich explizit dem »Leben und Schreiben« Charlotte Schillers, rekonstruiert also nicht nur die Biographie einer Dichterehefrau, sondern gibt der Leserin, dem Leser auch die Möglichkeit, Einblick in das schriftstellerische Schaffen der Autorin Charlotte Schiller zu erhalten.

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Zum Aufbau

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Zehn Kapitel widmet Pailer dieser Neuperspektivierung: Nach einigen Vorbemerkungen, unter anderem zur bisherigen Auseinandersetzung mit Charlotte Schillers Textproduktion und allgemeinen Anmerkungen zu unterschiedlichen Konzeptionen von weiblicher Kreativität im 18. Jahrhundert, untersucht Pailer die literarischen Werke der Jugendjahre, beispielsweise eine ausführliche Reisebeschreibung und zahlreiche Gedichte (Kapitel II und III). Die Verlobungszeit, das Dreiecksverhältnis zwischen Schiller und den beiden Lengefeld-Schwestern sowie die ersten zehn Jahre der Ehe werden in den Kapiteln IV und V unter die Lupe genommen. Die Texte der Weimarer Zeit werden im sechsten Kapitel näher vorgestellt, die der ersten Zeit nach Schillers Tod im siebten. Die Kapitel VIII und IX betrachten die späteren, ›nachklassischen‹ Texte, beispielsweise die Erzählung Die Königinn von Navarra, beschäftigen sich aber auch mit dem ›Kulturmanagement‹, der Arbeit am ›Mythos Schiller‹, der sich Charlotte Schiller in dieser Zeit mit großem Engagement widmet, sowie dem Verhältnis der ›Witwe Schiller‹ zu Johann Wolfgang von Goethe und Christiane Vulpius. Abgeschlossen wird die Monographie mit einem Ausblick, der noch einmal resümierend das Œuvre beschreibt und für einen neuen ›mythenfreien‹ Umgang mit den Texten der Autorin Charlotte Schiller plädiert.

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Archivarbeit

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Dieser Beschäftigung mit den literarischen Arbeiten Charlotte Schillers stehe – so erläutert Pailer – zunächst eine Hürde im Weg, die den Zugang immens erschwert: Die meisten der Texte sind überhaupt nicht in einer verlässlichen Ausgabe zugänglich, »[e]ine Neuedition seit langem Desiderat.« (S. 9) Zwar gibt es einige biografische Publikationen aus dem 19. Jahrhundert, beispielsweise Ludwig Urlichs Charlotte von Schiller und ihre Freunde (1860–65), in denen neben einer Lebensbeschreibung auch Erzählungen und Gedichte vereinzelt abgedruckt wurden. Und auch in der Nationalausgabe der Werke Friedrich Schillers wurden einige der Texte Charlotte Schillers veröffentlicht, allerdings liegt bei dieser Wiedergabe der Fokus – das zeige, so Pailer, unter anderem das gewählte Schriftbild – mehr auf den Anmerkungen Friedrich Schillers als auf den Texten Charlotte Schillers: Die Korrekturen, die Schiller an den Werken seiner Frau vorgenommen hat, werden dort »in größerer Schrifttype gesetzt als der Haupttext von Charlottes Hand.« (S. 12) Die Quellenlage – grundsätzliche Voraussetzung jeder Arbeit über ein literarisches Œuvre – ist also prekär: Viele der Texte sind Fragment geblieben, viele nie erschienen, die publizierten Schriften wiederum oftmals nur dann in Editionen aufgenommen worden, wenn sie durch die Korrekturen Friedrich Schillers ›nobilitiert‹ wurden. Und auch zahlreiche der publizierten Briefsammlungen seien – so Pailer – nicht vollständig, sondern reine Auswahlsammlungen mit Fokus auf den berühmten Gatten und deshalb oftmals mit erheblichen Kürzungen und Streichungen versehen. Hinzu kommt, dass eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Autorin Charlotte Schiller praktisch nicht stattgefunden hat. Pailer, die selbst seit mehreren Jahren an einer Neuedition der Texte Charlotte Schillers arbeitet, konstatiert:

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In bisherigen Darstellungen ist neben der häufigen Wiederholung biographischer Mythen zuweilen der Ton auffällig, der zu einer feuilletonistisch saloppen Abwertung der Person führt, deren Leistungen eigentlich im Zentrum stehen sollen. Auch wenn es umgekehrt nicht darum gehen kann, Schillers ›andere Hälfte‹ an dessen Stelle auf den Thron der deutschen Klassik setzen zu wollen, sollen voreilige (Ab‑)Wertungen, so gut es geht, vermieden werden, zumal Charlotte Schillers Schriften kaum je in adäquater Form veröffentlich worden sind und einen vorurteilsfreien Blick deshalb kaum zulassen. (S. 12)
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Gaby Pailer leistet in ihrem Buch also Archivarbeit, die die Grundlage für die überfällige Neuedition der Texte Charlotte Schillers bildet. Eine Vorschau auf diese Edition liefert Pailer, indem sie viele der Texte – Briefe, Erzählungen, Übersetzungen und Gedichte –, in der vorliegenden Arbeit »grundsätzlich nach den Manuskriptfassungen […] in historische[r] Orthographie« (S. 13) zitiert und damit einen ersten »vorurteilsfreien Blick« auf einen Teil des Œuvres ermöglicht.

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Die berühmte Frau oder
Die schwierige Frage nach weiblicher Kreativität

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Dass viele der Texte Charlotte Schillers zu Lebzeiten unpubliziert blieben, kann laut Pailer als paradigmatisch für die Werke von Autorinnen im 18. und 19. Jahrhundert angesehen werden. In Rekurs auf Friedrich Schillers Gedicht Die berühmte Frau, in dem Entwürfe von weiblicher Kreativität und der damit verbundenen Bekanntheit verhandelt werden, erläutert sie:

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›Männlichkeit‹ verbindet sich mit der öffentlichen Sphäre, mit Aktivität und Produktivität, ›Weiblichkeit‹ dagegen mit der häuslichen Sphäre, mit Passivität und Rezeptivität. Autorschaft erscheint als eine Form der Exhibition, die der ›Natur‹ des weiblichen Geschlechts angeblich widerspricht. […] Eine Frau, die schreibt, […] ist mithin in einer paradoxen Situation. Es muss daher nicht wundern, dass Autorinnen, wenn überhaupt, anonym oder unter Pseudonym veröffentlichen – oder aber für ihre eigene literarische Produktion weder Kunstanspruch erheben noch Veröffentlichung anstreben, wie eben ›Schillers Gattin‹. […] Ihre Autorschaft ist ›heimlich‹ in einem doppelten Sinn der absichtsvoll nicht-öffentlichen, im häuslichen Raum gehaltenen Produktion. (S. 8)
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Was dort im Heimischen heimlich produziert wird, ist, das macht Pailers Charlotte Schiller deutlich, vielfältig. So gibt es von einer Reise in die Schweiz, die die beiden Schwestern von Lengefeld von 1783 bis 1784 unternahmen, ein ausführliches Reisejournal, in dem die sechzehnjährige Charlotte von Lengefeld ausführlich von den unterschiedlichen Stationen der Reise berichtet. So beschreibt sie unter anderem die Architektur der besuchten Städte (Bamberg und Erlangen, um nur zwei Beispiele zu nennen), gibt Passagen der jeweiligen Stadtgeschichte oder bekannte Anekdoten wieder und fertigt Skizzen und Illustrationen an. Das Reisetagebuch, in dem verschiedene, detaillierte Beobachtungen festgehalten werden und das nach der Rückkehr in eine Reinschrift übertragen wird, kann damit laut Pailer als eine »literarische Übung« (S. 25), als ein Versuchsfeld der eigenen Kreativität gelesen werden.

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Und in einzelnen, kurzen Lektürevignetten dieser Reisebeschreibungen zeigt Pailer die Facetten des Berichtes auf. Topographische Schilderungen werden zu Allegorien: Aus der Beschreibung des Rheinfalls von Schaffhausen entwickle Charlotte Schiller eine »Allegorie menschlicher Standhaftigkeit« und aus der »Schweizer Szenerie – massive Natureindrücke wie Rheinfall und Alpen – […] [erwachse die] Vorstellung eines Nationalcharakters« (S. 26). In ihrer Begeisterung für die Schweiz, die Pailer als – damals weit verbreitete –»Freiheitsschwärmerei« (S. 26) in einen zeitgenössischen Kontext einordnet, schreibe Charlotte Schiller sich ein in bekannte literarische Prätexte (beispielsweise Albrecht von Hallers Die Alpen von 1732 oder Salomon Gessners Idyllen von 1756) und liefere dabei – Pailer vergleicht Schillers Reisetagebuch mit den Texten Sophie von La Roches – eine »Pionierleistung im Genre der Reisebeschreibung« (S. 26).

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Ich trage einen großen Namen –
Charlotte Schillers ›Arbeit am Mythos‹

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Mit der Feststellung, dass Schillers Tod 1805 das »einschneidende Ereignis« (S. 129) in Charlotte Schillers Leben darstellt, geht Pailer mit den meisten anderen Biografien d’accord. Interessant ist aber, wie sie das Vorgehen Schillers nach dem Tod des berühmten Gatten beschreibt. Pailer entwirft nämlich nicht nur das Bild einer allein erziehenden Mutter, die, von einer Witwenversicherung versorgt, ihr Hauptaugenmerk auf die Erziehung der Kinder legt, sondern auch das Bild einer Frau, die selbstbewusst und konzentriert an der Erhaltung und Vermarktung des ›Mythos Schiller‹ arbeitet. Ihr Wunsch sei, so erklärt Charlotte Schiller immer wieder, alle Kräfte aufzubieten, um »[…] für Schillers Kinder, für sein Andenken zu leben.« (S. 134, meine Hervorhebung) Gaby Pailer rekonstruiert die Bemühungen, die Charlotte Schiller investiert, um den postumen Ruf ihres Mannes nicht nur zu sichern, sondern sogar noch auszubauen: »Mit dem Eintritt in den Witwenstand fällt Charlotte, ob sie will oder nicht, die Verwaltung – modern ausgedrückt: das Kulturmanagement – von Schillers ›Erbe‹ zu.« (S. 133)

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Die Arbeit am ›Mythos Schiller‹ wird zum großen Lebensprojekt. Detailliert arbeitet Pailer im Folgenden heraus, auf welchen verschiedenen Ebenen dieses ›Kulturmanagement‹ anzusetzen ist. So wirkt Charlotte Schiller intensiv mit an der Gestaltung der Ausgabe aller Dramen Friedrich Schillers, die postum beim Cotta’schen Verlag erscheinen, sie entscheidet über die Gestaltung der Bände, über Abbildungen und Titelkupfer. Doch diese Arbeit ist nur ein kleiner Teil: Großes Ziel bleibt die Einrichtung eines zentralen ›Erinnerungsortes‹, eines Platzes also, an dem das Andenken konzentriert wird. Pläne, ein ganzes Gut anzukaufen, das als Familiensitz dienen und auf dem sie und ihr Mann schließlich auch zusammen die letzte Ruhe finden sollen, gibt es immer wieder, sie zerschlagen sich aber aufgrund von Finanzierungsproblemen. Stattdessen wird das Wohnhaus in Weimar zum Zentrum der postumen Schillerverehrung. Pailer erklärt schlüssig, dass im Zusammenhang mit den Einquartierungen der Befreiungskämpfe gegen Napoleon die »Musealisierung von Schillers Wohnhaus begann.« (S. 141) Das Vorhaben, den Wohnsitz in Weimar eventuell aufzugeben und zur Mutter zu ziehen, wird von Schiller schließlich verworfen, in einem Brief berichtet sie, dass sie das »Haus als Schillers heiliges Andenken liebe.«

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Dieses »heilige Andenken« weitet Charlotte Schiller – laut Pailer – vom Ehemann auf den ›Genius Schiller‹ aus, denn als solchen entwerfe Schiller ihren Gatten sowohl in ihren Briefen als auch in ihren literarischen Texten. Pailer erläutert ihre These an verschiedenen Beispielen, unter anderem an der Lyrik Charlotte Schillers. So heißt es in einem Gedicht mit dem programmatischen Titel Klage um Schiller von 1815:

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Du wagtest in der Unermeßnen Tiefen
Mit Kraft und edlen Willen [?] kühn voran;
Und alle Thaten die zum Großen riefen
Sie wandelte dein Geist auf rascher Bahn.
Du wolltest nur das Ewige gestalten,
Und in der Schöpfung wie ein Schöpfer walten. (S. 140)
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Schiller als Schöpfer, als alter deus, als eine »göttliche Natur« (so heißt es wenige Verse zuvor); das – so Pailer – ist das Bild, das Charlotte Schiller sich zu propagieren bemüht. Großen Wert legt sie dabei darauf, ihren Mann als ›Geisteswesen‹ darzustellen und von jeglicher ›profaner‹ Körperlichkeit zu befreien. Deutlich werde dies auch in der von Charlotte Schiller verfassten Biografie Ueber Schiller. (Schillers Leben bis 1787), die gerade deshalb den Zeitraum der Ehe ausblende. Pailer zeigt, wie Charlotte Schiller in ihren Texten über und an Schiller gerade das Körperliche der Beziehung nicht betont oder gar nicht erst zu thematisieren versucht.

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Genius Goethe

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Zum engsten Freund ihres verstorbenen Mannes, zu Goethe, pflegte Charlotte Schiller ein besonderes Verhältnis. In der Auseinandersetzung mit Goethe regelt sie, so stellt Pailer fest, »posthum die Messlatte für Original-Genies« (S. 138) Die Verehrung für den Geheimrat nimmt dabei, das zeigt die vorgelegte Lektüre, überraschende Dimensionen an: In einem Sonett aus dem Jahr 1808, einer Randbemerkung zufolge »Nach Lesung von G’s Sonetten« entstanden, schreibt Schiller:

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Auch mir ergriffen von des Zaubers Tönen Fühl ich das Herz, mein lied es möchte zeigen, Nur Dir allein, wie ich dem hohen Schönen Zu huldigen vor Dir mich möchte neigen.
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Doch Dich vor Allen hochgeliebt! zu krönen Bedürft es mehr als stumme todte Zeichen. Es mag der Wille sich nach Bildern sehnen, Doch keins vermag dich würdig zu erreichen.
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Der Geist, der schaffend alles kann vollenden, Dem tausend Welten sich im Busen regen, Der könnt allein von sich ein Bild uns geben.
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Soll auch Apollo keine Stimme senden Die’s Ihm verkünde, was uns mag bewegen, Er in Allem Schönen, ewig leben. (S. 158 f.)
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Der Ton, der Duktus, die gewählten Motive, all das, erläutert Pailer, ähnele den Gedichten, die Schiller zuvor ihrem Mann gewidmet, es finde also »eine Verlagerung des Geniediskurses von Schiller auf Goethe« statt. (S. 167).

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Der große Mann und die dicke Hälfte

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Hatte Charlotte Schiller bei ihrer Beziehung zu ihrem Mann die körperliche Ebene stets zu thematisieren umgangen, so ist dies in den Texten, in denen sie das Verhältnis von Christiane Vulpius zu Goethe reflektiert, ganz anders. Findet schon das uneheliche Verhältnis Christiane Vulpius’ und Goethes wenig Verständnis bei der Witwe, so ist die überraschende Hochzeit nach langen Jahren der wilden Ehe für Schiller erst recht nicht nachvollziehbar.

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In einem Brief an Karoline Luise von Mecklenburg-Schwerin stellt sie die provokante rhetorische Frage: »welcher Dämon hat ihm diese hälfte angeschmiedet?« (S. 155) Was das große Genie an der »profanen Vergnügungen wie Tanz und Spiel zugeneigten Person« (S. 151) finden kann, bleibt für die adelige Charlotte Schiller ein Rätsel. Nun steht sie damit – das weist Gaby Pailer nach – nicht alleine da, sondern reproduziert die »abwertende Sicht von Zeitgenossen und Zeitgenossinnen« und »die kollektive Anstrengung, körperliche Aspekte im Wesen eines Genies radikal zu negieren«. (S. 158)

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Die Analyse geht allerdings noch weiter: Gezeigt wird, wie Charlotte Schiller über ihre Behandlung Christiane Vulpius’ die Verdrängung des Körperlichen bei deren Mann, dem »Genius Goethe«, vollzieht und welche Diskurse diesem Prozess zu Grunde liegen. Pailer konstatiert: »Christiane wird nicht allein ihrer bürgerlichen Herkunft, sondern vor allem ihrer leiblichen Präsenz wegen verspottet, die die leibliche Seite des Dichters zu deutlich hervorkehrt.« (S. 155) Diese »leibliche Präsenz« – Charlotte Schiller selbst findet nicht solch freundliche Worte, sondern spricht von Christiane Vulpius immer wieder als der »dicken Hälfte« Goethes – ist es, die stets besonders betont wird. Pailer sieht darin die Tendenz, die bei Charlotte Schiller auch schon in Bezug auf ihren Mann aufgefallen ist, nämlich den Fokus vom Körperlichen des Genies wegzuleiten, »die Bemühung«, so Pailer, »[…] die geistige Natur von der körperlichen abzuspalten.« (S. 158) So bestünde nach Charlotte Schillers Einschätzung bei Goethe eine Diskrepanz zwischen geistiger und materieller Existenz, und konzentriert sei diese Diskrepanz in der (im doppelten Sinne) Figur Christiane Vulpius’. Pointiert fasst Pailer zusammen:

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Da die Neigung des Dichters zu dieser Frau als unstandesgemäß gilt, wird ihr das – nach cartesianischer Vorstellung – als kulturell niedrig eingestufte Körperliche in exponentieller Steigerung angelastet. Die Abgrenzungswut des eigenen weiblichen Geschlechts ist umso größer, als aufgrund der traditionellen Genderstereotype die Frau – auch wenn sie gehobenen Standes ist – der körperlichen Natur näherzustehen scheint. (S. 158)
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Gerade diese Passagen, in denen Pailer die Briefzeugnisse und Gedichte Charlotte Schillers ›gegen den Strich liest‹, wissen besonders zu überzeugen und liefern eine interessante Erweiterung zur bisherigen Forschung.

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Die Namen der Frauen

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Ein Kritikpunkt soll erwähnt werden: In ihrer Untersuchung spricht Pailer durchgängig nicht von Charlotte Schiller, sondern von ›Charlotte‹. Sie erklärt dazu: »Ist es einerseits generell schwierig, für Autorinnen einen bestimmten Familiennamen (ohne Vornamen) zu verwenden, verhält es sich bei männlichen Autoren umgekehrt: je berühmter der Mann, desto überflüssiger der Vorname.« (S. 12) Dieser Beobachtung ist vollkommen korrekt. Es ließe sich noch ergänzend hinzufügen: Wird bei Autorinnen nur der Nachname genannt, so geschieht dies meistens mit dem Zusatz des bestimmten Artikels, gesprochen wird also nicht von Droste-Hülshoff, um nur ein Beispiel zu nennen, sondern von ›der Droste‹.

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Diese Gepflogenheit aber lässt sich aus guten Gründen kritisieren, wird damit doch ständig auf das Geschlecht der Autorin verwiesen, eine Praxis, die – würde sie bei männlichen Autoren angewandt – obskur erscheinen würde. Schließlich käme niemand auf die Idee, von »dem Goethe« oder »dem Kleist« zu sprechen. In neueren Publikationen zu Texten von Autorinnen wird deshalb meist auf den Zusatz des Artikels bewusst verzichtet, um diese Diskriminierung nicht weiter fortzuschreiben.

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Pailer entscheidet sich anders: »[I]n der folgenden Darstellung wird jedoch grundsätzlich der Vorname Charlotte verwendet, gelegentlich ersetzt durch Lotte, vor allem dann, wenn Verwechslungsgefahr mit den zahlreichen anderen Charlotten des Umfeldes (z.B. von Kalb, von Stein besteht.« (S. 12) Tatsächlich handelt es sich hier um einen besonderen Fall: Einen schreibenden Gatten Droste-Hülshoff hat es schließlich nicht gegeben, so dass eine Verwechslung fast ausgeschlossen ist. Trotzdem lässt sich die Frage stellen, ob eine andere Handhabung des »Namensproblems« nicht sinnvoller gewesen wäre und auch ›Charlotte‹, um deren schriftstellerisches Œuvre es schließlich geht und die aus dem Schatten ihres Mannes hervorgeholt werden soll, mit ihrem Nachnamen hätte genannt werden können.

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Fazit

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Dieser Punkt allerdings kann den Gesamteindruck der Monografie keinesfalls schmälern. Gaby Pailers Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Weimarer Klassik, gerade weil es nicht eine der großen (männlichen) Figuren der Zeit in den Blick nimmt, sondern eine der zentralen Frauenfiguren und deren literarisches Schaffen. Charlotte Schiller wird nicht als ›Dichtergattin‹ perspektiviert, wie dies bisher so oft geschehen ist, sondern als eigenständige Person, als engagierte ›Kulturmanagerin‹ und als selbstständige und auch selbstbewusste Autorin, deren literarisches Schaffen Aufmerksamkeit verdient hat. Zu hoffen bleibt, dass Pailers Untersuchung bald auch die zur weiteren Erforschung des Themas so dringend benötigte Edition der Schiller’schen Texte folgt.

 
 

Anmerkungen

Claude Haas: Der Tyrannenmörder als Klassiker. Aus den Neuerscheinungen zu Friedrich Schillers 250. Geburtstag ragt das Alterswerk von Walter Müller-Seidel heraus, in: DIE ZEIT, 05.11.2009.    zurück