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Die Hermaphroditen und die Erfindung des Geschlechts

  • Maximilian Schochow: Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter. Eine Genealogie des Geschlechtsbegriffs. Berlin: Akademie 2009. 296 S. Gebunden. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 978-3-05-004630-3.
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Mit Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter legt Maximilian Schochow eine historische Studie vor, die zum einen die Wandlung des Geschlechtsbegriffs und zum andern die Herausbildung des modernen binären Geschlechtssystems mit seinen jeweiligen definitorischen Merkmalen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert nachvollzieht. Der Fokus liegt auf medizinischen und juristischen Quellen zu Hermaphroditen, in denen sich die wechselnden Zuordnungen und Konzeptionen besonders deutlich manifestieren. Den theoretischen Rahmen zur Beschreibung dieser Transformationsprozesse bezieht er vor allem von Foucaults Ausführungen zur Wissenschaftsgeschichte und ihrer Entwicklungsdynamik in Die Ordnung der Dinge. Von besonderem Interesse sind die dort beschriebenen Diskontinuitäten und Brüche, die gleichzeitig Leerstellen und potenzielle Stützpunkte zur Neuordnung bestehender Wissensformationen darstellen. In diesem Sinne offenbaren die Transformationen genau die Prozesse, in denen die ›weißen Felder‹ einer Epoche, das Nicht-Benannte oder Nicht-Benennbare des Ordnungsrasters, beschrieben werden. Solche Übergangsphänomene zeigen sich an Krisenfiguren, die Schochow als »jene diskursiven Ereignisse« definiert, »die sowohl den Zerfall einer Wissensordnung bezeugen, als auch von der Errichtung neuer diskursiver Regelmäßigkeiten künden« (S. 28). Mit diesem Ansatz und Material schließt er an das von Thomas Laqueur in Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud (1990; dt.: Auf den Leib geschrieben: Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, 1992) bearbeitete Terrain an, mit dem er sich an diversen Stellen auch kritisch auseinandersetzt.

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Das Zeitalter der Ähnlichkeiten und Korrespondenzen

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Schochow beginnt im 16. Jahrhundert, das einen sehr weit gefächerten Geschlechtsbegriff kennt: Zum Beispiel gibt es die Geschlechter der Tiere, der Pflanzen, der Menschen, deren Eigenschaften (zum Beispiel Urteilskraft, Verschwendungssucht, Schwäche, Stärke, Gerechtigkeitssinn) über ihre sichtbaren Zeichen (Beschaffenheit der Haare, Augen, Zähne und anderer Körperteile) deutbar sind. Ferner existieren Korrespondenzen zwischen den verschiedenen Geschlechtern, die wiederum auf die Eigenschaften schließen lassen. So liest Della Porta in einer Abhandlung von 1601 an der Ähnlichkeit eines menschlichen Antlitzes mit dem eines Haushundes die Eigenschaft der Schmeichelei ab, oder aus den geweiteten Nasenlöchern eines Menschen, die denen eines Pferdes gleichen, die Eigenschaft des Zorns und der Grimmigkeit. Hermaphroditen gehören in diesem klassifikatorischen Schema zu den Monstergeburten, so wie die Mischwesen zwischen Mensch und Tier oder diejenigen Menschen, so Paracelsus, die mit sechs Fingern oder zusammengewachsenen Zehen auf die Welt kommen und deren äußere Zeichen Unheil verkünden.

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Dichotome Geschlechter
und die Tableaus der Zeugungsglieder

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Einen Umbruch dieses Wissens datiert Schochow auf die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Von da an würden die hermaphroditischen Leiber zunehmend auf der Grundlage dichotomer Geschlechtsglieder determiniert. Er macht dies an der Krisenfigur Marie/Marin le Marcis fest, an der sich ein Expertenstreit entzündet, bei dem konkurrierende Wissensbestände aufeinander treffen, die sich über unterschiedliche Untersuchungsmethoden konturieren. Die visuelle Bestimmung der Leibzeichen und ihre Exegese, nach der le Marcis eine Frau ist, wird konfrontiert mit der neuen Technik der Vivisektion, durch die der Gutachter Duval unter der Bauchdecke, also im Körperinnern, ein männliches Glied ertastet, was ihm erlaubt, le Marcis als Hermaphroditen zu identifizieren.

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Für Schochow markiert dieser Befund einen entscheidenden Wendepunkt, denn von nun an, so der Autor, stünden nicht mehr die Verbindung zwischen den Tieren und den Menschen im Mittelpunkt, sondern die Ähnlichkeiten innerhalb der Geschlechter (S. 120), die sich in der Produktion diverser Tableaus der Zeugungsglieder niederschlage. Die Exegese des ganzheitlichen Leibes weiche der Vivisektion und der isolierten Betrachtung einer bestimmten Körperregion, nämlich der sexuellen Organisation, bei deren Deutung das Kriterium der Zeugungs- beziehungsweise Gebärfähigkeit, also eine dichotom strukturierte Funktionsbestimmung, im Vordergrund stehe. Sie bilde weiterhin die zentrale Entscheidungshilfe für juristische Fragen der Heiratsfähigkeit oder des Sodomieverdachts. Auch diese Neuorientierung macht er wiederum an den zahlreichen Historien über Zwitter aus dem 17. und 18. Jahrhundert fest. Die verschiedenen Taxonomien bedienen sich diverser Vermessungstechniken und organisieren ihr Wissen hierarchisch. So wird in den Quellen das Merkmal der Zeugungsfähigkeit privilegiert, die Gebärfähigkeit wird über den negativen Ausschluss der Zeugungsfähigkeit konstatiert.

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Die Emergenz des Diskurses um das wahre Geschlecht liegt nach den hier ausgewerteten Quellen bereits im 17. Jahrhundert, also deutlich vor Foucaults Datierung, der diese Entwicklung in seinen Anmerkungen zum Fall Herculine Barbin erst im 18. Jahrhundert ansetzt. 1 Ob mit diesem Befund auch Laqueurs one-sex model ausgehebelt wird, wie von Schochow behauptet (S. 124), ist fraglich, zumal Laqueur selbst die Anfänge des two-sex model im späten 17. Jahrhundert ansiedelt. 2 Problematischer jedoch scheint mir Schochows Unterschätzung der geschlechterpolitischen Dimensionen der jeweiligen Wissensordnungen. Laqueur zufolge bringt die Wissenschaft die asymmetrische Geschlechterdifferenz mit hervor und beschreibt sie nicht nur. So betrachtet ist das two-sex model die Naturalisierung und damit Zementierung einer bereits bestehenden sozialen Geschlechterhierarchie. 3 Schochow hingegen argumentiert, dass die Geschlechterdichotomie aus der Technik der Vivisektion und der taxonomischen Methode resultiere und nicht ein Effekt kultureller Einschreibungen sei. Als Beispiel wählt er Nicolai Venettes Tableau der Hermaphroditen von 1738, das das dichotome Geschlecht über das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein des privilegierten Merkmals der Zeugungsfähigkeit bestimmt. Nach Schochow ist Venettes Priorisierung der Zeugungsfähigkeit einzig dadurch begründet, dass es das Merkmal sei, welches am häufigsten vorkomme (S. 132). Betrachtet man die zum Teil diametral entgegengesetzten Erklärungsmodelle für ein und dasselbe Phänomen, denen wir im Laufe des 18. Jahrhunderts begegnen, etwa den Wandel in der Auffassung, bei Hermaphroditen handele es sich in Wahrheit um missgestaltete Frauen, zu derjenigen, sie seien eigentlich missgebildete Männer, fällt es schwer, solche Diskrepanzen als arithmetische Notwendigkeiten oder bloße Konsequenzen eines bestimmten methodischen Vorgehens zu sehen. Eine kulturpolitisch sensible Lesart, die sich auf Laqueur beruft, würde in dieser Privilegierung der Zeugungsfähigkeit durchaus das Produkt kultureller Vorannahmen und Wertungen sehen, nämlich den Nachhall der Machtlogik des one-sex model, die das männliche Prinzip (die Zeugungsfähigkeit) als Maß aller Dinge setzt, von dem sich das weibliche Prinzip ableitet.

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Nicht nur hier, sondern auch an anderen Stellen hätte Schochows Studie durch eine dezidiertere Anbindung an kulturelle Umbrüche der jeweils für sein Argument relevanten Epochen gewonnen. Leider bleibt eine solche Kontextualisierung weitgehend aus, so dass sich der Text fast ausschließlich auf die – zweifelsohne sehr lohnenswerten – Mikro-Lektüren der ausgewählten Quellen beschränkt. Selbst die kontroverse Diskussion über die Existenz wahrer oder vollkommener Hermaphroditen, die zum Beispiel von Diderot bestritten wird mit dem Argument, das wahre Geschlecht würde sich früher oder später durch die Charaktereigenschaften offenbaren, kommt mit einem Fußnotenverweis auf Karin Hausens »Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹« sowie auf einige weitere einschlägige Autorinnen aus (S. 191), ohne deren historische Analysen für sein Material zu reflektieren.

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Die inneren Organe und die Keimdrüsen

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Mit dem 19. Jahrhundert verändern sich die Kriterien für die Bestimmung des ›wahren‹ Geschlechts einer Person erneut: Ausschlaggebend werden nun die Hoden beziehungsweise Eierstöcke und Gebärmutter, während die Zeugungs- und Geburtsglieder als zweitrangig erachtet werden. An weiteren Krisenfiguren, das heißt Fällen, an denen sich im Expertenstreit die Konkurrenz verschiedener Deutungssysteme und damit eine Diskontinuität im Wissen zeigt, belegt Schochow anhand der strittigen Frage, ob es wahre Hermaphroditen gibt oder nicht, weitere Verschiebungen innerhalb der Wissensbestände. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird dies zurückgewiesen mit dem Argument, dass so genannte Hermaphroditen in Wirklichkeit missgestaltete Frauen, an der Wende zum 19. Jahrhundert, dass sie missgebildete Männer seien. Diese Verneinung der Existenz von Hermaphroditen steht wiederum im Gegensatz zu der Fortschreibung und Ausdifferenzierung des Konzepts in Traktaten des 19. Jahrhunderts. In Abhandlungen zur Entwicklung des Geschlechtssystems, die davon ausgehen, dass bei jedem Menschen sowohl die männliche als auch die weibliche Anlage von Anfang an vorhanden ist und sich ein Geschlecht durch die Rückbildung des anderen Anteils durchsetzt, wird Hermaphroditismus einerseits zum Normalzustand in einer frühen Phase der Geschlechtsgenese, andererseits bezeichnet er diejenigen Fehlbildungen, die aufgrund nur partiell oder gar nicht erfolgter Involution eines Teils des Geschlechtsapparates auftreten. Hermaphroditismus wird so Teil eines sich erneut wandelnden medizinischen Wissensbestandes: Geschlecht ist nicht mehr ein fixer Gegenstand, sondern ein vitales System, das sich über die Zeit formiert. Die äußeren Geschlechtsglieder sind das Resultat eines von den Keimdrüsen gesteuerten Prozesses, die nun als Sitz des wahren Geschlechts gelten und die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Chromosomen als zentralem Geschlechtsfaktor abgelöst werden.

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Fazit

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Insgesamt besticht Schochows Studie durch eine beeindruckende Quellensammlung und -exegese, die auf eindrückliche Weise die Historizität des Wissens über Geschlecht demonstriert und die sicherlich für die weitere historische Geschlechterforschung von Belang sein wird, weil sie den eher großräumigen kulturgeschichtlichen Narrativen über die Geschlechterordnungen präzise Textanalysen entgegensetzt. Allerdings beschränkt sich Schochow zu sehr auf den Mikrokosmos seiner Quellen, deren Einzelbefunde in zum Teil ermüdender Weise mehrfach wiederholt werden, und versäumt es dadurch, sein Textmaterial mit kulturellen Horizonten zu verknüpfen, die andere Studien eröffnet haben. Die im Zusammenhang mit Laqueur diskutierte Frage kultureller Vorannahmen bei der Herausbildung wissenschaftlicher Modelle von Geschlecht und Geschlechterdifferenz ist nur ein Beispiel dafür. Aber auch eine spezifischere Diskussion seiner Krisenfiguren, die die Transformation des Geschlechterwissens anzeigen, im Horizont der von Foucault beschriebenen Epistemewechsel von der Renaissance zum klassischen Zeitalter und an der Schwelle zum 19. Jahrhundert hätte Schochows Studie eine noch bedeutsamere wissenschaftshistorische Dimension verliehen.

 
 

Anmerkungen

Michel Foucault: Über Hermaphrodismus: Der Fall Barbin [1978]. Hg. von Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 8.   zurück
Thomas Laqueur: Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud [1990]. Cambridge, MA, und London: Harvard University Press 1990, S. 154.   zurück
Ebd., S. 10 f.   zurück