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Identität und Differenz

Zu Hölderlins Poetologie und poetologischer Philosophie

  • Marion Hiller: 'Harmonisch entgegengesetzt'. Zur Darstellung und Darstellbarkeit in Hölderlins Poetik um 1800. (Hermaea. Germanistische Forschungen, NF. 118) Tübingen: Max Niemeyer 2008. 294 S. Broschiert. EUR (D) 64,00.
    ISBN: 978-3-484-15118-5.
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Hölderlin ist sicher einer der modernen Autoren, die an wissenschaftlicher ›Überfischung‹ leiden. Zwar begünstigt sein Werk biographisch, editionsgeschichtlich und poet(olog)isch subtil-genaue und sogar übergenaue Analysen, bietet sich für immer andere Perspektivierungen und Revisionen des einmal Erreichten an und fordert stets kontextreichere bzw. dichtere hermeneutische und kulturgeschichtliche Vertiefungen; ähnliches gilt im Raum der weiteren Moderne vielleicht nur (aus ganz unterschiedlichen Gründen) für Goethe, Kafka und Benjamin. Zugleich hat jedoch die Hölderlin-Forschung diese Sachlage noch verschärft, indem sie in einem Überbietungsgestus szientistischer, genieästhetischer, hermeneutischer oder poststrukturalistischer Provenienz ihren Gegenstand zum Vehikel einer scheinbar unendlichen Verkomplizierung von Lektüren gemacht hat, die oft den Eindruck erwecken, hier solle weniger die Größe Hölderlins als vielmehr die des Interpreten sowie der scientific community der Hölderlin-Exegeten aufgezeigt werden. Hölderlins Poetik und Philosophie wiederum verschärfen ihrerseits diesen Umstand noch dadurch, dass sie einzig in skizzenhaften, brüchigen, unsicher entzifferbaren, sprachlich enorm verdichteten, begrifflich dunklen und argumentativ losen Texten vorliegen, die dann auch in völlig entgegengesetzten Traditionslinien – idealistisch oder romantisch, negativitätstheologisch oder hegelianisch etc. etc. – sprechend gemacht werden konnten.

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Marion Hillers Dissertation ›Harmonisch entgegengesetzt‹. Zur Darstellung und Darstellbarkeit in Hölderlins Poetik um 1800 widmet sich – sinnvoll einschränkend – keiner Gesamtschau weder der impliziten noch der expliziten Poetik Hölderlins, sondern sichtet vor allem die theoretischen Texte auf eine Denkfigur hin, welche seit ihren vorsokratischen Anfängen bis in die Grundlagen der Dekonstruktion im 20. Jh. die metaphysische Logik weitgehend bestimmt hat: die Frage nach dem Verhältnis von Identität und Differenz.

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Einleitung

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Die Grundthese Hillers ist dabei folgende: Hölderlins poetologische Entwürfe um 1800 begründen die Irreduzibilität eines poetischen Sprechens gegenüber einem diskursiv-philosophischen dadurch, dass sie poetische »Darstellung« als Inszenierung eines auf besondere Weise komplexen Verhältnisses von »Identität/ Einheit« und »Differenz/ Negativität« begreifen; damit weisen sie der poetischen (Re)präsentation die Möglichkeit zu, »›das Höchste‹ angemessener darzustellen bzw. angemessener auf es zu verweisen« (S. 5). Die »Aufwertung der Negativität bzw. Differenz« (S. 7) in Hölderlins Poetologie und Philosophie führt dabei zu einem Begriff von »Darstellung«, der sich als Wechselwirkung von Identität und Differenz derart konstituieren soll, dass wiederum in der Einheit, welche diese Wechselwirkung vorstellt, die Differenz nicht verschwunden, sondern weiterhin irreduzibel am Werk sein soll. Hiller »erborgt« sich dafür die hegelsche Denkfigur der »Identität von Identität und Differenz«, um sie allerdings für Hölderlin differentieller aufzufassen: Als »gegenstrebige Harmonie« ist die Einheit von Identität und Differenz ebensosehr Identität wie Differenz, weil sie nur in der und als Differenz ihrer Pole sich zusammenfindet. Die Arbeit stellt deshalb den Versuch dar, dieses abstrakte Grundverhältnis als strukturellen Rahmen des Hyperion, einiger Gedichte (Wie wenn am Feiertage, Hälfte des Lebens) und vor allem der poetologischen Texte Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig… sowie der Tönelehre aufzuzeigen.

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A. Annäherung an die Grundstruktur
der Darstellung (Hyperion)

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In einem ersten größeren Teil wird vor allem der Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland vor dem Hintergrund der in der Einleitung entworfenen Fragestellung interpretiert. Dabei dient der Verfasserin die pseudo-heraklitische Formulierung des »Einen in sich selber unterschiednen« aus dem Hyperion als Varation der Idee der »harmonischen Entgegensetzung« bzw. der »widerstrebigen Fügung« dazu, den Roman als durchgängige Verwirklichung und Applikation einer Dynamik zu verstehen, die Beisichsein und Sichüberschreiten zusammendenkt und als Zusammenhang inszeniert. Hillers Interpretation fokussiert dabei vor allem die Widersprüche im Text, die eine Idee spannungsloser Einheit und Harmonie zu einer in sich differentiellen und wesentlich durch innere Gegenstrebigkeit gekennzeichneten Identität ins Verhältnis setzen: Fällt das erstere den Reflexionen und Wahrnehmungen des erinnerten Hyperion zu, so setzt sich das letztere im Vorgang des sich erinnernden Hyperion in Szene. Hiller arbeitet vor allem mit Hilfe der Diotima-Figur den Bildungsgang Hyperions als den zu einem angemesseneren Verständnis von Identität und Differenz heraus und zeigt bis in rhetorische Mikroanalysen hinein (S. 39), wie Hölderlin im sprachlichen Vollzug des Romans gerade die Semantik allumfassender Harmonie, die der erinnerte Hölderlin so vergeblich zu denken und lebensweltlich ins Werk zu setzen versucht, immer wieder durch eine Version differentieller Einheit kontrapunktiert:

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Die ›Auflösung der Dissonanzen‹ besteht somit nicht in dem Übergang in ein spannungsloses Ideal ununterschiedener Einheit, sondern vielmehr darin, dass sich die Dissonanzen in der einholenden Darstellung dadurch ›auflösen‹, dass die widerstrebigen Kräfte in ein Verhältnis gelangen, in dem sie sich als in sich spannungsvolle ›harmonische‹ Fügung, als ein ›Eines ich sich selber unterschiedenes‹ halten können. (S. 57)
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Letztlich liegt gerade darin überhaupt die Möglichkeit von Erinnerung und damit auch von Dichtung, wie sie der erinnernde Hyperion im Gesamt des Textes schließlich verwirklicht: Die Präsenz und Positivität gelingender Darstellung ist vielfältig auf Differenz, Unterbrechung und Abstand angewiesen, aus deren Notwendigkeit der Vermittlung heraus sie zu sprechen anhebt. Die Paradoxie der Erinnerung, die das Vergangene nicht als »es selbst«, sondern in seinem Anderssein als zur Gegenwart gebrachtes Erinnertes fasst, muss nach Hiller als eben jene differentielle Einheit gefasst werden: In ihr kommt das Vergangene gerade in seinem Abstand zu sich erst zu sich. Hiller arbeitet vor allem an der Erzählstruktur, der Zeitlogik und den Zäsuren vielfältig die Bedeutsamkeit der »gegenstrebigen Fügung« als Sinnzentrum des Romans heraus: »Der Gesamtroman holt – analog zu der Figur Hyperion – seine Teile in ständiger Rückwärtsbewegung ein, wird dadurch ein anderer und kommt darin ›zu sich selbst‹.« (S. 59)

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Dieser Teil A wird beschlossen durch eine begriffstheoretische Reflexion zum heraklitischen Topos von »Bogen« und »Leier«, die in Hölderlins Werk eine wichtige Stellung einnehmen und nach Hiller als reine Figuren in sich unterschiedener Einheit zu denken sind:

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Bogen und Leier zeichnen sich in ihrer Fügung dadurch aus, dass sie ein ›eines‹ nur als zwei Teile sind, die aufgrund der Weise ihrer Anordnung als Entgegengesetzte ›auseinanderstreben‹. Nur in dieser und als diese Fügung sind Bogen und Leier ›eines‹. Sie beruhen konstitutiv auf ihrer inhärenten Gegenstrebigkeit, denn nur aufgrund dieser sind sie in der Lage, Spannung aufzunehmen, zu halten und diese entweder als Vibration der Saiten oder als Bewegung des Pfeils umzusetzen. (S. 90)
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Ebenso zeigt Hiller an Hölderlins Poetik des »Tragischen«, wie poetische Einheit nur in der Unaufhebbarkeit des rhythmischen Wechsels, in welchem die Teile irreduzibel different auseinanderstreben (»gegenrhythmische Unterbrechung«), und nur als dieser Wechsel konstituiert werden kann; im »Begriff« des Tragischen schließlich vollendet sich diese Figur:

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Die Grundstruktur der tragischen Darstellung wird als Widerstreit von Gegensätzen beschrieben, die sich zwar ausgleichen und so eine Ganzheit bilden, doch besteht diese zugleich in nichts anderem als in dem Widerstreit von Kraft und Gegenkraft. […] [I]n dieser Gegensätzlichkeit allein besteht die ›Einheit‹, die ›Struktur‹ der Darstellung. (S. 103)
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Tragisch ist demnach ein Darstellungsverhältnis, in welchem sich Einheit gerade in höchstmöglicher Trennung äußert (S. 114).

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B. Theoretische Durchführung
der Grundstruktur der Darstellung

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Teil B der Arbeit ist überwiegend dem Fragment Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig… gewidmet, in dem sich Hölderlins Poetologie ihrer philosophischen Grundlagen vergewissert. Die Grundthese lautet folgendermaßen:

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Jeder geistige und poetische Prozess […] geht aus von ›einem Leben‹, einer Empfindung, das dadurch von dem Geist eingeholt und aufgefasst wird, dass er es in den ihm eigenen Wechsel von Einheit und Differenz zerlegt, es somit in sich, idealisch, wiederholt, bis es einerseits wieder in seiner ursprünglichen Einheit zu sich selbst zurückfindet, jedoch andererseits in einer Steigerung seiner selbst als Potenzierung seiner Einheit und seines Zusammenhangs in sich. Diese Potenzierung bedeutet jedoch gerade keine Aufhebung oder Abschwächung der Differenz, vielmehr treten die Differenzen als eingeholte stärker hervor. Entsprechend dem ›widerstrebigen‹ Verhältnis von Einheit und Differenz verhalten sich diese streng proportional, so dass nur in der Einholung und somit Steigerung des einen auch die Steigerung des anderen möglich ist. (S. 123 f.)
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Dabei verfolgt Hiller in einer begrifflichen Mikroanalye, wie Hölderlin die Phasen des poetischen Prozesses – ursprüngliche Empfindung, idealische Auffassung derselben im Geist und Darstellung im Werk – vor allem in ihren Übergängen sowie ihren wechselnden begrifflichen Medien (Stoff, Gehalt, Form, Element, Wirkungskreis) konturiert und wie ihm dabei das Verhältnis von »Leben« und »Geist«, von realer Vielgestaltigkeit und geistiger harmonischer Durchdringung Leitthema wird. Das Gedicht wird bei Hölderlin zum Medium einer erkennenden Selbstbeziehung des Geistes, indem die harmonische Entgegensetzung von Geist und Leben, die bereits im Geist das Kennzeichen seiner Aneignung des lebendigen Stoffes gekennzeichnet hat, nun das Verhältnis des Geistes zum Werk als Darstellung dieser Aneignungsbewegungen bestimmt. Im Gedicht sind das Nicht-Idealische und das Idealische widerstrebend harmonisch ineinander gefügt; als »Darstellung« bringt es diese Bewegung nicht bloß gegenteilig zur Ruhe, sondern bringt das Ruhende an der Bewegung selbst heraus.

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Hiller verfolgt genau, in welchen immer neuen begrifflichen Konstellationen im Raum der »poetischen Verfahrensweise« diese »höchste und umfassendste Ebene der Einheit von Entgegengesetztem« (S. 139) inszeniert wird und wie dergestalt die »poetische Individualität« sich im Medium der Darstellung zu ergreifen vermag. Dichtung verwirklicht für Hölderlin somit letztlich die Bestimmung des Menschen, die in der Errichtung eines Verhältnisses harmonischer Entgegensetzung zum Göttlichen besteht, indem im Gedicht der Mensch zu sich kommt und sich dadurch in seiner Einheit wie Differenz mit dem Göttlichen begreift. Die poetische Darstellung wiederum ist zugleich Konstitution und Ausdruck, Poiesis und Mimesis, Vollzug und Ergebnis dieses Prozesses: Ihr Repräsentiertes ist unabtrennbar vom Vollzug des Repräsentierens, und ihre Identität besteht in der selbstbezüglichen Differenz, mit der sie sich auf sich bezieht, um sich zu vollziehen (S. 149). In ihr verwirklicht sich so der Geist auf einzig angemessene Weise:

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Der Geist ist somit unaufhebbar different zu sich selbst und zu seinem Ziel vollständiger Selbstauffassung. Zugleich ist er jedoch in dem Vollzug der Reflexion, und zwar aufgrund der Differenz, in dieser paradoxerweise stets schon bei sich selbst und somit auch an und in seinem ›Ziel‹. (S. 150)
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Diese Einheit in der Differenz zu sich braucht den Raum des poetischen Zeichengeschehens, in welchem Einheit der Bedeutung und differentieller Vollzug ihrer Bildung immer schon als miteinander in Harmonie gebrachte Gegensätze ineinandergreifen.

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C. Durchführung der Grundstruktur hinsichtlich
der Theorie der Töne sowie konkreter Dichtungen

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Im abschließenden Teil verfolgt Hiller Hölderlins »poetische Logik« differentieller Einheit in ihrer konkreten poetologischen Ausprägung als Lehre vom »Wechsel der Töne« bzw. als Theorie miteinander über verschiedene Konfigurationen der Töne wechselseitig aufeinander bezogener Gattungen. In den je verschiedenen Verteilungsplänen von »Stoff«, »Kunstcharakter« und »Gedicht« wird deutlich, dass bspw. »die Entgegensetzungen zwischen den unterschiedlichen Stoffarten relativ, d.h. ›harmonisch‹ verfasst sind« (S. 178), wie sich auch die drei Töne (naiv, heroisch, idealisch), die in einer je konkreten sequentiellen Mischung je verschiedene Gattungen des Gedichts ergeben, in »alle[n] möglichen Kombinationen von zwei Tönen zueinander jeweils relativ entgegengesetzt verhalten und […] der jeweils dritte Ton die ›Auflösung‹ des ›Widerspruchs‹ bedeutet.« (S. 184)

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Ebenso ist der Widerspruch zwischen »Grundton« und »Kunstcharakter«, d.h. zwischen sinnlichem Stoff und geistiger Behandlung, der im Wechselprozess beider, den das Gedicht darstellt, als harmonischer Gegensatz zueinander findet, als Darstellungsverhältnis zu verstehen: Denn Darstellung meint das Aneinander-als-Gegensatz-Hervortreten von zwei Polen, die nur in dieser Harmonie der wechselseitigen Repräsentation im Raum der Einheit ihres Aufeinanderbezogenseins in ihrer Entgegensetzung ankommen. Das Gedicht und der es konstituierende »poetische Prozess« sind nach Hölderlin, so Hiller, die einzigen – objektiven und subjektiven – Medien »einer in ihren Gegensätzen und deren Auflösung dynamisch sich konstituierenden und aus sich selbst heraus generierenden ›Einheit‹ […]. Das Gedicht ist somit nichts anderes als das ›eine‹ dieses Prozesses, der Prozess als solcher.« (S. 184)

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Daraus leitet Hiller zum Ende eine generelle Differenz von Philosophie und Poesie ab (S. 235–238), die sie mit Hölderlin als eine graduelle bestimmt und Selbstreflexivität sowie irreduzible Performativität als konstitutiv für poetisches Sprechen begreift. Nach dem Durchgang durch zwei Interpretationen Hölderlinscher Gedichte (Wie wenn am Feiertage, Hälfte des Lebens), die in der »Widerstrebigkeit von Vollzug und Darstellung« (S. 277) die Spannung von Semantik und Prozessualität auf je besondere Weise austragen, wird zum Abschluss die Metapher als Metapher für Hölderlins Poetik reflektiert: Die zueinander heterogenen Bedeutungsbereiche metaphorischer Identifikation bedeuten »den Vollzug des Zusammenbringens und des Trennens in einem, das Ineinander zweier entgegengesetzter Momente in einem Akt.« (S. 280)

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Kritik

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Man muss die Geduld, die mikrologische Ausführlichkeit und die argumentative Konsequenz bewundern, mit der Hiller in immer neuen Ansätzen und Textzusammenhängen das Werk Hölderlins auf die es mutmaßlich fundierende Denkfigur bezieht, auch wenn sie selbst hin und wieder die Frage nach der Angemessenheit einer solch strengen Lektüre anklingen lässt. Die Stärke der Arbeit liegt folglich in der Stringenz und analytischen Detailgenauigkeit, mit welcher die verdichteten Hölderlinschen Texte im Blick auf die dialektische Denkfigur von Identität und Differenz aufgelöst und sprechend gemacht werden; vor allem der erste Teil zum »Hyperion« kann so überzeugende makrostrukturelle bzw. erzähltheoretische Einsichten beibringen. Die Arbeit ist in jedem Fall für den weiteren Umgang mit den schwierigen poetologischen Texten als Zugewinn zu betrachten, ordnet und durchdringt sie doch oftmals einsichtsvoll das Begriffsdickicht und macht so manchen dunklen begrifflichen Zusammenhang deutlich.

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Problematisch ist dabei jedoch zugleich bereits die Fragestellung: Die (von Hegel erborgte, aber nirgends in ihrem historischen Ort wirklich reflektierte) Formel von der »Identität der Identität und der Differenz« ist in ihrer historischen wie systematischen Abstraktheit, in der sie eingeführt und verwendet wird, kaum geeignet, ein distinktes und die Besonderheit eines Œuvres markierendes Theorem zu sein. Hiller belässt die Formel bewusst in dieser kontextuellen und begrifflichen Unschärfe, wodurch die Argumentation allzu oft den Charakter sachferner Gewaltsamkeit annimmt: Auf welchen modernen Autor und auf welches Werk ließe sich die offene Einheit von Einheit und Differenz hermeneutisch nicht applizieren? Dass diese Denkfigur bei Hölderlin natürlich explizit im theoretischen Kontext auftaucht und im Diskursfeld des Deutschen Idealismus sowie in den platonischen Traditionslinien wichtig ist, bedarf keiner Erklärung und sichert die Fragestellung in jedem Fall grundsätzlich ab: Jedoch die Mechanik der Anwendung derselben auf die Hölderlinschen Texte überschreitet das dadurch vorgegebene sinnvolle methodische Maß allzu häufig.

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Eben so unscharf gebraucht ist der Darstellungsbegriff, welcher im historischen Kontext der Spätaufklärung eine zentrale Stellung im poetologischen und philosophischen Diskurs einnimmt und hier umstandslos und unhistorisch im phänomenologisch-hermeneutischen Sinne als »Erscheinung von einem an einem Anderen«, durch welches beide sich in ihrer Differenz herstellen, verwendet wird, ohne diese Strukturformel mit den historischen Bedingungen abzugleichen. Überhaupt ist die Arbeit von einem seltsamen Ungleichgewicht von fehlender historischer Kontextualisierung (so wird der Begriff des »Absoluten« einige Male, in Unkenntnis der Hegelschen Begriffsverwendung, falsch verwendet) und einer überreichen Diskussion der systematischen und historischen Forschung zum Thema gekennzeichnet. Dabei werden allerdings im Raum der Fußnoten – wohl im berechtigten Bestreben der Qualifikationsschrift, sich so deutlich wie möglich abzugrenzen – Positionen der Forschung manchmal allzu rasch und unbegründet abgetan; hier wäre eine zuweilen einlässlichere Diskussion nützlicher gewesen.

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Schließlich können auch die mit Hölderlin aus den rekonstruktiven Bewegungen abgeleiteten Überlegungen zur Differenz des poetischen zum philosophischen Sprechen aufgrund ihrer Skizzenhaftigkeit, Epigonalität und unzureichenden systematischen Begründung nicht vollends überzeugen und bleiben kaum mehr als wiederholte Behauptungen. Zudem macht es die Sprache zuweilen nicht leicht, die Überlegungen nachzuvollziehen. Zwar ist die Arbeit erkennbar vom Willen zum Verstehen und zur Mitteilung dieses Verstehens getragen; die manchmal etwas ungelenken, häufig zu gedrängten, Gedankennotizen ähnelnden Formulierungen erschweren jedoch hin und wieder den Lesefluss. So hastet der Satzbau dem überlangen Atem der ins Unendliche differenzierten dialektischen Bewegungen nach und wird bisweilen dort mimetisch, wo er analytisch Abstand suchen sollte. Gänzlich unterbelichtet bleibt die applikative Komponente des Hölderlinschen Denkens: Beinahe nirgends versucht die Arbeit, die seltsam abstrakten und mechanischen Dimensionen der Tönelehre theoretisch oder konkret sprechend zu machen und zu erklären, in welcher Hinsicht sie im Blick auf historische Phänomene oder literaturtheoretische Begriffsarbeit sinnvoll Anwendung finden könnte. Dadurch entsteht der Eindruck exegetischer Anpassung, die nirgends ihre eigene Notwendigkeit hinterfragt, sondern die Bedeutsamkeit ihres Gegenstandes immer schon vorausgesetzt hat. Gerade für eine Arbeit, die – in vielen Details völlig überzeugend – die Notwendigkeit des Wirksambleibens der Differenz in und für die Einheit markiert, entsteht so ein seltsamer Selbstwiderspruch: Das Konzept gebrochener Einheit wird bruchlos als Schlüsselelement des Hölderlinschen Denkens behauptet.

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Im Ganzen betrachtet, wird die Arbeit sicherlich im Raum der Hölderlin-Forschung und ihrer Bemühungen um die Lesbarmachung der theoretischen Fragmente einen wichtigen Platz einnehmen; in dieser Hinsicht kommen ihr unbestreitbar Verdienste zu. Ein Verständnis von Hölderlins Poetologie, das historische Kontexte mit den Ordnungskompetenzen einer hermeneutischen Urteilskraft erschließt, vermag sie leider nicht zu geben.