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Überrascht von den Brüdern Grimm

  • Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin: Rowohlt 2009. 608 S. Hardcover. EUR (D) 26,90.
    ISBN: 978-3-87134-568-5.
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Auf mehr als 500 Seiten hat Steffen Martus die Geschichte der Brüder Grimm neu erzählt. Schon der Umfang des Buches lässt kein bloßes chronologisches Referat von Lebensereignissen, sondern eine individuelle Neubegegnung mit den beiden vielgenannten, aber wenig gekannten Heroen der Märchenliteratur und der Germanistik erwarten. Diese Erwartung bestätigt sich bei der Lektüre des Buches. Martus schreibt im Vorwort, dass zu den Anlässen seiner Biographie einige Überraschungen gehörten, die ihm die »beiden freundlichen Herren, die unsere Kinder- und Hausmärchen aufgezeichnet haben«, bei näherer Bekanntschaft bereiteten (S. 7). Überrascht war er vom Ringen der Grimms um ein Lebensideal, von der Konsequenz, mit der sie ihr »gleichermaßen revolutionäres wie konservatives« Lebensprojekt gestalteten (»gegen ihre Zeit«, »nicht zuletzt gegen die politische Realität ihrer Epoche«, S. 8 f.), von der provozierenden Wirkung der Grimmschen Wissenschaft auf Zeitgenossen (S. 10) und von der »inneren Einigkeit der Gegensätze« (Wilhelm Grimm, S. 11) in der Lebensgemeinschaft der Brüder.

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Die ersten fünf Kapitel 1 beziehungsweise 300 Seiten behandeln die Zeit bis 1830, bis zum Weggang der Grimms aus Kassel. Eine besondere Stärke des Buches ist die eingehende Schilderung ihrer Kindheit und Schulzeit in Hanau, Steinau und Kassel mit einer Fülle an Kontextinformationen, die sonst noch nicht in diesem Zusammenhang angeführt wurden. Begrüßenswert ist, dass Martus in die Erzählung individueller Schicksale der Grimms an allen wichtigen Punkten kulturgeschichtliche Kontexte einblendet, beispielsweise zur Kindheit im 18. Jahrhundert, zum zivilisatorischen Zustand Kassels Anfang des 19. Jahrhunderts oder zu literarischen und wissenschaftlichen Entwicklungslinien, Verwandtschaften, Analogien und Unverträglichkeiten. Diese Darstellungsweise dürfte es auch erleichtern, das angesprochene große Publikum dort abzuholen, wo es sich befindet (wenn diese Wendung aus der Politikersprache hier erlaubt ist), indem erstens einem aktuellen Standard kulturhistorischen Diskurses entsprochen wird, zweitens Anschlüsse an bereits vorhandenes Wissen leichter hergestellt werden können und drittens die unwiederholbaren historischen Voraussetzungen der beiden Biographien bewusst bleiben. Ob das Buch von Steffen Martus eben durch diesen weiten einbezogenen Kontext dazu beitragen kann, einen erneuerten, insbesondere nicht durch politische Vereinnahmungen und Aversionen belasteten Zugang zu den Persönlichkeiten und Werken der Brüder Grimm zu erleichtern, hängt davon ab, ob und wie das Publikum sich auf diesen Annäherungsversuch einlässt. Die sehr positiven Reaktionen in der Tagespresse Ende 2009 scheinen dafür zu sprechen.

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Die abschließenden zwei Kapitel beziehungsweise 200 Seiten haben die schlichten Überschriften »Göttingen (1830–1840)« und »Berlin (1841–1863)«. Alle Phasen sind demnach proportional zu ihrer zeitlichen Erstreckung berücksichtigt. Die sieben Hauptkapitel sind in drei bis acht Unterkapitel gegliedert. Kolumnentitel, die jeweils links das Hauptkapitel und rechts das Unterkapitel nennen, unterstützen die Lektüre. Die früheren Grimm-Biographien von Scherer (1864 u. ö.), Schoof (1960 / 61), Lemmer (1963), Denecke (1971), Michaelis-Jena (1980), Seitz (1984) und Schede (2004 / 09) sowie zu einzelnen Phasen und Aspekten von Frensdorff (1885), Praesent (1957), Hansen (1963), Schoof (1964), Ginschel (1967 / 89), Obenaus (1969), Hildebrandt (1984), Bluhm (1997), Lelke (2005), die Kasseler, Göttinger und Berliner Grimm-Ausstellungskataloge, die wichtigsten Editionen von Werken und Briefwechseln der Grimms und große Teile der Grimm-Forschungsliteratur sind mittels des ausführlichen und gut durchdachten Anmerkungsteils textbegleitend präsent und durch das mehr als dreißigseitige Literaturverzeichnis erschlossen. Schon die intensive Sichtung und Aufarbeitung der schwer überschaubaren Grimm-Literatur ist ein Verdienst der neuen Biographie. Es versteht sich, dass Interpretationen und Deutungen, die der Verfasser genrebedingt nur knapp entwickelt oder aus der vorhandenen Literatur übernimmt, oftmals Fragen und Zweifel hervorrufen, insbesondere für die mitlesende Forschung (die eigentlich nicht Adressatin des Buches ist). Am produktivsten und gerechtesten gegenüber dem Autor wird es sein, die neue Biographie in dieser Hinsicht als Anregung zur Weiterarbeit anzunehmen, was vielleicht auch späteren Auflagen zugute käme, ganz wie die Brüder Grimm selbst von Auflage zu Auflage an ihren gedruckten Werken weiterarbeiteten. So jedenfalls möchten die nachfolgend vorgebrachten Einwände und alternativen Betrachtungsweisen verstanden sein.

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Philologisch-politische Apotheke

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Recherche- und Erzählhaltung des Verfassers scheinen primär vom Interesse an psychologischer Spiegelung und am Wechselverhältnis zwischen Epoche und individuellem Lebensbereich geleitet. Martus beschreibt also vor allem Lebenssituationen und Lebensbeziehungen. Eine Biographie, die primär aus dem Inneren der Werke abgeleitet wäre, wie man sie sich für die Grimms auch vorstellen könnte, ist dies nicht – und kann es wohl schon aus Verlags- und Adressatensicht nicht sein. Diese Herangehensweise steht einer produktiven und anregenden Lesart der Werke Jacob und Wilhelm Grimms allerdings nicht im Weg. Martus sieht ihre Gelehrtenwerkstatt als »philologisch-politische Apotheke«, die »Mittel gegen die Krankheiten der Zeit« feilbot (S. 363). In allen Hauptwerken der Grimms (vom Forschungsthema 2 über die Konzeption 3 bis zur Sinnbildhaftigkeit der Sprache 4 ) sucht er politische Sichten und Absichten. Diese Interpretationsweise folgt dem von den Grimms kommunizierten Selbstbild, wonach, in Jacob Grimms Worten, »das streben, alles ernstes in unsere sprache, sage und geschichte zu dringen, [...] ein unmittelbar der gegenwärtigen und künftigen zeit zu gute kommendes unaufschiebbares geschäft« sei 5 . Politisches war also (allerdings bei Vermeidung des Wortes) ein Motiv ihrer Arbeiten, zu dem sie sich ausdrücklich bekannten, und es ist legitim, die Werke unter diesem Aspekt zu betrachten. Selbst im Kinder- und Hausmärchen Nr. 1, Der Froschkönig, kann Martus »modernste politische Theorie« entdecken. 6

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Seine an Beispielen ausgeführte These, dass in Argumentationsweise, Metaphorik und Wortwahl der Grimmschen Bücher zwischen den Zeilen politische Vorstellungen wahrzunehmen sind, wo von Politik vordergründig nicht gesprochen wird, vermag zu überzeugen, auch wenn man über einzelne der Beispiele anderer Meinung sein kann. Es ist plausibel, hierin jene Sublimierung politischer Ideale und politischen Ungenügens wiederzufinden, die für die Blüte von Kunst und Wissenschaft nach 1819 eine mächtige Triebkraft war.

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Martus charakterisiert die Brüder Grimm als Vertreter einer »jungen Generation von Sprachwissenschaftlern um 1800«, »die die Erforschung der Sprache zu ihrem Hauptgeschäft gemacht haben und die auf diesem Weg aus unteren oder mittleren sozialen Schichten aufgestiegen sind« (S. 290). Schon ihr Lieblingsprofessor und Freund Savigny in Marburg habe ihnen »das Bild einer dynamisierten Form des Wissens« vermittelt, »das ohne Ansehen der Person, des Standes oder der Herkunft, lediglich aufgrund von Kompetenz und Leistung erworben und ausgebreitet wird« (S. 75). Die Werke der Grimms werden knapp in ihrem historischen Kontext vorgestellt, kaum einmal aus heutiger Perspektive beurteilt. Die Wertschätzung von Jacob Grimms Geschichte der deutschen Sprache oder des Deutschen Wörterbuchs kommt deutlich heraus. Zur Deutschen Mythologie oder den Sammlungen von Märchen und Sagen scheint die Distanz größer.

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Falsche Fährten

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Die Kinder- und Hausmärchen (KHM), das erfolgreichste Werk der Grimms und das bekannteste Buch der deutschen Literatur, 7 stellt Martus in Beziehung zu Arnims und Brentanos Wunderhorn (S. 203–222). Zunächst waren die Märchen ein gemeinsames Sammelprojekt dieses Freundeskreises, und Arnim gab auch den letzten Anstoß zur Veröffentlichung und vermittelte den Verlag durch Reimer in Berlin. Auch wenn seit Musäus’ Volksmährchen der Deutschen (1782–1786) bis 1815 ein gutes Dutzend von Geschichtenbüchern mit dem Wort »Märchen« im Titel nachweisbar ist, hat einzig die Sammlung der Grimms bis heute Erfolg. Dies allerdings nicht von Beginn an, sondern erst die »Kleine Ausgabe« mit einer Auswahl von 50 Märchen bewirkte ab 1825 den Durchbruch als »Dauerseller« (S. 204).

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Eine nähere Untersuchung der Märchensammlung (etwa der Herkunft, der Motive und der Authentizität einzelner Märchen), der Sammeltätigkeit oder des Anmerkungsteils legt Martus nicht vor – eher interpretiert er die KHM als Gesamtprodukt ästhetisch und pädagogisch (S. 213–222) und erläutert am Beispiel von KHM 1 Der Froschkönig, wie und mit welchem Ergebnis Wilhelm Grimm die Texte im Lauf der Jahrzehnte stilistisch veränderte (S. 217–219). Als Mittel des Erfolgs nennt er Beharrungsvermögen, für das die Grimms Vorbilder des Fleißes und der Aufopferung in den Märchen finden konnten. Konsequent sei es daher, wenn Wilhelm in den Anfang des Märchens Schneeweißchen und Rosenrot eine Variante der Formel eingebaut habe, mit der Jacob und Wilhelm Grimm sich als Jugendliche brieflich brüderliche Treue geschworen hätten: »›Wir wollen uns nicht verlassen‹, versprechen die Mädchen einander« (S. 205). Und auch sonst seien die brieflich oder in autobiographischen Aufzeichnungen überlieferten Reflexionen der Grimms über eigenes Erleben dem Inhalt der Märchen manchmal verwandt. »Wilhelm Grimms märchenhafte Gesinnung reicht noch weiter«, so Martus (ebd.), etwa wenn Grimm meint, sich beim Aufsuchen von Kindheitsorten »wie ein abgeschiedener Geist« vorzukommen – das Motiv der Entrückung in eine andere Zeit sei ein häufiges Motiv in Märchen und Sagen.

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Die Aufmerksamkeit der Grimms für kleine Formen wie Märchen sei »nicht einmal wissenschaftlich unumstritten« gewesen, obwohl die Aufklärung »Aufmerksamkeit fürs Kleine und Unscheinbare« kultiviert habe (S. 206). Jedoch habe August Wilhelm Schlegel den Grimms kritisch ins Stammbuch geschrieben, nur einige wenige »Ammenmärchen« seien bewahrenswert; ihre Funktion bestehe darin, Kinder zum Einschlafen zu bringen, und man dürfe von »gescheiten Leuten« für solche »Albernheit« keine Ehrerbietung verlangen (S. 207). Am aufschlussreichsten an derartigen zeitgenössischen Reaktionen bleibt, dass die von den Grimms veröffentlichten Geschichten ganz selbstverständlich als jene »Ammenmärchen« hingenommen wurden, die mündlich kursierten. Nur war man sich eben über ihren ästhetischen Wert oder sogar über ihre Zulässigkeit als gedrucktes Buch uneins.

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Zwar setzten sich die Grimms mit Achim von Arnim und Clemens Brentano darüber auseinander, in welchem Umfang man bei der Drucklegung in die Form (und gelegentlich den Inhalt) gesammelter Texte eingreifen könne oder müsse. Die poetische Überarbeitung im Wunderhorn bereitete ihnen Unbehagen. Im Gegenzug fiel Arnim auf, dass auch die Grimm-Märchen wohl kaum mündlich in genau jener Weise erzählt worden seien, wie sie im Druck erschienen. Grimms replizierten mit dem Verweis auf die relative Stabilität von Motiven und Formeln und die Variabilität der Form als Wesensmerkmale des mündlich überlieferten Märchens.

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Fälschungsvorwürfe gegenüber den KHM oder den Deutschen Sagen sind in den zeitgenössischen Reaktionen noch nicht anzutreffen. 8 Sie wurden erst 130 Jahre nach dem Ableben Jacob Grimms modern. 9 Auch der bisher letzte Grimm-Biograph sieht in den KHM und den Deutschen Sagen Mystifikationen, Verschleierungen, Verdrehung und Manipulation von Tatsachen – mit der »Wahrheit« hätten die Grimms »es [...] nicht zu eng gesehen« und ihre Informationen hätten sie so lanciert, »dass die Leser auf falsche Fährten geführt wurden« (S. 208–210, S. 262).

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Dem Rezensenten sei die Frage erlaubt, ob derlei zum wissenschaftlichen Ethos der Brüder Grimm passt, wie es Martus im weiteren Verlauf seines Buches herausarbeitet, und ob es vorstellbar ist, dass sie ihr Gewissen und ihren guten Ruf der Gefahr ausgesetzt hätten, als Fälscher angreifbar zu werden? Und waren sie verpflichtet, der Nachwelt konkret Rechenschaft abzulegen, von wem und wie sie jedes Märchen und jedes Motiv bezogen hatten? Die Notizen im Handexemplar der Erstausgabe, 10 in denen Wilhelm Grimm Namen, Tagesdaten und manchmal Erzählorte nannte, sind nichtöffentliche, persönliche Erinnerungen, die vermutlich festgehalten wurden, als er einen Teil der ursprünglichen Märchenniederschriften vernichtete. Sie repräsentieren nur einen Ausschnitt des anzunehmenden Quellenspektrums. Den Grimms lag es fern, jede Erzählerpersönlichkeit öffentlich nachzuweisen, sondern sie begnügten sich hierfür mit Beispielen, ohne allerdings zu verschweigen, dass ihnen die Märchen nicht nur volkstümliche Beiträgerinnen wie die »Viehmännin«, sondern beispielsweise auch adlige Fräuleins aus Westfalen erzählt oder vermittelt hatten. Aus Sicht der Brüder Grimm traten die Persönlichkeiten der Erzählenden hinter dem anonymen, formal und oft auch motivlich variablen Erzähltext zurück, den sie auf idealtypische Weise zu verschriften suchten. Ihr Bemühen galt den Erzählungen, wie sie tatsächlich im Umlauf waren, und sie nutzten diese nicht lediglich als Reservoir zur Ergänzung eigener künstlerischer Phantasie, wie es noch Brentano mit den ihm zur Verfügung gestellten Grimmschen Urhandschriften tat. Eben diese (konzeptionell begrenzte) »Treue« befremdete die Zeitgenossen, zumal angesichts des knappen Erzählstils in der schmucklos gedruckten Erstausgabe von 1812 / 15.

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Der Rezensent ist überzeugt, dass die Brüder Grimm auf jene unfesten Texte, die sie einer mündlichen Erzähltradition zuordneten, das Idealtextverständnis der klassischen Philologie übertrugen. 11 Die Edition einer noch »treueren« Reproduktion von mündlich Erzähltem mit Zufälligkeiten und Unzulänglichkeiten der jeweiligen Erzählsituation entsprach nicht den damaligen Intentionen und Möglichkeiten. Protokollmäßige Aufnahmen wurden erst später versucht. Die Grimms haben kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie Befunde mehrerer einzelner Erzählsituationen, gegebenenfalls schriftliche Mitteilungen, Literaturquellen und abgelauschten Erzählstil kontaminierten, um idealtypische Fassungen der Geschichten herzustellen. Je nachdem, wie nah die Vorlage bereits dem Ideal kam und inwiefern es möglich war, den mündlichen Erzählfluss in der Schriftform zunächst einmal festzuhalten und dann als nahezu druckreif zu akzeptieren, konnte es vorkommen, dass Textabschnitte aus der mündlichen Rede übernommen wurden. So soll es, nach dem Zeugnis der Grimms, mit einigen Märchen der »Viehmännin« geschehen sein. Der Sammler und Stilist ist der Letzte in der Erzählkette und gibt den Märchen die jeweils bestmögliche vollständige und formvollendete Fassung. Das zeitgenössische wissenschaftliche und belletristische Publikum hätte keine Protokolle einzelner Erzählsituationen erwartet – ganz im Gegenteil. Und ihrer Urheberschaft an der Formfassung waren die Brüder Grimm sich sogar so gut bewusst, dass sie mit diesem Argument erfolgreich juristisch gegen einen Raubsammler vorgingen.

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Zu den KHM ist längst noch nicht alles gesagt, es bleibt vieles und wesentliches zu analysieren und präzise herauszuarbeiten.

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Moderne Traditionalisten

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Der von Steffen Martus kontinuierlich herangezogene Leitbegriff bei der Interpretation der biographischen Details ist – auch überraschend – die »Moderne«. Ihr »Sinn für die Vergänglichkeit und Andersartigkeit historischer Epochen« habe die Grimms »zu den modernsten Traditionalisten ihrer Zeit« gemacht (S. 9). Ihre »brüderliche Arbeitsgemeinschaft« verkörpere »geradezu zwei Seiten der Moderne«, als »eigentümliches Bündnis von Traditionsverlust und -bewahrung, von Eigensinn und Gemeinschaftsgeist« (S. 11). Auch in der von den Brüdern Grimm praktizierten »Streitkultur« sieht Martus »unbedingte Modernität«, da sie mehrere Lösungsmodelle für ein und dasselbe Problem entwickelt hätten: »Sie verbanden Eigensinn und Flexibilität, unnachgiebige Härte wider alle Regeln des Anstands und die Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven zuzulassen« (S. 151; »Der moderne Wissenschaftsbetrieb [...] setzt nicht auf Höflichkeit, sondern auf Konkurrenz«, S. 191; »Aufmerksamkeit ist alles«, S. 198 ). Die »Erforschung der älteren Literatur- und Sprachzeugnisse [...] verkörperte den Geist der Moderne: Der Gelehrtentypus, den sie hervorbrachte, orientiert sich am Vorläufigen und Künftigen, er schätzt Verbesserung und Kritik. Er bildete ein Virtuosentum der Unsicherheit mit eigenen sozialen Normen aus, im Positiven wie im Negativen.« (S. 122) Die Brüder Grimm und andere Romantiker hätten, so Martus, allerdings auch an der Moderne gelitten:

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Politisch hat die Französische Revolution liebgewonnene Gewohnheiten regelrecht guillotiniert; sie haben den Eindruck, dass das gesellige Amüsement die Menschen mehr zerstreue, als dass es sie verbinden würde; gewachsene gesellschaftliche Strukturen zerfallen, ohne dass ein Ersatz dafür in Aussicht wäre. Aber sie alle vertrauen fest darauf, dass es eine ›höhere‹ oder ›tiefere‹ Ordnung gibt, die es poetisch, philologisch oder rechtshistorisch zu erkunden gilt. (S. 180)
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In ihrer tagesaktuellen Publizistik (vor allem 1813 / 15 nach der Niederlage Napoleons und vor der Etablierung des Metternich-Systems) hätten Jacob und Wilhelm Grimm »das Profil des modernen politischen Journalisten« entwickelt: »Sie beobachten scharf, ziehen schnell ihre Schlüsse und reklamieren Meinungsführerschaft« (S. 248).

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Am Beispiel der improvisierten, experimenthaften Entstehungsweise von Jacob Grimms Deutscher Grammatik erklärt Martus, eine »Möglichkeit, die Unsicherheiten der Moderne zu bewältigen«, habe darin bestanden, »sich ihr gewissermaßen auszuliefern: Der dauernde Wechsel verwandelt sich dann von einem Schreckbild in ein Zeichen der Lebendigkeit. Eine andere Möglichkeit bestand darin, unter der unruhigen Oberfläche nach stabilen Beziehungen zu suchen. Auch diesen Weg beschritt Jacob Grimm, und er führte ihn auf den Parnass der Sprachforschung.« (S. 293)

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Ungeliebtes Wörterbuch

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Das vorletzte Unterkapitel von Martus’ Biographie, »bis an die schultern ins deutsche wörterbuch vergraben«, beginnt mit der Feststellung, das Deutsche Wörterbuch sei ein »ungeliebtes Werk« gewesen. Die Brüder Grimm »setzten sich nicht wirklich aus Leidenschaft für die Sache daran« (S. 480). Das Wörterbuch sei für sie vorrangig eine finanzielle Absicherung und der offizielle Anlass für die Berufung nach Berlin gewesen. Martus’ eigenes Verhältnis zum Wörterbuch ist hingegen so uneingeschränkt positiv wie wohl gegenüber keinem anderen der Grimm-Werke, die er in seinem Buch behandelt. Es zeichne sich durch Qualität und durch das Zusammenwirken vieler Beteiligter in einem »Projekt der Großforschung« aus (S. 491, S. 486). »Wie in einem gigantischen Brennglas bündeln sich in dem Monumentalwerk sämtliche Momente, die die Modernität der Grimms ausmachen.« (S. 483) Dies beginne beim »mut des fehlens«, der sich darin manifestiere, dass die Wörterbucharbeiten um 1840 begannen, ohne dass sie genau geplant waren. Die Methode sollte sich erst während der Arbeit ergeben.

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[...] letztlich ging alles – mit den Worten Haupts – »ungestört durch die erwägung unerreichbarer vollständigkeit oder fehlerlosigkeit« vonstatten. Die Grimms mussten ihre beschränkte Kontrollgewalt akzeptieren; sie mussten bestimmte Tugenden zeigen, die weitab von Vorstellungen souveräner Führung lagen; sie mussten in gewissen Maßen Fehler tolerieren und den »geringeren kräften« vertrauen. (S. 486 f.)
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Die Brüder Grimm definierten in und mit dem Deutschen Wörterbuch das Politische wie in ihren anderen Schriften. Das galt nicht allein für das Ziel der deutschen Einigung, dem das Lexikon zuarbeitete, indem es alle Deutschen gleichermaßen ansprach und an das einigende Band ihrer Sprache erinnern wollte. Vielmehr galt das auch für die Art und Weise, wie das Wörterbuch erarbeitet und gestaltet wurde. Es handelte sich um ein Gemeinschaftsprojekt, das im Zusammenwirken zwischen der »obersten leitung« und den »geringeren kräften« jene Prinzipien durchspielte, die die Realpolitik nach wie vor zu ignorieren versuchte: »Gesetze« wurden hier nach Maßgabe einer Praxis gefunden, die sich durch gemeinsame Erfahrungen allmählich selbst die Regel gab. (S. 488)
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Die Arbeit am Wörterbuch war laut Martus für die Grimms ein Prozess beständiger Revision, was sich auch daran zeige, dass sie gleich nach der Veröffentlichung der Lieferungen »mit großer Lust an der Verbesserung [...] Nachträge neben Nachträge« notierten (S. 484). Trifft es aber, das Verhältnis der Grimms zu ihrem langwierigsten und aufwendigsten Werk mit einer Formel wie ›Lust ohne Liebe‹ zu fassen? Der Rezensent meint, der Geschichte des DWB sei auch in der von Martus erzählten Fassung eine Leidenschaft der Grimms für das Wörterbuch zu entnehmen, die sie Jahre ihres Lebens kostete, nicht nur, weil sie etwa seit dem fünfundsechzigsten Lebensjahr (!) Monate und Jahre fast täglich von früh bis spät dafür tätig waren, sondern auch, weil diese Arbeits- und Lebensweise ihre Gesundheit untergrub, sogar Zeitpunkt und Art ihres Todes mitbestimmte. Die unter äußerster Mühe erreichte ›frucht-reiche‹ Krönung eines großen Lebenswerks verbindet sich mit ergreifender persönlicher Tragik, Schritt für Schritt rekonstruierbar durch die 2007 erschienene vollständige Edition der Briefwechsel zwischen den Brüdern Grimm und ihren Wörterbuch-Verlegern Reimer und Hirzel, die auch Martus seiner Biographie für die Laufzeit dieser Briefwechsel selbstverständlich mit zugrundelegt. 12

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Das Grimmsche Wörterbuch bedarf nach wie vor dringend solcher Freunde wie Steffen Martus, die sich ihm unvoreingenommen, neugierig und kreativ nähern. Denn nach jetzigem Informationsstand wird es 2012 abgebrochen, wenn die von den Brüdern Grimm 1852–63 publizierte Stichwortstrecke A–F durch die an den Akademien Berlin und Göttingen entstandene Neubearbeitung ersetzt sein soll. 13 Was es für das Verhältnis der Öffentlichkeit zur Germanistik (speziell zur deutschsprachigen Lexikographie) bedeuten würde, das immens populäre Label Grimm und das Konzept des beleggestützten historischen Bedeutungswörterbuchs aufzugeben, statt beides konsequent in das digitale Medium mitzuführen, ist bisher noch kaum erwogen worden. Die Grimm-Biographie von Steffen Martus könnte ein willkommener Anlass sein, hierüber ins Gespräch zu kommen, und auch er hätte wohl viel hierzu zu sagen. Es ist nachdrücklich zu begrüßen, dass diese neue Biographie der Brüder Grimm lesbar, ›modern‹ und kommunikativ ausgefallen ist.

 
 

Anmerkungen

Kindheitsszenen (1785–1802); Studium und Berufung (1803–1805); Standortbestimmung (1806–1809); Zwischen Wissenschaft und Politik (1810–1815); Eine »glückliche Zeit« (1816–1829).   zurück
Beispielsweise beziehe sich Wilhelm Grimms umfangreichste Akademieabhandlung, die er 1850 / 52 der Geschichte des Reims widmete, vielleicht »untergründig auf die Zeitläufte, denn immerhin ging es darin um jenes sprachliche Phänomen, das Unterschiedenes in Einklang bringt« (S. 478).   zurück
Im Reinhart Fuchs (1834) als Studie über die Tierfabel und der Deutschen Mythologie (1835) habe für Jacob Grimm, ähnlich wie in seiner Frühphase, zur Debatte gestanden, »wie man in einer Zeit, in der sich vermeintliche Stabilitäten als brüchig erwiesen, in der die Welt in Einzelteile zu zersplittern schien und der Verlust von gesellschaftlicher, politischer und geistiger Einheit sich als wesentliche Erfahrung aufdrängte, eine neue untergründige Einheit finden könne« (S. 368). Die dritte, wiederum völlig umgearbeitete Ausgabe des ersten Bandes seiner Deutschen Grammatik sei zugleich ein Kommentar Jacob Grimms zur zurückliegenden Affäre um die »Göttinger Sieben« und weise auf den politischen Konflikt voraus, der die Berliner Zeit der Grimms bestimmte: »Hier zeigte er am Beispiel der Sprache, wie eine Regierung aussieht, die Deutschland vereint. Die Grammatik nämlich habe auf der Grundlage ›eines tiefer gelegenen gesetzes‹ die Mittel gefunden, die ›wilde, allen verleidete etymologie zu zähmen und zu züchtigen‹. Damit mache sie ›der alten willkür ein ende‹. Dass die Rede von Zähmung und Züchtigung, von Willkür und Gesetz keine metaphorischen Kapriolen sind, wird spätestens in dem Moment deutlich, wo Jacob auf ›einheit und zusammenhang der innern deutschen volksstämme‹ eingeht, die seit der karolingischen Zeit immer auch durch Sprachpolitik vorangetrieben worden sei. Kurz: Jacob Grimm erzählt die Geschichte der deutschen Grammatik als Geschichte der Zivilisierung und Modernisierung, die auf die deutsche Einheit zuläuft.« (S. 418)   zurück
Wenn er sich in Bd. 1 (1819) der Deutschen Grammatik dagegen wandte, die ›lebendige‹ Sprache philosophisch zu bevormunden, habe Jacob Grimm genau die Vokabeln und Gedankenfiguren aufgegriffen, die er zeitgleich in seinem Votum gegen die kurhessischen Zensurbestimmungen ins Spiel brachte. »Und er wertete jene Teile der Gesellschaft auf, die von der kurfürstlichen Regierung gerade missachtet wurden: zum einen die ungelehrten niederen Schichten, zum anderen ›Mädchen und Frauen‹ – die Kurfürstin oder die Kurprinzessin wären aus der Sicht der Grimms sehr viel bessere Regenten gewesen als Wilhelm I. oder dessen Sohn.« (S. 291) »Die konsequente Kleinschreibung, die er in der zweiten Fassung des ersten Grammatik-Bandes einführte, hat im Übrigen – zumindest in der scherzhaften Erklärung gegenüber Meusebach – ebenfalls einen politischen Hintersinn, denn ›die groszen Buchstaben heben die Neutralität und Gleichheit aller Wörter in dieser Republik auf, führen einen ungegründeten Adel ein‹.« (S. 295)   zurück
Jacob Grimm: Geschichte der deutschen Sprache. Leipzig 1848, S. [III] (Widmungsvorrede an Georg Gottfried Gervinus).   zurück
»Die Untugenden im Kleinen führen in der besten aller möglichen Welten im Großen und Ganzen zum Wohl aller. Die unsichtbare Hand des Märchens hat alles so arrangiert, dass die Herrschaftsverhältnisse auf eine angenehme Weise stabilisiert werden: Der Diener freut sich über die Rückkehr seines Herrn. Das war modernste politische Theorie, wie sie in der Aufklärung entwickelt und in der Romantik gedanklich vertieft wurde. Selten dürfte die Lehre von den [...] ›privaten Lastern‹, die sich als ›öffentliche Tugenden‹ herausstellen, auf so originelle Weise in Szene gesetzt worden sein – mit dieser Formel hatte Bernard de Mandeville 1714 [...] das zentrale Prinzip einer liberalen Ökonomie formuliert: Wenn alle ihrem privaten egoistischen Gewinnstreben nachgehen, wird auf zauberhafte Art und Weise das öffentliche Wohl gefördert.« (S. 214)   zurück
»Die Kinder- und Hausmärchen [...] sind das weltweit bekannteste deutsche Buch neben der Luther-Bibel, mit Übersetzungen in über hundertsechzig Sprachen.« (S. 204)   zurück
Abgesehen von weiland Mercurio Cavaldi, der in seiner Anklagerede gegen die Brüder Grimm vor General Baron Delatombe, Militärkommandant des Königreichs Westphalen, ausführte: »Grimmi, euch wird nun der Prozess gemacht! Ihr seid angeklagt wegen Betrug, Diebstahl und Einbruch. Für diese Vergehen ist die Mindeststrafe« – und es ergänzte General Delatombe: »der Tod«. Es half den Delinquenten gar nichts, dass sie versuchten, sich als Schriftsteller und Gelehrte herauszureden. (The Brothers Grimm, Film unter der Regie von Terry Gilliam. Metro Goldwyn Mayer 2005.)   zurück
[Anonym:] »Anmutig sprudelnd. Den Märchenbrüdern Grimm war das Forscher-Image wichtiger als die Wahrheit. In ihrer Sagensammlung haben die beiden munter geschludert und geschönt«. In: Der Spiegel, Nr. 23 (1993), S. 224 f. URL: http://wissen.spiegel.de/wissen/image/show.html?did=9281385&aref=image036/2006/05/11/cq-sp199302302240225.pdf&thumb=false [Datum des letzten Zugriffs: 17. 1. 2010]).   zurück
10 
Die Kinder- und Hausmärchen. Kasseler Handexemplare mit zahlreichen Notizen und Ergänzungen von Jacob und Wilhelm Grimm. 2 Bände, Berlin 1812 / 1815. URL: http://www.grimms.de/contenido/cms/front_content.php?idcatart=521&lang=1&client=1 (Datum des letzten Zugriffs: 17. 1. 2010).   zurück
11 
Zu diesem Thema siehe Gunhild Ginschel: Der junge Jacob Grimm. Berlin 1967, 2. Aufl. 1989, S. 242 ff., sowie neuerdings beispielsweise Heinz Röllekes Interview mit Deutschlandradio Kultur aus Anlass des 150. Todestages von Wilhelm Grimm (16.12.2009), URL: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1089271/ (Datum des letzten Zugriffs: 17. 1. 2010).   zurück
12 
Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit den Verlegern des »Deutschen Wörterbuchs« Karl Reimer und Salomon Hirzel. Hg. von Alan Kirkness unter Mitarbeit von Simon Gilmour. (Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe in Einzelbänden. Bd. 5.) Stuttgart 2007.   zurück
13 
Siehe beispielsweise den Artikel »Es war einmal das Wörterbuch der Grimms« von Matthias Heine, in: Die Welt, 15. Juli 2009. URL: http://www.welt.de/kultur/article4127427/Es-war-einmal-das-Woerterbuch-der-Grimms.html (Datum des letzten Zugriffs: 17. 1. 2010).   zurück