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Update in Sachen Literaturbetrieb

  • Heinz Ludwig Arnold / Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. München: edition text + kritik 07.2009. 440 S. Paperback. EUR (D) 42,00.
    ISBN: 978-3-88377-996-6.
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Was man genau unter Literaturbetrieb versteht, weiß selbst der Autor des dazugehörigen UTB-Taschenbuchs nicht in genaue Worte zu fassen. 1 Möglicherweise kommt das Motto einer Online-Initiative der Sache am nächsten: »Ich mach was mit Büchern.« 2 Eine weitere Umzirkelung in Buchform liegt inzwischen vor, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold und Matthias Beilein.

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Die Autoren der 30 Beiträge des Bandes rekrutieren sich etwa zur Hälfte aus verschiedenen buchnahen Berufsfeldern, darunter renommierte Vertreter des Buchbetriebs, zur anderen Hälfte aus der Wissenschaft, vor allem aus dem Göttinger Promotionskolleg »Wertung und Kanon«.

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Literaturbetrieb in Deutschland blickt auf eine lange Geschichte zurück: Unter diesem Titel erschien erstmals 1971 eine kritische Bestandsaufnahme, eine zweite folgte zehn Jahre später. Nun, weitere knapp 30 Jahre danach, legen die Herausgeber in der dritten Neufassung wiederum dar, was sich heutzutage alles hinter dem Begriff Literaturbetrieb verbergen kann. Arnold und Beilein wollen »ein Panorama kritischer, teils dezidiert subjektiver Auseinandersetzungen mit den wichtigsten Berufsfeldern, Vermittlungsinstanzen und aktuellen Entwicklungen im literarischen Leben« bieten (S. 10).

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Ein tragfähiges Konzept?

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Die »wichtigsten« Instanzen implizieren einen repräsentativen Anspruch. Was sich im Literaturbetrieb im Vergleich zu den vorangegangenen Auflagen verändert habe, zeige sich anhand der berücksichtigten Themen. Diese Annahme – das sei gleich vorweggenommen – trifft durch die subjektive Auswahl, deren Kriterien nicht expliziert werden, nur in Teilen zu. Die Buchgemeinschaften – die noch die 1981er Auflage thematisierte, obwohl der Boom bereits abflaute – kommen im aktuellen Band nicht vor, stattdessen aber die Literatur- und Sprachakademien. Die von Letzteren vergebenen Preise bilden fraglos zentrale Elemente des Literaturbetriebs, aber es bleibt dahingestellt, ob die Buchclubs trotz starker Krisenerscheinungen nicht immer noch wirkmächtiger Bestandteil sind. Ebenso verhält es sich mit einigen Aspekten, die der Band aufnimmt, obwohl sie ein »Insider-Phänomen« (S. 292) wie die digitale Literatur ansprechen. Gerade solche Nischen bereichern die Tiefe der Darstellung und machen die Bestandsaufnahme umfassend, aber durch sie erübrigt sich die vermeintliche Repräsentativität – soweit die konzeptionelle Kritik.

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Liest man den Status quo der aktuellen Ausgabe von 2009 vergleichend mit den älteren, deckt sie dennoch einige Veränderungen von Komponenten des Literaturbetriebs auf. Wenn sich auch nicht alles grundsätzlich wandelte, zeigt ein Blick in die Inhaltsverzeichnisse, dass bestimmte Themen gegenwärtig keine Rolle mehr spielen: Raubdrucke sind heutzutage im weitesten Sinne höchstens online ein Problem und die gegenbewegten Ideen der Literaturproduzenten verliefen schon bald nach Erscheinen der ersten Ausgabe von Literaturbetrieb in Deutschland im Sande. Damit bekommen einige Texte den Charakter von Zeitdokumenten.

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Verschiedene Themen erfahren in der 2009er-Ausgabe ein Update, beispielsweise der Taschenbuchmarkt, die Literaturpreise, der Lektorenberuf, die Kleinstverlage, der literarische Agent oder der Buchhandel. Dabei weisen die Herausgeber darauf hin: »Viele Entwicklungen, die heute als aktuelle Phänomene gelten, zeichneten sich schon vor vier Jahrzehnten ab.« (S. 10) Gleichwohl muss der Leser sich solche diachronen Einsichten zu den vorausgegangenen Auflagen selbst erschließen. Eine positive Ausnahme stellt der Beitrag von Ernst Fischer über Bestseller dar. Insbesondere lag zwischen der letzten Auflage von 1981 und der aktuellen der Bruch von 1989/90. Leider gehen nur wenige Beiträge explizit auf dessen Auswirkungen ein, pflügte er doch gerade die Verlagsszene um.

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Ein Minimalkonsens, den Literaturbetrieb oder das literarische Leben zu greifen, wäre wohl hergestellt mit der Produktion, Verbreitung und Aufnahme von Literatur – vornehmlich der belletristischen Gegenwartsliteratur. Entsprechend diesem Grundverständnis und darüber hinaus gliedert sich das Buch in die Themenblöcke Berufsbilder, Vermittler, Märkte und Medien, Literaturbetrieb und Öffentlichkeit sowie Grenzüberschreitungen. Allerdings tut die im Buchtitel enthaltene Fokussierung auf Deutschland der letzten Rubrik Unrecht, denn deren Beiträge akzentuieren die Literaturbetriebe der Schweiz und Österreichs.

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Berufsbilder und Vermittler

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Die erste Rubrik enthält die Berufsbilder Verleger, Lektor, literarischer Übersetzer, Literaturagent, Buchhändler und Literaturkritiker. Lobenswerterweise zählt eine Abhandlung zum Verlagsvertreter dazu, auch wenn sie mit einer ungenügenden empirischen Basis operiert. Darüber hinaus taucht der Autor auf, jedenfalls im Hinblick auf seine institutionalisierte Ausbildung. Der Beitrag von Helmut Böttiger über den Literaturkritiker spricht – bis auf Exkurse zum Literarischen Quartett – ausschließlich über den Feuilleton-Bereich der Printmedien. Gleichwohl er unterhaltsam und kurzweilig daherkommt, fehlt die kritische Distanz, so dass gerade aufschlussreiche Reibungsflächen fehlen, etwa die absatzfördernde Wirkung der Kritik, die verbreitete Kopplung von Rezensionen mit Anzeigen oder neue Entwicklungen online. Außerdem sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass der Leser besondere Tiefe bei den Artikeln findet, die nicht bei einer Status-quo-Beschreibung verharren, sondern ihren Gegenständen historisch begegnen. Leider bleibt neben den vielen fundierten Aufsätzen dieser Rubrik eine Leerstelle im entscheidenden logistischen Bereich des Literaturbetriebs: dem mächtigen Zwischenbuchhandel. 3

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Im Themenfeld Vermittler greifen die Beiträge die Autorenverbände auf, die Literaturhäuser, Literarische Gesellschaften und Literaturmuseen, -archive sowie Literatur- und Sprachakademien. Dabei sticht sofort ins Auge, dass einer der wichtigsten Vermittler fehlt: die Bibliotheken. Stattdessen stolpert der Leser über die Nabelschau der Praktiker. Zwar pointiert der Sammelband gerade deren subjektive Sicht, doch vor allem in den ersten beiden Rubriken verstellt der Fokus auf den eigenen Gegenstand den Blick auf das große Ganze, also die Einbettung in die (kommunikativen) Strukturen des gesamten Betriebs.

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Potpourri

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Der Abschnitt Märkte und Medien versammelt eine wilde Mischung aus Verwertungsformen und allem was es anscheinend noch unterzubringen galt: Hier findet sich der Taschenbuchmarkt neben den Mini-Verlagen und Bestsellerlisten, darüber hinaus die Literatur im Fernsehen und im Radio, außerdem Literaturzeitschriften, Hörbücher, Books on Demand sowie digitale Literatur. Während die Analyse der Taschenbücher aufschlussreiche Einsichten bietet, kommt die Abhandlung zu den Mini-Verlagen aus, ohne das erfolgreiche Branding einer bestimmten Gruppe als junge unabhängige Verlage oder Independents zu erwähnen. 4

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Der Beitrag über Literatur im TV verwendet für eine Typologisierung der Sendungen eine wenig einleuchtende Unterteilung in Information und Unterhaltung. Ausgehend von der Annahme »dass Formate, die stärker der Information zuneigen, eher dem Literatursystem, Formate, die stärker der Unterhaltung zuneigen, eher dem System der Massenmedien zuzurechnen sind« (S. 223) fällt es den Autoren allerdings schwer, die besprochenen Beispiele eindeutig zuzuordnen – bis auf das längst überholte, wenngleich von den Literaturbetrieb-Ausgaben bislang noch nicht berücksichtigte Literarische Quartett. Mit diesen künstlichen Fragen im Gepäck bleibt der Befund lediglich, die Sendungen als Grenzgänger zwischen den Systemen zu beschreiben.

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Gleichsam lässt der Beitrag über digitale Literatur den Leser ratlos zurück. Erwartet er hier Informationen zu elektronischen Büchern, geht es vielmehr um digitale Literatur als »genuin elektronischer Texttyp« (S. 293). Dahinter verbergen sich vor allem Hyperfictions im Internet. Es handelt sich um ein randständiges Phänomen getragen »von einer überschaubaren Gruppe engagierter Akteure«. Wirft dieser Beitrag einen Blick auf eine durchaus interessante Bewegung, bleibt doch eine inhaltliche Lücke im gesamten Band: E-Books, ihre Erscheinungs- und Vermarktungsformen sowie ihr Einfluss auf das Lesen und die Literatur.

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Zeitgenössische Themen

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Generelle Fragen zum Einfluss des Internets auf die Literatur beantwortet allerdings der Beitrag »Das Buch und sein Leser im Web 2.0« in der Rubrik Literaturbetrieb und Öffentlichkeit. Damit vervollständigt sich die Palette der Themen, die zu den tatsächlich neuen Phänomenen des Literaturbetriebs zählen. Das trifft ebenfalls auf den Aufsatz zu, der seinen Fokus auf literarische Events wie Lesebühnen, Poetry Slams und Literaturfestivals richtet. Stephan Ditschke erwähnt darin zwar die großen Lese-Veranstaltungen in Leipzig, Köln und anderswo, ignoriert aber den ökonomischen Aspekt von Events als Instrument absatzpolitischer Marketingüberlegungen, die ihren Ausdruck in Harry-Potter-Nächten und Ähnlichem finden.

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Daneben handeln die Autoren althergebrachte Bereiche ab wie literarische Debatten oder Literaturpreise. Leider lesen sich die Ausführungen zu Letzterem wie ein Forschungsexposé, das nur einen Ansatz, aber keine Einsichten liefert und das um das Desiderat herumschreibt. Eine Aktualisierung erfährt das weite Feld Literatur und Justiz in dem Beitrag von Bernadette Kalkert und Thomas Krings, die sich detailliert mit der Esra-Kontroverse auseinandersetzen. Beide reihen sie in die lange Geschichte der Literaturverbote in Deutschland ein, bewerten aber auch die Reaktionen des Feuilletons kritisch.

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Der Band schließt mit Grenzüberschreitungen, die als wertvolle Ergänzungen über den deutschen Tellerrand hinausreichen. Neben dem dürftigen Beitrag zur Schweiz steht ein exzellenter zum literarischen Leben Österreichs. Die Autorin Doris Moser bietet einen kondensierten Abriss der Entwicklungen seit den 1980er Jahren, nicht ohne kritische Anmerkungen zur Literaturpolitik des Landes zu äußern.

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Kein Literaturbetrieb ohne Leser

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Dem Beitrag von Moser kommt noch aus einem anderen Grund eine Sonderrolle innerhalb dieses Sammelbands zu: Sie behandelt – wenn auch knapp – die Gewohnheiten des (Österreichischen) Lesers. Daneben räumt ihm nur Birte Huizing einen Platz ein in ihrem Beitrag über das Web 2.0, das ohne den Leser, der seine passiv-rezeptive Rolle aufgibt, schließlich nicht denkbar wäre. So bleibt der Konsument diskriminiertes Element in diesem Buch. Wie viel und warum er kauft oder wie oft wer was liest, hat sich tatsächlich verändert. Viel gebe es auch über den Medienverbund, die gewandelten Lesemodi und Funktionen des Lesens zu wissen.

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Kultur und Kommerz

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Außerdem ist der Leser auch immer ein Marketingadressat, über den die Sinus-Milieus Auskunft geben. Gestand Heinz Ludwig Arnold bereits in der Auflage von 1971, dass »Literaturbetrieb weniger mit Literatur als mit Marktbetrieb zu tun hat« (S. 9), so schlägt sich diese Einsicht zu wenig in den Beiträgen der neusten Ausgabe nieder. Ihr Schwerpunkt ist eindeutig hochkulturell und der bildungsbürgerlichen Tradition verpflichtet. Erfrischend lesen sich da die Anmerkungen zu den literarischen Events. Aspekte populärer Kultur, des Massenmarkts sowie der Kontext von Inszenierungssystemen und Marketing-Strategien fehlen allzu oft. Es ist bezeichnend für diesen Duktus, dass die Buchmessen als Motor und Spiegel des Literaturbetriebs vollkommen unter den Tisch fallen. Insofern war schon die 1971er-Ausgabe fortschrittlicher, in der sich der dtv-Werbeleiter in die Karten blick ließ, von Zielgruppen sprach, ohne sich zu scheuen, Zahlen zu nennen.

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Nichtsdestoweniger bleibt der Band eine aufschlussreiche, breitgefächerte und faktenreiche Zusammenschau. Er stützt sich auf viele kundige Beiträge, die einen Überblick über traditionelle und aktuelle Themenfelder rund um die Literatur bieten. Ergänzung findet der interessierte Leser durch die Systematisierungen von Bodo Plachta 5 und Stefan Neuhaus 6 .

 
 

Anmerkungen

Bodo Plachta: Literaturbetrieb. Paderborn, Stuttgart: Wilhelm Fink/UTB 2008, S. 9–15.   zurück
URL: http://wasmitbuechern.de/ (15.01.2011).   zurück
Kompensation bietet die neue Monographie von Thomas Bez und Thomas Keiderling: Der Zwischenbuchhandel. Begriffe, Strukturen, Entwicklungslinien in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart: Hauswedell 2010.   zurück
Lucia Schöllhuber: »Der Text ist nicht die Party. Aber ein Teil davon.« Literatur als Lebensgefühl: Bücher, junge Verlage und ihre Community. In: Flachware 1 (2009/2010), S. 263–275.   zurück
Bodo Plachta (Anm. 1).   zurück
Stefan Neuhaus: Literaturvermittlung. Konstanz: UVK/UTB 2009.    zurück