IASLonline

Das Spiegelkabinett des Dr. Sarasin

  • Philipp Sarasin: Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. 455 S. EUR (D) 24,80.
    ISBN: 9783518585221.
[1] 

Dr. Jekyll oder Mr. Hyde?

[2] 

Am Anfang schreibt Sarasin über seinen Versuch zum Darwin-Jahr 2009: »Dieses Buch ist ein Experiment« (S. 9). Resultat soll die Rekonstruktion einer »stille[n] Referenz« sein (S. 10). Ob das Experiment gelingt oder der Leser vielmehr Zeuge eines ›Dr. Jekyll und Mr. Hyde‹-Falls ist, bleibt abzuwarten. Die Methode, die Sarasin wählt, erinnert oft an einen Walzer, bei dem sich Darwin und Foucault umeinander drehen, von anderen Tänzern abgelöst werden und dennoch immer wieder zueinander finden. Sarasin beschreibt seine Methode metaphorisch mit naturwissenschaftlichen Begriffen: Zwei Säuren werden vermischt, um daraus eine noch stärkere zu erhalten.

[3] 

Die Ausgangslage ist schwierig, denn Foucault hat so gut wie nie auf Darwin verwiesen. Zwar redet er in seinen Büchern (v.a. Die Ordnung der Dinge) von den unterschiedlichen Neu-Orientierungen der Biologie im Laufe der Geschichte – doch von Darwin ist höchstens als Antonomasie zu lesen. Die Eigenart Foucaults bestehe eben darin, dass er zwar viele Einflüsse anderer Denker in sein Werk aufgenommen habe, in seinen Schriften aber hauptsächlich seine Gegner erwähnt und kritisiert. Sarasin verwendet gerade Foucaults unbekanntere Texte, die einen umfassenderen Zugang zu den Vordenkern bieten sollen, wenn Foucault in Interviews auf konkrete Wissenschaftsbereiche angesprochen wird.

[4] 

Jedoch ist die Quellenlage ein Problem für den Vergleich Sarasins, das noch durch ein weiteres verstärkt wird: Foucault ist ›Philosoph‹, Darwin Biologe. Dieser Umstand verlangt von einem Vergleich sehr viel. Es müssen die unterschiedlichen Wissenschaftskulturen und Zielsetzungen immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden, an denen die beiden Forscher sich und ihre Arbeiten messen. Und so sucht Sarasin Anknüpfungspunkte, die beider Denken verbinden, ohne es allerdings gleich zu machen – so die Idee seines Säure-Experimentes.

[5] 

Zwei Denker und ihre Geschichte

[6] 

Es gibt nun drei Gebiete, auf welchen ein Vergleich stattfindet und die in gewisser Weise quer zur zeitgenössischen Denktradition liegen: die Absage an eine systematische Theorie; genealogische Untersuchungen statt der Suche nach einem überzeitlichen Ursprung bzw. Wesen; eine Analyse von Machtverhältnissen.

[7] 

Sarasin fängt mit einer historischen Aufarbeitung an, indem er semi-narrativ die Anfänge des darwinschen Denkens während seiner Reisen auf der H. M. S. Beagle schildert und die vielfältigen Eindrücke wiedergibt, die der junge Forscher so zahlreich an den vielen Orten seiner Untersuchungen sammelte; bereits hier hegte er erste Zweifel an dem vorherrschenden Klassifikations-System von Linné. Auch Foucaults Werdegang wird kurz geschildert: seine naturwissenschaftliche Herkunft (aus Medizin und Psychiatrie), die ihn durch Canguilhem und Bachelard besonders mit Fragen nach dem Wahnsinn, Gesundheit und Krankheit konfrontierte – bis hin zu diskurstheoretischen Gedanken, die vor allem in Die Ordnung der Dinge ihren Ausdruck finden. Dies bildet eine legitime und ›einfache‹ Heranführung an die doch mächtigen Werke.

[8] 

Die Art und Weise, wie Sarasin nun von diesem Ausgangspunkt aus die beiden Denker weiterhin vergleicht, ist interessant: Anfangs schildert er beider Anfänge und Theorien in voneinander abgegrenzten Teilkapiteln, um dann nach und nach die verschiedenen ›Bilder‹ ineinander zu verschieben und übereinander zu legen. Dabei passt sich Sarasin in seiner eigenen Arbeit seinem Thema an; im Wesentlichen ›verzeitlicht‹ er die Gedanken und bringt so die Bilder zum Laufen, gleich einem Kino-Film. Daher rührt vielleicht auch die stille Reminiszenz seines Untertitels (»Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie«) an den Untertitel von Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft - Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Diese Ähnlichkeit der Methode zu dem Gegenstand der Untersuchung mag auch ein Grund dafür sein, dass der Versuch einer gewissen Objektivität nicht mehr erkennbar wird. Es scheint, als müsste man die Arbeit Sarasins eher als eine Collage verstehen, indem er die verschiedenen Bilder nebeneinander stellt und sie, mit Hilfe des geneigten Lesers, zum Laufen bringt. Dem Verlust an Objektivität wird dabei aber ein Surrogat entgegengestellt: Lebendigkeit. So werden nicht einfach zwei Gedankensysteme gegenübergestellt, sondern es wird die Entwicklung und Veränderung verschiedener Begriffe aufgezeigt und parallel gesetzt. Gerade durch die assoziativen Exkurse werden weitere Ausführungen und Bilder geboten, die sich ohne oder mit nur geringer wissenschaftlicher Führung stets mit weiteren verdichten.

[9] 

Im Grunde beruht sein Vergleich auf in der Forschung bereits bekannte Themen. Das bisherige tradierte System der Klassifikation von konkreten Gegenständen weicht einer neuen Vorstellung über die Diskontinuität und Geschichtlichkeit der Theorien. Darwin zeigt auf, dass Linnés Taxonomien nicht mehr geeignet sind angesichts der unzähligen Varietäten und verborgenen Verschiebungen der Arten. Die scala naturae, die schon Aristoteles zu erkennen trachtete, kann nicht mehr gehalten werden – es wird ein neues oder stark erweitertes Modell gefordert, das die vertikale (systematische) Achse mit der horizontalen (zeitlichen) Achse verbindet. Ein Thema, das Foucault vor allem in seiner Anfangszeit der fünfziger und sechziger Jahre bearbeitete und gerade zu dieser Zeit immer wieder auf die Serialität und Diskontinuität der Geschichte und ihrer Diskurse hinweist. Nietzsche bildet hier, laut Sarasin, einen wichtigen Vermittler. In Berufung auf die genealogischen Untersuchungen, die Nietzsche (und dieser wiederum mit Hilfe von Darwin) durchführte, wurden die naturwissenschaftlichen Ergebnisse auf die geisteswissenschaftliche Ebene transferiert. Foucault versucht nun, die Wissenschaft im Ganzen zu sehen und mit Hilfe der genealogischen Methode den diskursiven Charakter zu verdeutlichen.

[10] 

Sarasin stellt so heraus, dass sowohl Darwin als auch Foucault zentrale Punkte des bisherigen Denkens auf eine neue Ebene hoben: die Suche nach Identität wird von der Suche nach den relational-konfligierenden Identitätsbildungen abgelöst, die Abwendung von einer mathematisierten Statistik überzeitlicher Systematik der Arten hin zu historiographischen Epistemologien des Konkreten lässt einen Fokus auf die zeitliche Achse zu. Die Genealogie spielt hierbei die entscheidende Rolle in der Verbindung der Gedanken von Darwin und Foucault.

[11] 

Kulturalismus und Biologismus

[12] 

Am Ende seines Buches wendet sich Sarasin noch zwei Richtungen zu, die er mit Hilfe seiner bisherigen Untersuchung kritisieren und verwerfen möchte: Kulturalismus und Biologismus. So schließt er mit Darwin und Foucault, dass die biologistische Sichtweise zu einseitig ist, da die Lebewesen nicht nur von chemischen Vorgängen oder neuronalen Steuerungen charakterisiert werden, sondern auch durch bestimmte Zeichensysteme, die das Leben überindividuell ordnen. Jedoch darf dies nicht als eine kulturalistische Ausprägung gedeutet werden, da sich jene Zeichensysteme nicht hereditär »weitervererben«, sondern arbiträre Verknüpfungen vorgestellt werden müssen. Demnach ist die sexual selection nicht durch universale Schönheits-Kriterien bestimmt, sondern durch kontingente Merkmale, die sich stets verändern. Die reduktionistische Vorgabe dieser beiden Richtungen durch die Dichotomie von Natur und Kultur kann Sarasin nach seiner Analyse nicht mehr bestehen lassen, da diese Trennung einen objektiven Blick voraussetzen würde, der die Dinge unvoreingenommen erkennen kann – gerade Darwin und Foucault weisen aber mit Hilfe der Genealogie auf die dringende Notwendigkeit hin, dass dieser Blick niemals frei oder voraussetzungslos ist. Die Definition von Natur oder Kultur ist damit stets von Diskursen und bestimmten Machtverhältnissen geprägt – oder anders gesagt: die wissenschaftliche Meta-Ebene stellt sich als Schimäre heraus.

[13] 

Ein Buch der Brüche

[14] 

Am Ende lässt sich also sagen, dass Sarasin ein komplexes Buch geschrieben hat, das zwei Denker zusammenbringt, die bisher nicht in extenso verglichen wurden. Sein Vorgehen ist elegant, aber auch problematisch, da er der Schwierigkeit kaum entgehen kann, sich seinem Untersuchungsgegenstand anzupassen. (Allenfalls könnte er sich fragen, ob dies nach der postmodernen Wende und dem linguistic turn noch statthaft ist.) In diesem Sinne ist das Buch von Sarasin ehrlich, er appelliert nicht an eine wissenschaftsgläubige Universalwahrheit, er verteidigt keine objektive, meta-diskursive Position bis aufs Blut. Auch wenn seine Exkurse oft in Beliebigkeit abzurutschen scheinen oder er dem unmöglichen Anspruch an eine umfassende Schilderung der historischen Situationen verfällt, kann dieses Buch als ein gelungener Versuch gesehen werden, zwei Wissenschaftler miteinander zu vergleichen, ohne ihre Theorien aneinander anzupassen. Es ließe sich als ein Buch der Brüche beschreiben – Brüche zwischen den Denkern und ihrer Traditionen, ein Bruch mit der Vorstellung eines objektiven Autor/Wissenschaftlers und ein Bruch zwischen Buch und Leser, indem Letzterer durch die collageartige Arbeit auf seine eigenen Lesegewohnheiten gestoßen wird. Will man dieses Buch wirklich lesen können, so muss man mit ihm wüten, es beschimpfen und loben – am Ende wird sich dann zeigen, wie es den Leser selbst geformt hat.