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Literatur und Nationalökonomie:

Die wirtschaftliche Moderne um 1900 in Romanen und Wissenschaft

  • Franziska Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola. Bielefeld: Aisthesis 2009. 346 S. Kartoniert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 978-3-89528-756-5.

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»Aneignungsgeschäfte«: Wer entdeckte den »kapitalistischen Geist«?

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In dem hier zu besprechenden Buch untersucht die Trierer Germanistin Franziska Schößler, wie Literatur und Nationalökonomie die Schlüsselfrage der um 1900 geführten Debatten um ›Wesen und Kultur-bedeutung‹ des Kapitalismus verhandeln. Dabei fallen dem Leser all jene Passagen besonders ins Auge, in denen dieses Verhandeln im wortwörtlichen Sinne geschah, etwa, wenn Thomas Mann im Rückblick Originalität gegenüber Max Weber proklamierte. In einer Passage seiner Betrachtungen eines Unpolitischen (1919) beanspruchte der Schriftsteller für sich – und somit für die Literatur –, was gemeinhin als das Werk Webers und der theoretischen Nationalökonomie gilt, nämlich jenen »kapitalistischen Geist«, die Mentalität des bürgerlichen Leistungsethos aus dem Geiste der Askese und der umfassenden Pflichterfüllung, entdeckt, erkannt und beschrieben zu haben: »Ich lege einigen Wert auf die Feststellung, daß ich den Gedanken, der modern-kapitalistische Erwerbsmensch, der Bourgeois in seiner asketischen Idee der Berufspflicht sei ein Geschöpf protestantischer Ethik, des Puritanismus und Kalvinismus, völlig auf eigene Hand, ohne Lektüre, durch unmittelbare Einsicht erfühlte und erfand.« (S. 108; Zitate im Text beziehen sich auf das besprochene Buch). Die in dieser Äußerung enggeführte Wahl­verwandtschaft zwischen dem Romancier und dem Heidelberger Professor, zwischen der fiktiven Welt des Lübecker Handelshauses der Familie Buddenbrook und dem sozial­wissen­schaftlichen Werk des Nationalökonomen, offenbart Trennendes und Verbindendes zugleich, doch das Gemeinsame scheint zu überwiegen. Erkenntnisinteressen und -methoden von literarischem und wissen­schaftlichem Blick auf die moderne Ökonomie erscheinen hier alles andere als antagonistisch: In diesem Wettstreit um Deutungen waren die Phantasie literarischer Metaphorik und die Analyse sozialwissenschaft­licher Erklärung die beiden Seiten derselben Medaille, und die Nähe offenbart, dass die beiden Wissensfelder keineswegs nur konkurrierten, sondern gerade­zu konvergierten, dass also das Repertoire an Beschreibung von Literatur und Ökonomie um 1900 sich gegenseitig beeinflusste, dass beide voneinander profitierten und beide Felder ihre jeweiligen Thesen und Befunde miteinander austauschten.

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Thomas Mann nannte diesen intellektuellen Austausch und die Osmose zwischen Literatur und Fachwissen ironisch »Aneignungsgeschäfte«; und eine Mischung aus ›Aneignung‹ und ›Tauschgeschäft‹ war es auch dort, wo er darauf beharrte, »ohne Lektüre« und »völlig aus eigener Hand« erfunden zu haben. »Aneignungsgeschäfte« zu betreiben, das war in einer strengen Sicht der Dinge bereits die Anmaßung, die darin bestand, dass er auf Papier in Tintenschrift die Verwandlung von Beobachtungen und Lektüren in Romane betrieb. Dieser von außen betrachtet vermeintlich geniale künstlerische Schöpfungsakt, Wirklichkeit in Literatur und Ideen in einen Text zu konvergieren, ist, folgt man der Selbstironisierung des Schrift­stellers, weniger ein ingeniöser Moment der Offenbarung, als vielmehr ein Geschäft, eine Art von kapitalistischem Tausch, der im Idealfall Vorteile für beide Seiten mit sich bringt. Darüber hinaus stellt er auch eine fast dreist zu nennende Alchemie des klug dosierten Mischverhältnisses von bloß Vorgefundenem und neu Hinzu­erfundenem, von Fremd- und Selbstgeschaffenem dar. Wo zuvor »nichts« war, auf dem leeren weißen Blatt, stand auf einmal ein von zukünftigen Lesern begehrtes Zusammenhängend-Ganzes, ein »etwas«, das sich noch dazu in Wert verwandelte, da es sich für Geld verkaufen ließ. So besehen sprach Thomas Mann hier mit Bedacht in einem doppelten Sinne von literarischen »Aneignungs­geschäften«: eine Aneignung, in der aus Wirklichkeit Kunst wurde und ein Geschäft, durch das aus Kunst Geld werden konnte.

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Wissensordnungen der modernen Wirtschaft

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Mit seiner Bemerkung über seine »Entdeckung« der von der zeitgenössischen National­ökonomie umkreisten Frage nach den mentalen Ursprüngen des Kapitalismus hatte der Schriftsteller mehr als nur ein beiläufiges Bonmot geliefert. Hier lässt sich die Frage anschließen, wie das Nach­denken über die Entstehung und Funktionsweise der modernen Wirtschaft, das von Literatur- und Geschichtswissenschaft lange streng separiert in zwei Modi wahrgenommen und bearbeitet wurde, wieder zusammengeführt werden kann. Diese Zu­sammenführung von zu Unrecht getrennten Wissensordnungen propagiert das vorzügliche Buch Schößlers, die mit ihrer Eröffnung der Reihe »Figurationen des Anderen« an die Arbeiten von Judith Marcus, Edith Weiller oder Johannes Kleinsorg in den 1990er Jahren anschließt 1 und dabei doch einen ganz eigenen Zugriff präsentiert. Die generelle Frage, auf welchem Feld zwischen 1860 und 1930 die Erkenntnisse über die Logik des Wandlungs­prozesses von der ständischen Gesellschaft zur kapitalistischen Waren- und Tauschwelt am besten aufgehoben seien, ob im Rahmen der an Universitäten gelehrten, akademisch etablierten Nationalökonomie oder in den Fiktionalisierungen des Romans, sollte – so legt Schößler überzeugend nahe –, nicht voreilig entschieden werden: 1900 erschien in zwei Bänden Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks, fast zeitgleich, ebenfalls zweibändig, das Werk Der moderne Kapitalismus von Werner Sombart, dem populärsten Vertreter seines Fachs in jener Epoche vor dem Ersten Weltkrieg; aus heutiger Sicht erscheint es evident, dass beide, Schriftsteller und National­ökonom, mit ihren Büchern auf ein und dasselbe reagieren; »Aneignungsgeschäfte« waren daher die Texte des einen ebenso wie des anderen; welche Ideologie dabei aber mehr Wirk­lichkeit, welche mehr Fiktion enthielt – dies nur eine der grundlegenden Einsichten Schößlers –, ist keineswegs schon allein durch die Wahl des Textsorte ›Roman‹ oder ›Wissenschaft‹ ent­schieden.

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Die Verf. hat mit »Börsenfieber und Kaufrausch« genau diese thematische Nähe über die vermeintlichen Trennungen der Textgenres und Wissensfelder hinweg zum Gegen­stand ihrer Darstellung gemacht. Das Buch ist das Ergebnis der Suche nach der »sozialen Resonanz« von fiktionalen Texten aus dem Bereich der populären Ökonomie (S. 32): Die hier vorfindbaren Verstellungen, Verdichtungen, Verzerrungen – so das bei der Themenstellung angemessene psychoanalytische Vokabular – offenbaren beispielsweise (im Anschluss an das Buch von Hans Rosenberg von 1967), dass die »Große Depression« nach der Reichsgründung von 1870/71 weniger ein hartes Thema der Wirtschaft, als vielmehr eine »mentale Haltung« darstellt, ein »Wahrnehmungsmodus, der mit den Zahlen nicht zur Deckung kommt«, so Schößler (S. 39). Die 320 Seiten ihrer Studie über die literarische und nationalökonomische Evokation zweier zentraler Orte der kapitalistischen Moderne – die Börse und das Kaufhaus der Großstadt – wird dabei zugleich zu einer Reflexion über die immer wiederkehrende Struktur­analogie von Anti­kapitalismus und Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert und nimmt so eine umfassende Dar­stellung der Mentalitätsgeschichte denunzierter »unproduktiver« Ökonomie vorweg.

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In den zwölf Kapiteln argumentiert die Verf. sowohl mit Beispielen der nationalökonomischen Fachliteratur der Zeit als auch anhand der damaligen französischen und deutschen Literatur zum Thema. Ihr Buch, das sowohl die bekannten Klassiker als auch zahl­reiche weniger geläufige oder gänzlich vergessene publizistische Quellen heranzieht, ist in zwei Teile gegliedert, dessen erster unter der Überschrift »Börse und Kredit – Spekulanten, Bankiers und Literaten« Studien zu Theodor Fontane, Heinrich und Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Adolf Dessauer, Ludwig Jacobwoski, Walther Rathenau und Frank Norris versammelt. Der zweite Teil trägt die Überschrift »Produktion und Konsumtion – Ingenieure, Unternehmer und Käuferinnen« und untersucht entlang der Rezeption oder der Verwendung des Kaufhaus- und Konsummotivs Texte von Fontane und Émile Zola, dazu noch wenig bekannte Romane von Bernhard Kellermann, Wilhelmine von Hillern, Erich Köhrer und Alexander Freund. »Kaufhaus«, »Börse«, »Kredit« werden von der Verf. als Orte, Sujets und Symbole betrachtet, sie ent­schlüsselt sie als Kampfbegriffe, als Chiffren für Modernität und als Knotenpunkte, in denen sich die Sache und der Diskurs über sie verdichten. Schößlers Buch betrachtet Texte, deren Handlung im Vordergrund durch die verborgene moderne Ökonomie determiniert werden (etwa Theodor Fontanes Börsenroman L’Adultera von 1880/82), Bücher über Massenkonsum (etwa Paul Dehns Die Großbazare von 1899) und Traktate über das Verhältnis von Nation, Ökonomie und Geschlecht (etwa Sombarts Abhandlung Die Ratio­nalisierung der Liebe durch die jüdische Religion und ihre Bedeutung für das Wirt­schafts­leben von 1911): Überall findet die Autorin quer zu den Wissensordnungen Grenz­ziehungen, die das Eigene und das Fremde, das Deutsche und das Jüdische, das vermeintlich Richtige und das als pathologisch Denunzierte, voneinander abgrenzen.

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Erkenntnis-Metaphern des Ökonomischen

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Dass die Ökonomie sich, wie dies Oswald Spengler einmal böse, aber treffend formuliert hat, »anmaßte, die Menschen als Zubehör zur wirtschaftlichen Lage zu betrachten« 2 , hat moderne Literatur und moderne Geschichtsschreibung des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahr­hunderts gleichermaßen provoziert und fasziniert. Schößlers Analysen umfassen den Kanon beider Genres, also Klassiker wie Gustav Freytags Soll und Haben von 1853 oder Émile Zolas L’Argent von 1891 auf der einen und Werner Sombarts Buch Der Bourgeois von 1913 oder Thorstein Veblen Theorie der feinen Leute aus dem Jahr 1899 (mit ihrem direkten Einfluss auf Heinrich Mann und dessen Roman Im Schlaraffenland): Letztere etwa gestalten, so die Verf., dieselbe These, nämlich die Darlegung des Gesetzes von der auf Zuschauer zielenden »demonstrativen Verschwendung«. Zur damit einhergehenden zirkulären Struktur der national­ökonomischen Wissensproduktion verweist Schößler mit guten Gründen auf das Beispiel der Publizistik Walther Rathenaus; dieser setzte sich in seinen Spätschriften explizit mit den Arbeiten Sombarts auseinander, der diese (also sich selbst) wiederum in seinem Spät­werk zitierte (S. 194).

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Das Thema des Buches von Schößler ist also noch viel weiter gefasst, als es der Titel auf dem Umschlag benennt, denn der Leser findet hier die Analyse von grund­legenden Erkenntnis-Metaphern des Ökonomischen vor. Meist gingen die Autoren von einer Analogie zwischen menschlichen Charaktereigenschaften und der Frage nach der »guten Ordnung« im Bereich der Wirtschaft aus. In dem theoretisch versiert geschriebenen Buch schließt die Verf. an Jochen Hörisch, Bernd Blaschke und Joseph Vogl 3 an und zeigt die in Texte überführte Literarisierung von Ängsten, Hoffnungen und alltäglichen Ressentiments gegenüber wirt­schaftlichen Neuerungen auf. So führt sie den Leser an einer anthropologischen Seite des Nachdenkens über Ökonomie entlang, dort, wo der Intellekt mit seiner belesenen oder auch nur intuitiven Argumentation die eigenen Abneigungen und Vorurteile verteidigt. Innerhalb dieses ganz allgemein gehaltenen methodologischen Rahmens konzentriert sich Schößler auf zwei Engführungen, die das literarische Korpus derjenigen Werke, die Grundfragen der Ökonomie zum Thema haben, entscheidend strukturieren: Erstens der starke antikapita­listische Affekt, der in den Grundbüchern zum Thema evident ist; zweitens die mitunter aufdringlichen, manchmal aber auch unauffällig gestalteten Personen- und Gruppen­kon­stellationen, die dem Lesepublikum antimoderne Stoßrichtungen anhand von jüdischen Protagonisten vorführen. 4

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Seit dem Vormärz diskutieren die Emanzipationsforderungen an Juden »eine Integration in die Unterschicht, um ihre unkontrollierbare soziale Mobilität zu verhindern.« (S. 49) Neue Wirtschaftsformen, Verkehrswege, Reklame, Konsum, Luxus oder eine neue Hotelkultur verändern die Bewertungen menschlicher Emotionen: Verführung, Rausch manifestieren sich im Sujet des neuen Kaufhauses und werden literarisch wie wissenschaftlich weiblich konnotiert. Neue äußere gesellschaftliche Werte verbinden sich mit neuen sozialen Figuren wie dem Aufsteiger, dem Dandy, dem Spekulanten oder generell dem schnell reich gewordenen Parvenü: Der Prototyp hierfür ist der an der Börse ein- und ausgehende Jude. In beiden Sphären findet, so Schößler, eine Fiktionalisierung des Ökonomischen statt, einerseits diejenige durch ›unsichtbare‹ Aktien, Wechsel, Zins und Kredit, andererseits durch die Re-Personalisierung dieser Unsichtbarkeit durch jüdische Charaktere (S. 106). Von Beginn an gehört es zum Beschreibungsmodus der Börse, ihre Undurchsichtigkeit, Geschwindigkeit und Mobilität sowie die von ihr zu verantwortende Nervosität herauszustellen (S. 40). Die Börse wird – bevor sie verstanden wird – gleichsam ›literarisch‹ aus der anerkannten und zäh verteidigten Produktivitätsdoktrin, in der ein vormodernes und national konnotiertes Arbeits­ethos dominieren, ausgeschlossen (S. 40). So produzieren Texte, die sich selbst zugute halten, Unsichtbares sichtbar gemacht haben, Hass auf einen vermeintlich unsoliden, magischen Reichtum (der keine Tradition aufweisen kann); sie verwenden rhetorisch das Glückspiel als Chiffre (gegen den angeblich echten Verdienst); sie laufen Sturm gegen Geld ohne Arbeit, gegen Reichtümer aus dem Nichts, so wie es etwa in Heinrich Manns Satirischem Frühwerk Im Schlaraffenland (1894) heißt, in dem einer der Protagonisten den Beruf der Börsenmaklers mit dem Satz: »Die Leute tun nichts […]« abschließend zu charakterisieren meint. Den neuen Verkaufsformen des Kaufhauses schlagen regelrechte Destruktionsphantasien entgegen: In einem besonders bitteren Kapitel zeigt Schößler am Beispiel der heute vergessenen Romane Warenhaus Berlin von Erich Köhrer und Der Warenhauskönig von Alexander Freund den Anschlag auf die neuen Bauten der Kaufhäuser und ihr pogromartiges Einäschern als End­punkt des kollektiv auf die Juden projizierten Hasses auf.

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Öffentliche Debatten und Spezialdiskurse über »Produktivität«

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Das Buch entschlüsselt öffentliche Debatten und Spezialdiskurse der Zeit über den Wert von »Produktivität«: in beiden wurde auf die neuen industriell-technischen Produktionsprozesse mit Stigmatisierung, Kriminalisierung und Pathologisierung reagiert. Der »Ruch scheinhafter Existenz«, so die elegante Formulierung Schößlers (S. 42), die ohne Mühe lebt und dazu noch Opulenz ausstellt, habe den zeitgenössischen Vorwurf nach sich gezogen, Nachahmung und Kopie zu sein, und wurde immer wieder antisemitisch aufgeladen und gegen vermeintlich schöpferische Leistungen ausgespielt – Richard Wagner, Anatole Leroy-Beaulieu und andere schrieben hierzu die kanonisch gewordenen Pamphlete. Die dichte Argumentation des Buches wird dort besonders aufschlussreich, wo die Verf. Koppelungen von Antikapitalismus, Anti­semitismus und Antifeminismus auf­zeigen kann: welche der Koppelungen auch immer vor­genommen wurde, stets dominierte ein »binäres Metaphern­system« (S. 52) von »Kälte« vs. »Wärme«, bzw. Ratio vs. Gefühl. Die Thematisierung von Konsum und Genuss und die Ächtung von beidem durch den Diskurs der vorbildlichen Askese werden hier in ihrem Zusammenhang auf den Punkt gebracht, und Schößler kann die Funktion aufzeigen, die Literatur als eine Art von anderer ökonomischer Theoriebildung an der Seite des fachwissen­schaftlichen Diskurses einnimmt (S. 62). »Die Literatur des ausgehenden 19. Jahr­hunderts«, so Schößlers Bilanz ihres klugen Durchgangs durch die Quellen der Zeit, »nimmt Teil an dem Versuch, unkontrollierbare Modernisierungsschübe auf Minoritäten zu projizieren, um sie in der Distanz, und das heißt in pathologisierter oder kriminalisierter Form zu beob­achten.« (S. 39) So folgt sie dem Narrativ eines Erziehungsprogramms, demzufolge Ruhe, Bescheidenheit und Bodenständigkeit vor den Krankheiten der Moderne – Internationalität, Nervosität, Gier (Sombart zufolge alles »jüdische« Gebrechen) – heilt (S. 52). So wurden der Nationalismus und das völkische Denken der Mehrheitsgesellschaft anhand von Produktionsdoktrinen über­prüft, die auf Ausschluss und radikalisierten Grenzziehungen zwischen ›wir‹ und ›Fremden‹ beruhten. Assimilation und Konversion sind vor diesem Hintergrund aber die reine Aporie: beide werden von Juden harsch bis rüde eingefordert und zu­gleich in höchstem Maße als »Strategie«, als »nur äußerlich« und als »unlautere Geheimnis­krämerei« verdächtig gemacht.

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Fazit: Aufklärungen über einen Denkstil

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Das Fazit, das man nach der Lektüre des Buches zieht, ist ernüchternd: Insgesamt trifft man in der Literatur – mit nur wenigen Ausnahmen – auf denselben antikapitalistischen Argwohn, den auch Nationalökonomie, Kriminologie und Medizin verbreiten. Börse und Kaufhaus werden in den Kommentaren der Zeit aus der Sphäre der »wahren Arbeit« ausgegrenzt und eines verkehrten – im Wortsinne umgedrehten – Pro­duktivitätsethos bezichtigt (S. 89). Die Autorin vermag zudem zu zeigen, dass es zeitgleich eine ganze Reihe von deutsch-jüdischen Gegen­büchern zu den antijüdischen Projektionen gab, die den Vorwurf der Spekulation durch Idealbilder einer verantwortungsvollen Ökonomie der Moderne zu entkräften versuchen (S. 175–206). Hierfür sind etwa die Bände Ein Spiegel der Gegenwart von Salomon Kohn (1875) ein gutes Beispiel. Ähnlich wie Max Weber versuchte Kohn die Börse zu rehabilitieren, die bei ihm als »vitalistische Naturkraft« (S. 176) erscheint, die man zu zähmen und zum Wohle der Menschheit zu verwenden habe. Mit der Verteidigung der Börse geht hier folgerichtig auch die konsequente Zurückweisung des verbreiteten Vorwurfs einher, jüdische Ausbeuter würden mit dem Mittel des international agierenden Kapitalismus Volkseigentum ausbeuten. Betont wird in Ein Spiegel der Gegen­wart stattdessen der karitative Habitus jüdischer Bankiers und Finanziers. Kohn entwirft vor dem Hintergrund des Wiener Börsenkrachs von 1873 in seiner Fiktion regelrechte jüdische »Mustermenschen« – etwa den Arzt Friedberg und den Bankier Malten –, die in ihren jeweiligen Metiers das Gute selbst verkörpern und zu verwirklichen versuchen (S. 174). Und nicht zuletzt bringt Schößler als einen zusätzlichen Vergleichsbezug auch zeitgenössische populäre Romane aus Amerika mit in ihre Betrachtung ein, die – ebenso wie die deutsch-jüdischen Gegenschriften – die mentalitätsgeschichtlich deutlich markierte Ausnahmestellung von ökonomischen Ressentiments im deutschsprachigen Antisemitismus belegen.

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»Börsenrausch und Kaufrausch« zeigt, wie die Autorin es formuliert, die »Temporalisierung von Wert« durch Zeitdehnung oder -raffung auf und macht deutlich, dass die damit ver­bundene Wahrnehmungsveränderung von Zeit und Raum dem zuvor stabilen Wertesystem seine Substantialität entzieht: Gewinn ohne Arbeit und Arbeit ohne Materie. Die Börse mache, so zitiert Schößler Max Weber aus demselben Jahr, 1894, in dem Heinrich Mann Im Schlaraffenland veröffentlicht, »den Geldwert der Zeit« erfahrbar (S. 88). Die generell auf Un­verständnis stoßende Selbstreferenz und Fiktionalität der neuen Wirtschaftsformen, wie sie in der Börse kulminierte, plagiiere geradezu das Theater: auch hier schien es den Zeitgenossen, so die Verf., als würden lediglich »Komödien mit verteilten Rollen und abgesprochene Plots« aufgeführt (S. 78). Literatur wie Geld erschienen analog wandlungsfähig, und – wie Sombart 1911 in Die Juden und das Wirtschaftsleben schrieb –»aller Konkretheit bar, wie das Land, aus dem die Juden kamen: es ist nur Masse, nur Menge, wie die Herde; es ist flüchtig wie das Wander­leben; es wurzelt nirgends im fruchtbaren Erdreich wie die Pflanze oder der Baum.« (S. 80 f.) Dass es die Geschichte dieser Ressentiments nicht halb oder doppelt erzählt, einmal anhand der hoch- und populärkulturellen fiktionalen Literatur der Zeit mit Referenzen an Émile Zola, Theodor Fontane, Thomas und Heinrich Mann; einmal als Geschichte der nationalökono­mischen Lehrmeinungen derselben Zeit, mit Bezug auf Constantin Frantz, Wilhelm Roscher und Werner Sombart, diese integrative Grundstruktur macht das Buch von Schößler zu einem Ereignis, und es ermöglicht dem Leser somit einen erkenntnistheoretisch doppelten Blick auf das Phänomen: Sombart, Simmel und Veblen erscheinen hier als »Literatur«, die literarischen Texte von Zola, Fontane, Schnitzler und den Brüdern Mann hingegen als Beitrag zu national­ökono­mischen Debatten der Zeit, als tastende Explorationen in das neue und schwer zu durch­schauende Terrain ökonomischer Veränderungen in den Jahren und Jahrzehnten um 1900. Das Buch von Franziska Schößler klärt nicht nur über die Variationen und Funktionsweisen dieser Analogien auf, sondern auch über den Denkstil, dem sie entsprangen.

 
 

Anmerkungen

Judith Marcus: Werner Sombart’s Influence on German Literature: The Case of Thomas Mann, in: Jürgen G. Backhaus (Hg.): Werner Sombart (1863–1941) – Social Scientist, vol. III: Then and Now, Marburg 1996, S. 133–146; Edith Weiller: Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen, Stuttgart/Weimar 1994; Johannes Kleinsorg: Walther Rathenau – seine Rolle in der industriellen Gesellschaft und seine Beziehung zu ausgewählten Soziologen seiner Generation, Würzburg 1992.   zurück
Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung, München 1933, S. 76.   zurück
Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt a. M. 1996; Bernd Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Celine, Berlin 2001; Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002.   zurück
Vgl. zu diesem Themenkreis vor allem neuerdings: Matthew Lange: Antisemitic Elements in the Critique of Capitalism in German Culture, 1850–1933 (German Life and Civilsation, Bd. 46), Oxford, Bern, Berlin u.a. (Peter Lang) 2007; Christine Achinger: Gespaltene Moderne. Gustav Freytags »Soll und Haben« – Nation, Geschlecht und Judenbild, Würzburg (Königshausen & Neu­mann) 2007; Jonathan Karp: The Politics of Jewish Commerce. Economic Thought and Emancipation in Europe, 1638–1848, Cambridge (CUP) 2008; John Ward: Jews in Business and their Representation in German Literature, 1827–1934, Oxford, Bern, Berlin u.a. 2010; Jerry Z. Muller: Capitalism and the Jews, Princeton 2010; Nicolas Berg (Hg.): Kapitalismus­debatten um 1900. Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen, Leipzig (Universitätsverlag) 2011 (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, Bd. 6).   zurück