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Der Sieg über die Wand.
Werdegang eines Romans

  • Jutta Schlich: Inzest und Tabu. Ingeborg Bachmanns »Malina« gelesen nach den Regeln der Kunst. Sulzbach/Taunus: Ulrike Helmer 2009. 271 S. Paperback. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 3897412675.
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Überblick

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Schlich lehnt die in der Malina-Rezeption häufig vertretene Doppelgänger-These und die daraus resultierende Selbstauslöschung des weiblichen Ich als verzweifelten Akt des Überlebens vehement ab. Mit Nachdruck plädiert sie für die selbstinduzierte Verwirklichung der Ich-Figur als Frau, die als bewusst erworbener Sieg über die sexuell-geistige Gewalt der männlichen Weltordnung wahrzunehmen sei. Infolgedessen bemängelt sie die gängige Wertung der Wand-Szene als negativ-pessimistisch und leitet ihre Argumentation in die entgegengesetzte Richtung. Inzest als körperliche Schändung der Tochter durch den Vater bildet laut Schlich den nicht zu widerlegenden thematischen Kern des Romans Malina. Das Haupttrauma, das das Ich bewältigen muss, sei somit in erster Linie sexueller Natur; das NS-Trauma, das Lastbewußtsein 1 des Ich als Tätertochter tritt hiernach in den Hintergrund und wird lediglich als Teilaspekt der Inzest-Problematik behandelt.

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Gattungspoetologisch wohne diesem Roman ein Drama inne, das schon auf der ersten Seite mittels der Darstellung der Personen, die einer Liste der dramatis personae entspricht, angekündigt wird. Anders als Sigrid Weigel, die auf die Unzulänglichkeit der »Genrebezeichnung Roman« verweist, da sie im Malina-Werk eindeutige »Momente […] des Dramatischen« 2 wahrnimmt, charakterisiert Schlich den Roman als eine »epische Großform«, die »für eine Durchmischung der Gattungen« offen sei (S. 12). Schlich schreibt dem Malina-Roman die Struktur eines Dramas zu und betrachtet ihn als einen »Dreiakter« (S. 13). In Inzest und Tabu wird das Drama im Roman Malina rekonstruiert und anhand der Grundbestandteile Exposition, Peripetie und Katastrophe zur Darstellung gebracht. Das Vorhandensein der für das Drama typischen Kollision antagonistischer Kräfte sowie die Entwicklung der Handlung in Richtung eines tragischen, komischen oder tragikomischen Finales werden in Bachmanns Roman ebenfalls festgestellt und analysiert.

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In Inzest und Tabu vollzieht sich die Analyse des Malina-Romans »nach den Regeln der Kunst« (S. 43). Schlich verweist auf Kunst als einen Raum, in dem der moderne Mensch seine »In-Dividualität« (S. 12) – als Gegensatz zum ausgefeilten, ihm durch die Gesellschaft aufgezwungenen Dividuum-Zustand – aufbaut und erlebt. Basierend auf dem der Schiller’schen Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1975) entstammenden Begriff des Spiels, hebt sie dabei die Dimension Unterhaltung als primäre Rolle der Kunst hervor. Erst in diesem »Zwischenraum des Spiels« (S. 11) kann sich der Leser oder der Zuschauer, so Schlich, vom Druck des Gesellschaftlich-Realen befreien und die eigenen Persönlichkeitsmöglichkeiten einzeln auf sich wirken lassen.

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Schlichs Studie ist der feministischen Rezeption des Romans Malina zuzuordnen. Die feministische Frage nach einer von der männlichen Weltordnung befreiten Selbstständigkeit der Frau beantwortet Schlich anhand der Rehabilitierung des weiblichen Körpers, insbesondere der Gebärmutter. Das Weiblich-Körperliche sei, anders als bei Simone de Beauvoir, keineswegs als Hemmnis im Prozess der Selbsterfüllung als Frau zu erfassen, sondern als die conditio sine qua non des weiblich-selbstständigen Werdegangs.

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Schlichs Auseinandersetzung mit dem Malina-Roman hegt die Absicht, den Prozess der Überwindung nicht nur eines sexuellen Traumas, sondern auch eines sozial etablierten Tabus darzustellen. Dem Akt der Vergewaltigung wohne eine subtile soziale Komplizenschaft inne, ein für die Gesellschaft emotional besonders komfortables Massenverschweigen der Blutschuld. Die Schuld für diese soziale Komplizenschaft schreibt Schlich nicht zuletzt einer Theorie zu, die viele Jahrzehnte lang als die fulminante Entdeckung eines Genies angesehen wurde: der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Dieses Werk, das von Schlich als Folge des Widerrufs im Jahre 1905 des 1896 gehaltenen Vortrags Zur Ätiologie der Hysterie betrachtet wird, bringe eine taktische Umkehrung der Rollen Täter-Opfer mit sich, gemäß der die Kinder den faulen Keim der Verführung in sich tragen und die Perversion provozieren. Dieser seltsame Perspektivenwechsel öffnet den psychologischen Rahmen der Schlich´schen Analyse des Malina-Romans, indem er eine gewaltige Konfrontation des Ich mit dem eigenen Status in die Wege leitet.

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Die Bachmann-Regie

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Das Lacan´sche Misstrauen weiblicher Autorschaft gegenüber, das den Frauen die Fähigkeit zum bewussten schriftstellerischen Umgang mit dem eigenen Wissen abspricht, ist mit Schlichs Studie unvereinbar. Auch Jacques Derridas vermeintliche Bevorzugung weiblichen Schreibens (da das Werk einer Autorin per se subjektlos und daher näher am dekonstruktivistischen Ideal sei) sowie sein Plädoyer für die Überwindung des Phallogozentrismus mittels der Abschaffung der Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Schreiben werden in Inzest und Tabu indirekt bekämpft. Schlichs These distanziert sich von den gängigen feministischen Haltungen dem weiblichen schriftstellerischen Ausdruck gegenüber. Weder die Entpersonalisierung der schreibenden Stimme bei Hélène Cixous noch der Zweifel Luce Irigarays an der Möglichkeit eines weiblichen Zurückgreifens auf sich selbst werden im Rahmen der Schlich´schen Malina-Interpretation begrüßt.

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Den Malina-Roman – diesen »Klassiker der modernen Literatur« (S. 10) – empfindet Schlich als ein in sich geschlossenes Konstrukt, dessen Funktionieren auf die Anwesenheit eines Publikums angewiesen ist und mit dem der Leser seinerseits in eine kommunikative Berührung treten muss. Der Leser muss demnach eine Ent-Täuschung über sich ergehen lassen, da ihm die passive Rolle als Leser von Anfang an untersagt wird. Er wird einer aktiven Funktion gewahr, die er nolens volens akzeptieren muss und die er sich im Laufe des Romans mehr und mehr aneignet. Der Roman entfaltet sich mithin laut Schlich unter der Bedingung und als Folge einer konstant-aktiven Präsenz sowohl der Autorin als auch des Lesers. Die Gegenwart der Autorin im Text selbst ist allerdings nach Schlich nicht die einer »mitgedichtete[n] Figur«, sondern die einer »Instanz der Romankonzeption, der Romanproduktion und der Romanpublikation« (S. 46). Der Roman Malina berge demnach ein Drama für ein Ein-Mann-Publikum; als anwesendes Publikum lernt der Leser zu verstehen, wie der Text geschrieben wird und wie man sich darin zurechtzufinden vermag. Der Roman Malina ist für das Publikum noch nicht da; statt dem Leser ein fertiges Produkt zu liefern, initiiere Bachmann ein Spiel mit gut durchdachten Regeln, auf das sich der Leser – in einem mehr oder weniger bewussten Akt des Mit-Machens – einlässt. Zur Rolle Bachmanns gehört laut Schlich das Erklären der Spiel-Parameter, an die sich der Leser strikt halten muss, um die ihm zugesprochene Rolle erfassen zu können.

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Die Konstellation Autorin-Ivan-Malina-Ich

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Das Ich empfindet Schlich als die gemeinsame Spielfigur von Autorin und Leser. Insofern fungiere die »Spielleiterin« Bachmann als ein »Sprachrohr«, durch das sie »sich selbst als regelrechte Spielfigur in ihr Spiel ein[bringt]« (S. 54). Die Autorin als Spielleiterin muss die Erfahrung des Ich machen, um den Roman zu schreiben; indem sie den Roman schreibt, macht sie die Erfahrung des Ich. Den ersten Schritt sieht Schlich darin, dass sich die Autorin auf den persönlichen Kontakt mit den anderen Figuren, Malina und Ivan, einlässt.

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Ivans Rolle in der Selbstverwirklichung des Ich ist nach Schlich von großer Tragweite, da dieser die Intuition der weiblichen Figur trainiert. Die Beziehung Ich-Ivan entspringt einem von der Autorin sprachlich bewusst errichteten »Improvisationstheater […]«(S. 95), in dem diese ihrer Ich-Figur eine ungewöhnlich sensible, fast überempfindliche Wahrnehmung des Spontan-Nahen angewöhnt. Die Zweisamkeit mit Ivan schärft das Gespür des Ich für die Verkettung infinitesimal kleiner Ereignisse und Rahmenbedingungen, die den Gang des eigenen Lebens festlegen. Gleichzeitig wird das Ich des immensen Zufallscharakters sowie der Augenblicksabhängigkeit des Alltags gewahr und versucht seine Intuition anhand eines erweiterten Beobachtungsvermögens zu verfeinern.

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Der Mann Malina ist, so Schlich, der Spiegel, vor den die Autorin ihr Ich führt, damit es sich darin betrachtet. Diesen Akt identifiziert Schlich traditionsgemäß mit dem Tod. An diesem Punkt kündigt sie den Kerngedanken ihrer These an – indem Malina die Selbst-Reflexion der Autorin initiiert, verursacht er den Tod der weiblichen Ich-Figur: »Sich in Malina reflektierend, liefert die Autorin ihr Ich dem Tod aus.« Dies ist jedoch nach Schlich keineswegs das Ende, sondern ein Anfang und damit die Lösung, denn in ihrer persönlichen Konfrontation mit der von ihr ins Leben gerufenen Malina-Figur findet die Autorin den Weg, ihr Ich mit einer aufbrausend lebendigen Macht zu rüsten, nämlich der Macht der Weiblichkeit: »Die alte Frau in ihr wird sterben, die Jungfrau in ihr zum Leben erweckt.« (S. 94). Der Mann Malina entpuppt sich demzufolge als »Werkzeug einer Heldenfrau« (S. 94).

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Der Sieg über die Wand

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Die Struktur des Traumkapitels beruht aus der Sicht Schlichs auf einem bewussten, konstruktiven Erleben der Trauma-Träume. Das Ich übt sich in einer eigenen Metaphysik, anhand derer sowohl die Traumwirklichkeit als auch die Wirklichkeit selbst erkundbar wird. Unentbehrlich für die Selbstheilung des Ich war die Intuition, das ahnende Staunen, mit dem der Kampf gegen die Tabus angefangen hat. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Trauma ermöglichen dem Ich, sich von dem ihm aufgezwungenen Schicksal zu befreien und die »Wahrheit auszuhalten« (S. 202).

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Schlich vertritt die gewagte, für die bisherige Sekundärliteratur eher untypische These, dass das Ende des Romans keineswegs eine Abdankung des Ich darstelle, sondern, ganz im Gegenteil, dessen unumstrittene Wiedergeburt. Was am Ende des Romans geschieht, ist nach Schlich die ultimative Eroberung der Wahrheit. Der berühmte letzte Satz »Es war Mord« 3 würde sich demnach nicht auf die Wand-Szene beziehen, sondern auf die Vergangenheit des Ich; der Mord hätte lediglich ein Selbstmord sein können, ein Mord des Ich an sich selbst durch die Vermeidung der Wahrheit, durch die widerspruchslose Akzeptierung eines Tabus. Das Leben des Ich vor dem Prozess der Selbsterkundung näherte sich in dieser Hinsicht einem Akt des Mordes. Schlich betrachtet die Wand als den Ausgang aus dem Malina-Konstrukt ins Freie; das Spiel- und Minenterrain Malina wird dem Publikum, »der Spezies Mensch« übergeben, um diese »zur Besinnung« zu treiben (S. 159).

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Den Roman Malina betrachtet Schlich als einen absoluten, unbestreitbaren Sieg der weiblichen Kraft. Die Gebärmutter, die von der Antike bis ins 20. Jahrhundert als mehr oder weniger direkte Ursache der Hysterie betrachtet wurde, erreicht aus der Sicht Schlichs einen für das Verstehen des Malina-Romans maximalen Wert. Verpönt und gehasst in der Geschichte des Christentums, verfügt das weibliche Organ im mexikanischen Schamanismus über magische Kräfte, die nicht nur die Fähigkeit beinhalten, Evolution als solche zu sichern; der Gebärmutter wird eine außergewöhnliche Wahrnehmungsfunktion zugeschrieben, anhand derer »Wissen direkt« (S. 224), d.h. kultur-, mentalitäts- und erziehungsunabhängig verarbeitet wird. Erst indem die Frau der Fähigkeiten ihres Organs gewahr wird und diese voll nutzt, werde wahre Evolution ermöglicht. Schlich erwartet von der Ich-Figur die ultimative Selbst-Entwicklung zur Schamanin, die auf einer »auf das Organ gerichtete[n] Bewusstheit« (S. 226) beruht und in einer genuinen Entfesselung der Kraft ihrer Mitte, der Gebärmutter (S. 226) gipfelt.

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Schlich vervollständigt ihre Analyse durch die waghalsige These, dass Bachmanns Buch »ein paramenstrueller Roman« (S. 323) sei. Die drei Kapitel würden somit den drei Phasen der Menstruation einer »divergierende[n] Frau« (S.  228) entsprechen. Schlich unterscheidet hierbei zwischen den in der Psychosomatik verwendeten Termini konvergierend und divergierend und misst dem Ich die letztere Eigenschaft bei, sodass es »dem erhöhten Traumdruck vor und während der Blutung nachgibt« (S. 228) und den ganzen Prozess der Selbsterkundung initialisiert. Anhand eines bewussten Erleben des »allmonatliche[n] Blutvergießen[s]« gelinge es dem Ich das erlittene Schicksal unwirksam zu machen. Blutschande wird nach Schlich mittels »Blutstolz« 4 (S. 232) überwunden.

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Fazit

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Inzest und Tabu zeugt von einem außergewöhnlichen Gespür der Autorin für psychologische und sprachliche Feinheiten. Bemerkenswert ist die minutiöse interpretatorisch-argumentative Vernetzung von Autorin, Figuren und Publikum und die Beobachtung der Rollen, die diese im Rahmen des künstlerisch durchdachten Malina-Konstrukts übernehmen und entwickeln. Der Schreibstil Schlichs entspringt einer exzellenten sprachlichen Wendigkeit, die ihrem Text eine deutlich spürbare Kraft verleiht. In ihrem Kapitel »Forschungskritisches« greift Schlich jedoch auf einen eher unangenehm anmutenden offensiven Ton zurück. Ihre Auseinandersetzung mit Jost Schneiders Studie Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns enthält Ungenauigkeiten im Umgang mit dem Originaltext. Irritierend wirkt auch die Absolutheit, mit der Schlich die Gültigkeit ihrer These präsentiert. Dennoch stellt Jutta Schlichs Studie zweifelsfrei eine wertvolle Position in der Geschichte der Rezeption des Malina-Romans dar.

 
 

Anmerkungen

Bachmann, Ingeborg: Ich frage. In: Bachmann, Ingeborg: Sämtliche Gedichte. München: Piper 2003. S. 14.   zurück
Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2003. S. 527.   zurück
Bachmann, Ingeborg: Malina. In: Koschel, Christine et. al. (Hg.): Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. 3: Todesarten: Malina und unvollendete Romane. München; Zürich: Piper 1982. S. 337.   zurück
Meine Hervorhebung R.C.   zurück