IASLonline

'Schöne Geschichten' in der frühen Neuzeit

Transmission und Diskursgeschichte der skandinavischen Historienbücher

  • Anna Katharina Richter: Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit. (Beiträge zur Nordischen Philologie 41) Tübingen, Basel: Francke 2009. 327 S. Gebunden. EUR (D) 49,00.
    ISBN: 978-3-7720-8292-4.
[1] 

Skandinavische ›Historienbücher‹

[2] 

Anna Katharina Richters Dissertation widmet sich einer populären Textsorte der frühen Neuzeit. Die ältere Literaturwissenschaft hat ihr nur wenig Beachtung geschenkt, neuerdings zieht sie aber zu Recht das Interesse auf sich. Der Grund dafür mag darin liegen, dass sie anderen Gesetzen gehorcht als die mittelalterliche Literatur einerseits und die barocke Kunstpoesie oder gar das der Autonomieästhetik verpflichtete Schreiben andererseits.

[3] 

Richter untersucht die skandinavischen ›Historienbücher‹: gedruckte Prosaerzählungen, deren Stoffe der kontinentaleuropäischen Tradition entstammen und die eine lange Geschichte (mitunter seit der Antike) mit sich herumtragen, zumeist aus dem Deutschen übersetzt wurden, geringes literarisches Ansehen besaßen, gleichwohl aber bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in immer neuen Ausgaben und Auflagen erschienen. Es geht um Geschichten wie die von Melusine, Griseldis oder Apollonius von Thyrus –»slet ikke fine Bøger« (»keine feinen Bücher«), wie es in Jens Peter Jacobsens Novelle Mogens (1872) heißt, wobei dieses Zitat, mit dem Richter ihre Untersuchung einleitet, ein Zeugnis dafür ist, dass die Textsorte am Beginn der literarischen Moderne noch durchaus präsent war.

[4] 

Die lange frühe Neuzeit

[5] 

Damit wird zugleich der Untersuchungszeitraum ›frühe Neuzeit‹ (Richter selbst versteht darunter großzügig »die Zeit von 1500 bis ca. 1800«, S. 2) relativiert, denn das Korpus der untersuchten Drucke reicht von 1592 (eine in Lübeck gedruckte dänische Griseldis-Fassung) bis 1882 (eine norwegische Ausgabe des Apollonius von Thyrus), wobei die Drucküberlieferung in Skandinavien bereits um 1530 einsetzt. Eine wichtige technische Voraussetzung für die Produktion und Verbreitung der Texte ist der Buchdruck, wesentliche Merkmale sind unter anderem ihre Marktgängigkeit und ihre unterschiedliche Funktionalisierbarkeit. Dass die Textsorte im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts aus der Mode kam, liegt wohl darin, dass neue populäre Erzählgenres und neue Medien aufkamen und dadurch die Historienbücher vom Markt verdrängt wurden.

[6] 

Waren die Texte im 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert auch besonders weit verbreitet, so handelt es sich doch keineswegs um ein Phänomen nur der frühen Neuzeit. Überhaupt zeigt der breite Zeithorizont, den Richter mit ihrem Korpus in den Blick nimmt, dass der Begriff ›frühe Neuzeit‹ nur als grober Rahmen dienen kann, innerhalb dessen eine Vielzahl von literarischen und medialen Entwicklungen zu berücksichtigen ist.

[7] 

Terminologie und Gattungskonzeption

[8] 

Richters Arbeit knüpft terminologisch, methodisch und inhaltlich an die (bislang unpublizierte) Habilitationsschrift 1 und an Veröffentlichungen ihres Doktorvaters Jürg Glauser an, und von ihm übernimmt sie auch den Begriff ›Historienbücher‹ für »volkssprachliche Prosa- und (Vers-) Erzählungen aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert primär unterhaltenden, aber auch didaktischen Inhalts« (S. 7 f.). Richter diskutiert den Begriff und andere für diese Texte verwendete Termini wie ›Volksbücher‹, ›Prosaromane‹ und ›(schönen) Historien‹, die sie aus guten Gründen für problematisch hält. Gänzlich unproblematisch ist allerdings ›Historienbücher‹ ebenfalls nicht, denn die naheliegende Assoziation, es gehe darin um ›history‹, ist eher abwegig.

[9] 

Gerade die Unschärfe des Begriffs, der ein inhaltlich und formal sehr breites Spektrum an Erzählliteratur abdeckt, wird als Vorteil aufgefasst, weil er die »enorme Vielfalt und Heterogenität dieser Texte einzufangen« (S. 9) vermöge. Ein allen Texten gemeinsames Gattungskriterium will Richter in der Funktionalität der Texte erkennen, aber auch diese erweist sich als so disparat, dass lediglich ihre Uneindeutigkeit als typisch gelten kann. Vielmehr kann das Argument einer »spezifische[n] Materialität« (S. 10) und die häufige Selbstbezeichnung als ›Historie‹ überzeugen. Da die Textsorte ›Historienbuch‹ offenbar in einem bestimmten und einigermaßen eingrenzbaren Zeitraum aufgetreten ist, hätte ich mir allerdings eine noch gründlichere Reflexion über deren historische Gebundenheit gewünscht. »Dynamik, Varianz und Heterogenität oder Hybridität« (S. 11) seien die zentralen (aber wohl auch recht unspezifischen) Charakteristika der Historienbücher. Dies unter Beweis zu stellen, nimmt sich die Arbeit vor.

[10] 

Historische Hintergründe und theoretische Grundlagen

[11] 

Nach einer informativen, kritischen Forschungsgeschichte widmet sich Richter den geschichtlichen und medienhistorischen Hintergründen für die Verbreitung der von ihr untersuchten Texte. Das Publikum lasse sich in erster Linie »in adligen Kreisen und wohl auch in der bürgerlichen Oberschicht in den Städten« (S. 20) vermuten – weshalb der Begriff ›Volksbücher‹ obsolet sein dürfte (obwohl Richter ihn später dann doch noch verwendet, vgl. S. 38). Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts seien die Bücher tatsächlich von breiten Bevölkerungsschichten gelesen worden, während sich das ehemalige Publikum nun dem Roman zugewandt habe.

[12] 

Richter weist auf die Komplexität der Vorgänge auf dem Buchmarkt und deren Ursachen hin und kann hier auf aktuelle skandinavische Forschungsarbeiten aufbauen. Recht knapp sind die Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen der Untersuchung, was nicht heißt, dass die Arbeit nicht methodisch reflektiert vorgeht. Richter äußert sich kurz zur Diskursanalyse und zum Begriff der Transmission, worüber andernorts bereits genug gesagt wurde. Beide Begriffe füllt sie dann im Laufe ihrer Untersuchung mit Leben – statt ausführlicher Theoriediskussion entscheidet sie sich für eine anschauliche Vorführung, was ihre theoretischen Prämissen bedeuten.

[13] 

Transmission: Apollonius von Thyrus

[14] 

Aus der großen Menge an Historienbücher wählt Richter ein umfangreiches Textkorpus aus, das thematisch um »Liebe, Ehe und Familie, Sexualität (teilweise auch Inzest)« (S. 29) kreist. Der erste Teil ihrer Untersuchung demonstriert vor allem Transmissionsphänomene, wobei sich die Autorin hier auf die Darstellung der Überlieferungsgeschichte einer einzigen Historie beschränkt: Als repräsentatives Beispiel dient der Apollonius von Thyrus, dessen knapp 50 dänische und schwedische Drucke von 1592 bis 1860 (samt einer norwegischen Ausgabe von 1882) vollständig erfasst und, sofern noch verfügbar, analysiert wurden.

[15] 

Zunächst stellt Richter die Herkunft des Stoffes und dessen Tradierung auf Griechisch, Lateinisch und in den europäischen Volkssprachen dar und spürt auch den vielen Anspielungen auf Apollonius in anderen Texten nach, wo »die Erzählung bereits im Akt des Verweisens [...] eine Inkorporation in unterschiedliche Textsorten erfährt« (S. 39). Anschließend wird geradezu minutiös die skandinavische Überlieferungsgeschichte geschildert – mit einleitenden Exkursen zu dänischen Balladen (folkeviser) über diesen Stoff und zu dessen isländischen Bearbeitungen. Richters gründliche Recherche nach Textzeugnissen in skandinavischen Bibliotheken hat einige Neufunde zu Tage gefördert. Sämtliche ermittelten und eingesehenen Ausgaben werden unter vollständiger Wiedergabe der Titelseiten (sofern überliefert) in einer Bibliographie verzeichnet, Angaben zur jeweiligen Überlieferung und zum Umfang stehen in den Fußnoten.

[16] 

Stabiler Text –›unfester‹ Paratext

[17] 

Ausgewertet werden die Texte dann in einem Kapitel, das sich mit verschiedenen »Aspekte[n] textueller Instabilität« (S. 60–139) beschäftigt. Diese Instabilität bezieht sich keineswegs auf die Handlung der Apollonius-Geschichte, die sowohl in der europäischen Transmission insgesamt, als auch in der skandinavischen Überlieferung keine nennenswerten Veränderungen erfährt. Stattdessen zeigt sie sich am Rande der Texte, in den Paratexten: in abweichenden Titel- und Gattungsbezeichnungen, in Vorreden, Widmungen und Anhängen, die Aufschlüsse ermöglichen über eine sich im Laufe der Transmission verändernde Kontextualisierung des Textes.

[18] 

Diesen Paratexten gilt daher auch die Aufmerksamkeit der Autorin – die Handlung der Historie wird bündig zusammengefasst, ansonsten spielen die eigentlichen Texte in diesem ersten Teil der Abhandlung keine Rolle. Es ist daher etwas irreführend, wenn hier abschließend konstatiert wird, die Transmission der Historie lasse sich »als eine vielseitige Geschichte von ›tekstens ustadighed‹, der Veränderlichkeit des Textes, beschreiben« (S. 139) – denn gerade angesichts der wechselnden Kontexte, in denen die Historie rezipiert wird, und der sich verändernden Funktionalisierungen bleibt der Text selbst doch recht stabil; ›unfest‹ ist er eher am Rande.

[19] 

Überzeugend wird dargelegt, wie sich bereits im Titel eine ganze Gattungspoetik spiegelt. Während die dänische Überlieferung und deren Paratexte eher eine moralische Lesart der Historie nahelegen, indem sie unter anderem Gedichte beigeben, die den der Historie inhärenten Schauplatz des Meeres als Topos der Vergänglichkeit und der Fortuna semantisieren, kontextualisiert die schwedische Transmission den Text eher enzyklopädisch und präferiert eine weltenkundliche Rezeption. Es werden jeweils unterschiedliche Strategien der Legitimierung und Auktorisierung entfaltet, wobei um 1800 markante Veränderungen auftreten, die dann auch mit inhaltlichen Eingriffen einhergehen. Gerade den Ausgaben des 19. Jahrhunderts widmet Richter besondere Aufmerksamkeit, und sie zeigt, wie sich die Historie nun in Konkurrenz zu ›moderneren‹ Erzählformaten wie Novelle oder Roman behauptet.

[20] 

Diskursanalyse: Liebe, Ehe, Inzest

[21] 

Der zweite Teil der Untersuchung wählt einen anderen Zugriff auf die Textsorte: Nun geht es nicht um die Transmission einer einzelnen Historie, sondern um die Diskurse, in die sich diese Geschichten einschreiben. Auch dies kann selbstverständlich nur exemplarisch erfolgen: Richter fokussiert durch ihre Textauswahl bewusst auf die Diskursfelder Liebe, Ehe und Inzest – und man wird ihr kaum vorwerfen können, dass sie mit dieser Wahl dünne Bretter bohrt. Ihr diskursanalytischer Zugriff ist sowohl synchron als auch diachron angelegt: Zum einen kontextualisiert sie die Historien mit zeitgenössischen Sachtexten der Hausväter- und Ökonomieliteratur, zum anderen untersucht sie, wie hier Traditionslinien der europäischen Literaturen der Antike und des Mittelalters zusammengeführt werden und wie sich im Laufe der Transmissionsgeschichten der Texte neue diskursive Aspekte entwickeln.

[22] 

Liebe: Apollonius, Euriolus und Lucretia

[23] 

Geschickt wird der Apollonius von Tyrus als Ausgangspunkt für die Erkundungen im Diskursfeld ›Liebe‹ gewählt und nun auch inhaltlich stärker in den Blick genommen. Mit Bezug auf Arbeiten zu Liebesdiskursen in Mittelalter und früher Neuzeit von Manuel Braun und Rüdiger Schnell arbeitet Richter heraus, wie sich im Text eine Liebeskonzeption manifestiert, die von der vollkommenen Übereinstimmung eines Ideals ausgeht, das den Normen einer ständischen Gesellschaft verpflichtet ist, und wie gerade die skandinavische Überlieferung der Apollonius-Historie dieses Liebesideal auch in das Diskursfeld ›Ehe‹ hineinträgt.

[24] 

Als Kontrast dazu wird die Historie von Euriolus und Lucretia gewählt, in der sich die Auffassung von Liebe als Passion niederschlage und wo (als einzigem Text innerhalb des untersuchten Korpus) »von einem außerehelichen bzw. nicht zur Ehe führenden leidenschaftlichen Liebesverhältnis erzählt« werde (S. 146 f.). Richter arbeitet hier sehr präzise und mit geschärftem Blick für intertextuelle Verknüpfungen und Verweise die Liebessemantik dieses Textes heraus, sie fragt danach, wie Liebe hier kommuniziert wird, und sie zeigt schließlich, dass es sich hinsichtlich der eingeflochtenen »Diskurslinien« (S. 169) um einen polyphonen Text handelt – in seiner interpretatorischen Intensität meines Erachtens einer der besten Abschnitte der Arbeit (S. 147–182).

[25] 

Ehe: Melusine und ihre Schwestern

[26] 

Das Diskursfeld Ehe wird anhand eines größeren Korpus von sechs Historien in den Blick genommen. Analysiert werden hier Melusina, Griseldis, Echtenskaps Kärleeks Ähre-Crona / Tvende Kiøbmand, Ett lustigt Samtaal emellan tvenne vnga Hustrur / Ecteskabs Samtale / En Kortvillig Dialogus, Helena aff Constantinopel und Hildegardis och Talandus. Kontextualisiert werden sie mit dem Genre der Hausväter- und Ökonomieliteratur. Erst vor diesem Hintergrund wird der normative Bezugsrahmen sichtbar, in dem die scheinbar ›nur‹ unterhaltsamen Erzählungen ihr moralisch-didaktisches Potenzial entfalten. Die Geschichten werden so als Fallstudien des richtigen oder auch falschen Verhaltens in der Ehe lesbar, als Exempel für nachahmenswerte oder zu verurteilende Einstellungen gegenüber der Institution und dem Ehegatten bzw. der Ehegattin. Indem Richter zudem die enge Verbindung zwischen Ehe- und Staatsdiskurs aufzeigt, wird deutlich, dass es in den Historien zugleich auch um ordnungspolitische Fragen geht.

[27] 

Mit der Analyse der Melusina-Historie als ›Ehetext‹ schlägt Richter zugleich einen Bogen zum Diskursfeld ›Liebe‹, und sie sieht darin auch einen Beitrag zu der Frage, »ob und inwieweit Liebe (verstanden als erotisch-sinnliche Liebe) und Emotionalität in der Rede über die Ehe in Mittelalter und früher Neuzeit aus zeitgenössischen Textzeugnissen – literarischen, moraltheologischen, medizinischen, ökonomischen und juristischen Dokumenten – auszumachen ist.« (S. 187) Sie zeigt, wie in der dänischen Melusina, die eine starke Verkürzung der deutschen und französischen Fassungen dieses Stoffes darstellt, die Frage nach der Feenhaftigkeit der Titelfigur und damit auch der religiöse Aspekt des Textes in den Hintergrund und stattdessen die moralisch-didaktische Funktion des Textes stärker hervor tritt.

[28] 

Richter schlägt eine überzeugende ordnungspolitische Lektüre der Geschichte vor, die sich aus dem Überlieferungsverbund ergibt: Die Historie ist Teil von Claus Pors‘ Kompilationswerk Leffnetz Compaß (1613) und dient darin als Exempel dafür, dass die Ehe solange funktioniert, wie sich beide Partner an die Regeln halten, die zuvor vereinbart worden sind. Daraus ergeben sich zugleich wirtschaftlicher Wohlstand und stabile politische Verhältnisse im Umfeld des Ehepaars; diese geraten in Gefahr, sobald die Beziehung der Gatten von Misstrauen und Streit geprägt sind. In den Paratexten werden die wesentlichen Tugenden der Ehepartner genannt und hierarchisiert, hier werden auch explizit Anweisungen für die richtige Auswahl der Ehefrau bzw. des Ehemannes gegeben, wobei die Erzählung selbst dann als Veranschaulichung des Gesagten gilt. Allerdings zeigt Richter auch die Ambivalenz zwischen Narration und Paratexten auf, wenn sie darstellt, wie die Historie das didaktische Konzept des Kompilationswerks an einigen Stellen unterläuft, indem hier ein Partnerschaftsideal vorgeführt wird, das der proklamierten Hierarchisierung der Geschlechter widerspricht.

[29] 

Während die Melusina-Historie ihren moraldidaktischen und ordnungspolitischen Bezugsrahmen bereits im Paratext vorweist, bezieht Richter diesen für ihre Analyse der Griseldis-Historie aus den reformatorischen Eheschriften und der sogenannten Hausväter-Literatur. Sie interpretiert die Figuren der Erzählung und deren Verhalten in Hinblick auf die in den theoretischen Schriften vermittelten Ideale und zeigt deren weitgehende Konformität. Die moral- und ehedidaktische Stoßrichtung der Historie wird besonders in der schwedischen Transmission der Historie, der Grisilla, deutlich, wo die Geschichte, anders als in den deutschen oder dänischen Drucken, mit einem didaktischen Nachwort abgeschlossen wird. Dieses hebt auf die primären Tugenden einer Ehefrau ab, wie sie wiederum auch in der zeitgenössischen Predigt- und Andachtsliteratur formuliert werden. Die Griseldis-Historie sei

[30] 
in einem frühneuzeitlichen, lutherischen Kontext wie dem skandinavischen [...] ei[n] attraktive[r] Text, der auf unterhaltsame, ›romanhafte‹ Weise die normativen Vorgaben im Großen und Ganzen bestätigt (S. 237).
[31] 

Eben diese Verbindung zwischen Ehedidaxe und Unterhaltung beleuchtet Richter auch in ihrer Analyse eines Dialogs zwischen einer unglücklich und einer glücklich verheirateten Ehefrau, der auf das Coniugium des Erasmus von Rotterdam (1523) zurückgeht und in Skandinavien unter verschiedenen Titeln und in unterschiedlichen Fassungen überliefert wurde. Wiederum werden die von der Historie vermittelten Tugenden auf die ehedidaktische Literatur bezogen, außerdem werden aber auch die Bezüge zu den Prätexten beleuchtet. So zeigt sich, dass die skandinavischen Fassungen allesamt diejenigen Passagen aussparen, die auf die Bedeutung von Erotik und Sexualität in der Ehe abheben, obwohl sie auf unterschiedlichen Vorläufern basieren. Stattdessen werde hier »ein Idealbild der Ehefrau gezeichnet [...], das sich vor allem über die Befolgung [von] ›Haushalts- und Verhaltensregeln‹ definiert« (S. 252).

[32] 

Immer wieder kann Richter die enge diskursive Verflechtung von Ökonomie und Sexualität herausarbeiten. Besonders deutlich stellt sie dies in der schwedischen Historie Echtenskaps Kärleeks Ähre Crona bzw. deren dänischem Pendant Tvende Kiøbmænd dar, die insgesamt eher knapp und resümierend in Hinblick auf das Diskursfeld Ehe abgehandelt werden, da sich hier viele der zuvor behandelten Aspekte erneut zeigen lassen.

[33] 

Inzest: Helena und Hildegardis

[34] 

In ihrem letzten Analysekapitel des zweiten Teils wendet Richter sich dann zwei Ehe-Geschichten zu, in denen das Motiv des Inzests eine wichtige Rolle spielt, im Falle der Historie Helena aff Konstantinopel allerdings sehr auf Kosten des Ehediskurses, der meines Erachtens nicht besonders dominant ist. Das Interesse des Publikums an dieser Geschichte von einer Prinzessin, die vor dem drohenden sexuellen Übergriff ihres Vaters flieht, war groß: Die Historie zählt mit dem Apollonius zu den auflagenstärksten Texten der Gattung in Schweden (S. 267), wobei Richter auch viele Parallelen zwischen diesen beiden Historien ausmacht.

[35] 

Überzeugend arbeitet sie heraus, wie die Erzählung dem Modell der Heiligenlegende folgt, im nachreformatorischen Schweden allerdings ihrer ›katholischen‹ Bezüge beraubt wird. Gleichzeitig tritt die Funktion der Historie als Exemplum für die Tugend der patientia in den Hintergrund: Dominant ist nunmehr der Unterhaltungswert als »Liebes-, Familien- und Abenteuerroman« (S. 284), was Richter als Beleg für die der frühneuzeitlichen Historie eigene Offenheit der Funktionen und der vielfältigen Lesererwartungen wertet. Sehr erhellend ist schließlich ihre Interpretation des zeichenhaften Körpers der Helena, der als Textelement im Zentrum der Diskurse über Liebe, Sexualität und Gewalt steht. Dass die Heilung des als Folge der Inzestdrohung versehrten Körpers der Helena ausgerechnet durch den eigenen Sohn erfolgt, nimmt Richter allerdings wohl etwas zu beiläufig (und ohne die Mutter-Sohn-Beziehung zu hinterfragen) zur Kenntnis.

[36] 

Die zweite Inzest-Historie, Hildegardis och Talandus, wird relativ knapp behandelt, wohl auch weil die Beziehung, der sich die Ehefrau Karls des Großen, Hildegardis, erwehrt und der sie von ihrem abgewiesenen Stiefbruder dennoch bezichtigt wird, nicht allein inzestuös, sondern auch ehebrecherisch ist: Die Historie würde auch funktionieren, wenn der verschmähte Liebhaber nicht ihr Stiefbruder wäre, gleichwohl verstärkt der inzestuöse Charakter dieser potentiellen Beziehung ihre moralische Verwerflichkeit. Die Analyse der Historie dient in erster Linie dazu, noch einmal die narrative Verknüpfung von Sexualität und Gewalt aufzugreifen und Verbindungslinien zwischen den behandelten Texten herzustellen.

[37] 

Fazit

[38] 

Darin zeigt sich auch eine der großen Leistungen dieser Untersuchung: Die große Stofffülle und die große historische Zeitspanne, die Richter behandelt, werden mit einer sehr ausgewogenen, klug durchdachten und klar ersichtlichen Komposition der einzelnen Kapitel bewältigt. Es gelingt der Autorin, trotz der Vielfalt der behandelten Fragen und Texte eine stringente Argumentation zu entfalten und immer wieder Querbezüge (auch zu Texten außerhalb des Analysekorpus) herzustellen, so dass der Leser tiefe Einblicke in die Geschichte, die Themen und die Erzählverfahren der Historienbücher erhält. So hat man am Ende den paradoxen Eindruck, ein geschlossenes Bild einer offenen Form vermittelt zu bekommen.

[39] 

Bereits die Zweiteilung in eine diachrone Untersuchung von Transmissionsphänomenen und eine synchrone Diskursanalyse wird souverän gemeistert, da die beiden Teile argumentativ eng miteinander verzahnt sind. Immer wieder erläutert die Autorin ihre Vorgehensweise, was zu gelegentlichen Redundanzen führt, aber denjenigen Lesern, die sich nur für einzelne Kapitel der Arbeit interessieren, die Orientierung erleichtert. Die Arbeit ist zudem sehr gut lesbar, enthält sich durchweg eines phrasenhaften Fachjargons und verzichtet auf opake Formulierungen – dass sich allerdings das absolut sinnfreie Wort »lohnenswert« gleich zweimal eingeschlichen hat (S. 29 und S. 61), sei hier nur am Rande vermerkt.

[40] 

Nicht ganz glücklich scheint mir der Untertitel der Arbeit gewählt zu sein, weil darin zum einen der zentrale Gattungsbegriff ›Historienbuch‹ nicht auftaucht, zum anderen in der Untersuchung andere Formen der »dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit« nicht behandelt werden. Gleichwohl wird niemand, der sich für die Geschichte des literarischen Erzählens in Skandinavien, für das Gattungsspektrum in der frühen Neuzeit und für literarische Transmissionsphänomene interessiert, in Zukunft auf diese hervorragende Arbeit verzichten können.

 
 

Anmerkungen

Jürg Glauser: Ausgrenzung und Disziplinierung. Studien zur volkssprachlichen Erzählliteratur Skandinaviens in der frühen Neuzeit. Zürich 1990 (Habilitationsschrift, Universität Zürich).   zurück