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Der 'konkrete Raum' im Erzähltext

Neue narratologische Wege abseits des spatial turn

  • Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. (Narratologia. Contributions to Narrative Theory 2) Berlin: Walter de Gruyter 2009. IV, 308 S. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-021991-3.
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Ausgangspunkte und Kontexte

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Narratologie des Raumes – dieser angenehm schlichte Titel, der ohne die gattungstypische Eingrenzung auf ein bestimmtes Textkorpus auskommt, könnte sich auf zwei ganz unterschiedliche Arbeiten beziehen: einen resümierend-systematisierenden Überblick über die raumbezogenen Anteile der bisherigen Erzähltheorie einerseits, einen programmatischen Entwurf neuer narratologischer Wege und Konzepte andererseits. In der 2009 erschienenen Buchfassung ihrer Dissertation nimmt sich die Würzburger Germanistin Katrin Dennerlein beide Aufgaben auf einmal vor. Ihre Monographie ist teils kritische Bestandsaufnahme, teils der Versuch, ein eigenes »Beschreibungsinstrumentarium für grundlegende Elemente einer Narratologie des Raumes [zu] entwickel[n]« (S. 203). Dieses Ziel verfolgt sie in klarer Sprache, mit viel Überblick sowie mit großer methodischer Konsequenz.

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Innerhalb der deutschsprachigen Forschung tritt Dennerlein namentlich in die Fußstapfen des Amerikanisten Gerhard Hoffmann, der 1978 auf mehr als 800 Seiten Pionierarbeit im Feld der raumbezogenen Literaturanalyse leistete. Hoffmann stellte seinerzeit fest, »von der Literaturwissenschaft [sei] für die Erfassung des Raums im literarischen Werk kein so brauchbares heuristisches Modell wie für die Analyse der Zeit, nämlich die Unterscheidung von Erzählzeit und erzählter Zeit, entwickelt worden«. 1 Daran konnten letztlich auch Hoffmanns eigene Ausführungen nichts grundlegend ändern, da sie kein vergleichbar kompaktes Begriffsrepertoire anzubieten hatten. Und selbst der in den letzten Jahren vielfach geforderte oder als bereits vollzogen gemeldete spatial turn hat die Erzähltheorie bislang nicht entscheidend tangiert, obgleich sich längst auch die Literaturwissenschaft in die aktuelle Raumdebatte eingeschaltet hat. 2

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Das hier zu rezensierende Buch erschien zeitnah zu zwei Sammelbänden, die das Schlagwort spatial turn im Titel tragen, 3 und parallel zu einem noch jüngeren Band, in dem die raumbezogenen Teile verschiedenster Disziplinen unter dem Titel Raumwissenschaften zusammengefasst werden. 4 Diesem aktuellen Forschungstrend zum Trotz verzichtet Dennerlein auf alles Wendepathos und hält es dementsprechend auch nicht für nötig, die von ihr betriebene Narratologie kurzerhand zu einer ›Raumwissenschaft‹ umzudeklarieren. Den spatial turn hat sie zwar zur Kenntnis genommen, streift ihn aber jeweils nur um klarzustellen, »warum für eine Narratologie des Raumes kein direkter Anschluss an dort entwickelte Raumkonzepte und Zugangsweisen möglich ist« (S. 5). Einleitend formuliert sie die Begründung:

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Die Stoßrichtung des spatial turn im ursprünglichen Sinn ist […] eine politisch-kritische und konfligiert mit dem narratologischen Ideal einer möglichst wertfreien Beschreibung und Analyse. (S. 6)
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Als Narratologin ist Dennerlein naturgemäß nicht daran interessiert, eine machtanalytische Perspektive auf »die soziale Produktion des Raumes« zu entwickeln. 5 Statt die an der postmodernen Gegenwart ausgerichteten Annahmen des spatial turn vorauszusetzen, sucht sie nach einer allgemeinen Beschreibungssprache für die narrativen Mittel, mit denen Texte unterschiedlicher Epochen Räume entwerfen. Hierbei kommt ein anderes jüngeres Forschungsparadigma zum Tragen, das seit einiger Zeit als der »cognitive turn in der Erzähltheorie« bekannt ist. 6 Unter stetem Rückgriff auf kognitionswissenschaftlich fundierte Konzepte betont die Verfasserin die konstitutive Rolle des »Modell-Lesers«, der die Rauminformationen des Textes in einem »mentalen Modell« zusammenstelle, konkretisiere und ergänze – ein Aspekt, der, wie sie zu Recht hervorhebt, eine neue Herangehensweise an das Problem des literarischen Raumes darstellt.

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Diese Herangehensweise bringt es mit sich, dass Dennerlein nicht zunächst über vergleichende Textanalysen einen Raumbegriff herleitet, sondern dass sie von vornherein eine »basale und alltägliche Raumvorstellung« (S. 9) postuliert, die folgende Merkmale aufweise:

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Der Raum ist ein wahrnehmungsunabhängiger existierender Container mit Unterscheidung von innen und außen. Jeder Raum ist potentiell wieder in einem größeren Raum enthalten, umgekehrt besteht der Raum aus diskreten Einzelräumen. (S. 60)
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Damit bringt Dennerlein ein Raumkonzept in die Narratologie ein, das derzeitigen kulturwissenschaftlichen Theoriepräferenzen diametral zuwiderläuft. Denn während das ›Containerraum‹-Modell anderswo mit viel Nachdruck verabschiedet und durch ein relationales ersetzt wird, 7 bleibt Dennerlein bei einem absoluten und explizit »substantialistisch[en]« (S. 61) Begriff von Raum. Dabei geht es ihr allerdings keinesfalls darum, sich normativ gegen Relativisten und Konstruktivisten zu positionieren. Die Vorstellung eines materiell gegebenen Containerraums wird ausdrücklich als vortheoretisch charakterisiert. Ausgangspunkt ist nicht die Frage »Wie sollen wir (zur Beschreibung unserer Welt) Raum denken?«, sondern »Wie wird Raum (in der Interaktion zwischen erzählter Welt und Modell-Leser) gedacht?«. 8

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Der Begriff des ›konkreten Raumes‹ soll das bisherige Haupthindernis einer systematischen Narratologie des Raumes überwinden – nämlich »das Fehlen einer basalen Definition von ›Raum‹« (S. 4). Den Raum der erzählten Welt bestimmt Dennerlein als das, was die Figuren materiell umgibt. ›Konkret‹ ist er insofern, als er »›sinnlich anschaulich gegeben‹ [ist], wobei die Anschaulichkeit im narrativen Text als Komponente eines semantischen Konzepts vorliegt, auf das referiert wird« (S. 48). In einem ersten Schritt grenzt Dennerlein die so fundierte Narratologie des Raumes von Vorarbeiten in der Literaturwissenschaft ab und begründet die Wahl ihres Raumbegriffes über einen Vergleich mit anderen verfügbaren Konzepten.

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Forschungsbericht

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Wer selbst schon versucht hat, einen Überblick über das Feld zu gewinnen – das strenggenommen noch gar nicht als solches konstituiert ist, da sich die vollkommen unterschiedlich orientierten Einzelarbeiten nur in seltenen Fällen aufeinander beziehen –, weiß Dennerleins Zusammenschau literaturwissenschaftlicher Ansätze zu schätzen, zumal sie nationalphilologische und sprachliche Grenzen überschreitet. Dabei deckt Dennerlein ein breites historisches Spektrum ab: Von 1910 arbeitet sie sich bis zum Erscheinungsjahr ihrer eigenen Studie vor.

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Der erste Abschnitt bezieht sich überwiegend auf Texte, die Alexander Ritter 1975 in seiner Anthologie Landschaft und Raum in der Erzählkunst sammelte. Schon diese Handvoll Arbeiten macht deutlich, wie heterogen und diffus die bisherige Forschung zum literarischen Raum ist. Ebenso unterschiedlich sind Dennerleins Vorbehalte gegen diese vorstrukturalistischen Studien. Bemängelt werden vor allem definitorische Unzulänglichkeiten, eine Vernachlässigung der spezifischen Mittel, mit denen der Raum erzählerisch erzeugt wird, sowie ein – laut Dennerlein am realistischen Erzählen ausgerichtetes – einseitiges Interesse an symbolischen Aufladungen.

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Die prominenteste Figur im Unterkapitel zu strukturalistischen Ansätzen ist Jurij Lotman, dessen narratologisches Hauptwerk Die Struktur literarischer Texte (1970) »das meist verwendete Instrumentarium zur Raumanalyse« (S. 28) bereitstellt. Man kann sagen, dass Lotman der einzige international rezipierte und kanonisierte Narratologe ist, der eine primär raumbezogene Textanalyse praktiziert hat. 9 Dass seine Erzähltheorie etwa für die Analyse von Schauerromanen nutzbar ist, zeigt eine jüngere Arbeit zur binären Raumstruktur der Gothic novel. 10 Und auch im Zuge des spatial turn haben literaturwissenschaftliche Beiträge Ansatzpunkte bei Lotman gesucht, 11 der überdies in einer 2006 erschienenen interdisziplinären Anthologie raumtheoretischer Grundlagenschriften vertreten ist. 12

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Für Dennerleins Zwecke hat Lotmans Ansatz dagegen wenig Nutzen, da er auf einem relationalen Raumkonzept basiert. Raum wird ihm zufolge durch die Beziehung zwischen homogenen Objekten konstituiert, wobei Lotman sogleich dazu übergeht, die nicht-räumliche Metaphorisierung dieser räumlichen Beziehungen zu betrachten. 13 Wenn er darlegt, wie der Raum des literarischen Textes in Teilräume untergliedert ist, so interessieren ihn diese Teilräume nicht als solche. Vielmehr betrachtet er sie in ihrer Eigenschaft als aufeinander bezogene semantische Felder, die in bestimmter Weise kulturell codiert sind. Der konkrete Raum in Dennerleins Sinne ist nicht Lotmans Gegenstand, da er davon ausgeht, dass Raummodelle des Typs »nah/fern« immer auch Kulturmodelle darstellen – und dass sie folglich untrennbar mit nicht-räumlichen Bedeutungen verbunden sind (in diesem Fall etwa »vertraut/fremd«).

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Derartige metaphorische Aufladungen möchte Dennerlein ausklammern, um den Raum in seiner reinen Materialität in den Blick zu bekommen. Überhaupt besteht am Ende des Forschungsberichts der Eindruck, dass sich aus den fast zwanzig vorgestellten Arbeiten kaum Anknüpfungspunkte für ihr eigenes Projekt ergeben. So hat das aufwendige Einstiegskapitel vor allem die Funktion, das Desiderat der anvisierten Narratologie des Raumes anzuzeigen. Erst kleinere Forschungsberichte im Rahmen der nachfolgenden Kapitel greifen gezielt Konzepte auf, um diese für die eigenen Zwecke produktiv zu machen.

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Theoretische Fundierung des Raumbegriffes

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Eine kritische Literatursichtung eröffnet auch das Kapitel zur theoretischen Fundierung des Raumbegriffes. Fündig wird Dennerlein hier bei der Sozialgeographin Antje Schlottmann, aus deren Beschreibung des alltäglichen Verständnisses von Geographie sie die bereits zitierte »Alltagsvorstellung von Raum im Allgemeinen« (S. 58) ableitet. Abgestützt wird diese Hypothese – denn um nichts anderes handelt es sich, auch wenn hier der Eindruck empirischer Evidenz entstehen mag – mit den Kognitionslinguisten George Lakoff und Mark Johnson. Dennerlein distanziert sich allerdings von deren Annahme, die menschliche Innen-Außen-Orientierung liege in der Wahrnehmung des eigenen Körpers begründet (der laut Lakoff und Johnson als ein durch die Haut von seiner Umwelt getrennter Container empfunden wird). Stattdessen beruft sie sich auf die evolutionspsychologische Theorie Konrad Lorenz', nach der die menschliche Fähigkeit, die Umwelt in Containern zu erfassen, entscheidende evolutionäre Vorteile mit sich brachte, da sie Schutz vor Feinden und Wetter gewährte.

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Nicht reflektiert wird an dieser Stelle, dass das Container-Konzept für Lakoff und Johnson zu den Metaphors We Live By zählt (so der Titel ihrer 1980 erschienenen gemeinsamen Monographie) – dass hier also ebenfalls eine Metaphorisierung des konkreten Raumes beschrieben wird. Ferner legt auch der evolutionstheoretische Exkurs nahe, dass die menschliche Raumwahrnehmung immer schon mit nicht-räumlichen Zuschreibungen einhergeht (innen: Schutz vor Feinden, Geborgenheit; außen: Gefahr). Dennerleins strikte Ablehnung von Ansätzen, die den »Raumbegriff metaphorisch für nicht-materielle Phänomene verwende[n]« (S. 14), ist methodisch nachvollziehbar, da ›Raum‹ in der Tat häufig eine semantische Leerstelle bleibt, die für verschiedene andere Phänomene herhalten muss. Doch diese früh getroffene Entscheidung führt zu einer insgesamt zu rigiden Ausklammerung der ›uneigentlichen‹ Bedeutungen des ›eigentlichen‹ Raumes, die gerade für die Alltagsvorstellung von Raum ebenso relevant sein dürften wie die reinen materiellen Gegebenheiten.

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Dennerlein unterstreicht ausdrücklich, dass literarische Texte immer wieder auch von der Alltagsvorstellung von Raum abweichen, etwa wenn Objekte zu Aufenthaltsorten von Figuren werden, die es nach den Regeln der aktualen Welt nicht werden könnten (E.T.A. Hoffmanns Anselmus in der Flasche ist dafür ein Beispiel). Es soll also nicht der Realismus zur Norm erklärt werden, sondern – im wahrsten Sinne des Wortes – Raum für nicht-mimetische Erzählformen bleiben, die die Regeln ihrer phantastischen Gegenwelten auch auf die räumlichen Gegebenheiten applizieren. Stets jedoch bleibe die grundsätzliche »Vorstellung von konkretem Raum als Objekt mit einer Unterscheidung von innen und außen« (S. 68) bestehen.

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Zur interaktiven Produktion des erzählten Raumes

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Nachdem der Raumbegriff geklärt ist, widmet sich Dennerlein der entscheidenden Frage: »Wie wird konkreter Raum in einem narrativen Text erzeugt?« (S. 74). Ihre Antwort lautet: In einem Zusammenspiel zwischen Text und Leser. Der Beitrag des Textes besteht demnach darin, Rauminformationen zur Verfügung zu stellen, während der Leser seinerseits Weltwissen einbringt.

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Am offensichtlichsten wird die Vermittlung von Rauminformationen im Gebrauch »raumferentieller Ausdrücke«. Hierzu zählt Dennerlein Toponyme, Eigennamen des Typs ›Blaues Schloss‹, Gattungsbezeichnungen wie ›Problemviertel‹, die Deiktika ›hier‹, ›da‹ und ›dort‹ sowie »nicht weiter spezifizierbare Konkreta wie z.B. ›außen‹, ›innen‹, ›Heimat‹, ›Fremde‹, […]›Osten‹, ›Westen‹« (S. 77). Diese raumreferentiellen Ausdrücke funktionieren auf Grundlage jeweils unterschiedlicher Referenzsysteme, wie Dennerlein detailliert aufzeigt. Doch nicht immer basieren Raumerzeugung und Lokalisation auf derart expliziten Ortsangaben: »Sobald ein Ereignis erzählt wird, ist eine räumliche Gegebenheit impliziert, an/in der sich ein Ereignis abspielt, sei sie auch noch so unbestimmt« (S. 83).

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Mit dem dafür erforderlichen Schluss kommt das schon erwähnte interaktive Moment ins Spiel. Dennerlein beschreibt es als den »Inferenzprozess eines Modell-Lesers auf das Gemeinte unter Berücksichtigung der (gegebenenfalls literarischen und/oder historischen) Kommunikationssituation« (S. 84). Beim »Modell-Leser« handelt es sich nach Fotis Jannidis um eine »Leserfunktion, die zur Rekonstruktion der narrativen Kommunikation notwendig ist« (S. 90). Diese sowohl historisch als auch literarisch informierte Instanz, so Dennerlein, ist mit dem nötigen Wissen ausgestattet, um mittels der Informationen des Textes bei der Erzeugung der erzählten Welt mitzuwirken. Dazu gehören auch Inferenzen aufgrund indirekter räumlicher Verweise (z.B. über Figuren, Handlungen oder Objekte, die mit bestimmten Örtlichkeiten verbunden sind) sowie das Füllen von Unbestimmtheitsstellen mittels logischer, textbasierter Schlüsse.

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In einem kurzen Kapitel reicht Dennerlein noch eine kritische Betrachtung jüngerer Versuche nach, mentale Modelle der erzählten Welt zu beschreiben. Besonders hervorzuheben sind ihre Einwände gegen die gängige Vorstellung, die Rauminformationen eines Textes würden vom Leser in eine quasi kartographische Anschauung übersetzt. Das ›mapping‹ ist im Zuge des spatial turn zu einer viel strapazierten Metapher geworden. Auf das mentale Modell des erzählten Raumes passt diese Metapher laut Dennerlein jedoch nicht. Erzähltexte nämlich verrieten meist wenig über die Position räumlicher Gegebenheiten; zudem setze das Konzept der mind map eine visuelle Speicherung sprachlich vermittelter Rauminformationen voraus, für die es in Erzähltexten wenige strukturelle Anhaltspunkte gebe; drittens erfassten Karten nicht die in Texten vorgenommene Gewichtung der Rauminformationen.

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Der erzählte Raum und die Techniken seiner Darstellung

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Gemäß der klassischen erzähltheoretischen Unterscheidung zwischen discours und histoire möchte Dennerlein konsequent zwischen dem ›Wie‹ und dem ›Was‹ der Darstellung unterscheiden. Folglich betrachtet sie zunächst die Techniken zur Darstellung des Raumes, bevor sie zum dargestellten Raum als Element der erzählten Welt kommt.

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Das Kapitel zu den Darstellungstechniken entwickelt einen recht kleinteiligen terminologischen Apparat. Er wird sehr klar in einer Graphik dargestellt, die Dennerlein im Anhang zur Verfügung stellt (S. 207). Im Fließtext dagegen fällt es an dieser Stelle erstmals schwer, den terminologischen Setzungen der Verfasserin zu folgen, da die Dichte an Begriffsbestimmungen groß ist, ohne dass der heuristische Mehrwert der Wortneubildungen und -definitionen immer gleichermaßen einleuchtet. 14

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Im Anschluss an Catherine Emmott geht Dennerlein davon aus, dass beim Lesen eine Form der Informationsspeicherung erfolgt, die es dem Modell-Leser ermöglicht, neue Informationen mit bereits gespeicherten zu verknüpfen. Jede auf einen bestimmten Punkt in der Erzählhandlung bezogene Zwischenspeicherung bezeichnet Emmott als »contextual frame« (S. 116). In solchen kontextuellen Rahmen würden jeweils ›episodische‹ Informationen festgehalten über »a configuration of characters, location, and time« (ebd.), kurz: über eine Situation. Wie Dennerlein hinzufügt, kommt dabei der Komponente »location« besondere Bedeutung zu. In Beispielen aus Berlin Alexanderplatz findet sie Hinweise darauf, dass die Verknüpfung von Ereignissen mit räumlichen Kontexten »kognitiv besonders signifikant ist« (S. 117): Anhand der Raumgegebenheiten könnten frühere Situationen aus dem Gedächtnis abgerufen werden.

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Dennerlein beleuchtet nun die räumliche Komponente der Situation, um ihr Verhältnis zum Ereignis näher zu beschreiben. Mit Peter Hühn begreift sie Ereignisse als Zustandsveränderungen. Die räumliche »Erstreckung von Ereignissen« wird darauf aufbauend als »Ereignisregion« (S. 125) definiert. ›Ereignisregion‹ soll dabei nicht per se gleichbedeutend mit ›Schauplatz‹ sein. Vielmehr stellt eine Ereignisregion für Dennerlein nur dann einen Schauplatz dar, wenn das »raum-zeitliche und personale Orientierungszentrum« (S. 131) des Erzähltextes »in ihr verortet wird und wenn sie nach den Regeln der erzählten Welt zur faktischen Umgebung eines Ereignisses wird« (S. 132). In diesem Zusammenhang widerspricht Dennerlein der pauschalen Gleichsetzung des erzählten Raumes mit einem wahrgenommenen Raum. Erzählte Wahrnehmung liegt in ihren Augen ausschließlich dann vor, wenn Wahrnehmungsverben oder andere Indizien einen Wahrnehmungsakt anzeigen.

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Am Ende der Studie steht die Frage nach den textübergreifenden Parametern, nach denen die Rauminformationen narrativer Texte organisiert sind. Dafür setzt Dennerlein wiederum bei einer allgemeinmenschlichen Raumauffassung an, deren grundlegendes Merkmal die Strukturierung des Raumes gemäß der drei Raumachsen sei. Der Nachteil dieser Orientierung an anthropologischen Konstanten ist, dass sie die kulturellen (und mithin historisch variablen) Anteile an der menschlichen Raumvorstellung ausklammert, wie sie sich in einer diachronen Betrachtung rekonstruieren ließen. Um ein beliebiges Beispiel zu nennen: Der Dante der Divina Commedia und Daniel Defoes Robinson Crusoe überschreiten beide Grenzen, bewegen sich nach oben und unten und sind im Verlauf der Handlung von allerhand Container-ähnlichen Gebilden umgeben; diese Gemeinsamkeiten beschreiben die erzählten Welten der betreffenden Texte jedoch nur sehr unzureichend, da sich die damit verbundenen zeitspezifischen Bedeutungen – und, etwas altmodisch ausgedrückt: Weltbilder – auf diese Weise nicht erfassen lassen. Vergleicht man die Räume, die beide Texte erzählen, in ihrer kulturellen Semantik, so deutet ebenso viel auf Variablen wie auf Konstanten hin.

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Die Möglichkeit zu einer entsprechenden kulturwissenschaftlichen Erweiterung des Dennerlein'schen Ansatzes ergibt sich in Bezug auf das Konzept des ›Raummodells‹, wie die Verfasserin selbst in ihrem Fazit andeutet (vgl. S. 204). Mit ›Raummodell‹ wird die Tatsache umschrieben, dass gewisse Raumreferenzen ein erfahrungsbasiertes Wissen aktivieren, das zweierlei Komponenten beinhaltet: die typische Ausprägung des betreffenden Raumes – etwa das Innere einer Kirche oder eines Gefängnisses – sowie die dort üblicherweise stattfindende Ereignisabfolge. 15 Raummodelle, merkt Dennerlein an, »können aus der aktualen Welt, aus einem Genre, aus der texteigenen oder einer textübergreifenden fiktionalen Welt stammen, die durch Literatur, Theater, Film, Computerspiel, Comic usw. erzeugt wurde« (S. 181). Aus diesem Grund bietet sich hier eine vergleichende Perspektive an, die intertextuelle und kulturelle Zusammenhänge mit in die Einzeltextanalyse einbringt.

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Ausblick

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Bedenkt man, dass es sich bei dem vorgestellten Buch um eine Dissertationsschrift handelt, so beeindruckt die Unerschrockenheit, mit der sich die Verfasserin daran macht, die lange überfällige Ergänzung zu zeitbezogenen narratologischen Ansätzen zu liefern. Ebenso bemerkenswert ist die Souveränität, mit der sie eigenständige Terminologien und Modelle entwickelt und eine kritische Haltung gegenüber anderen Forschungspositionen bewahrt, die sie jeweils kompetent darlegt. Dennerlein gelingt es so, eine passagenweise Handbuch-artige Überblicksdarstellung mit der Einführung eines innovativen und anschlussfähigen Ansatzes zu kombinieren. Gelegentlich wünschte man sich, die in jedem Kapitel erfolgende Abgrenzungsarbeit gegenüber anderen Ansätzen würde zugunsten der Entwicklung und Illustration der eigenen Modelle zurückgefahren.

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Aufgrund seiner inhaltlichen Fülle ist Dennerleins Buch auch für diejenigen von Nutzen, welche die theoretisch-methodischen Prämissen der Verfasserin nicht in allen Einzelheiten teilen. Es überzeugt zudem mit einer ausgesprochen didaktischen Darbietung. Nicht nur das Buch als Ganzes, sondern auch jedes einzelne Kapitel beginnt mit einem Ausblick und endet mit einem Resümee. Und neben einem Register finden sich im Anhang ein Glossar sowie Diagramme und Tabellen, in denen wesentliche Inhalte sowohl des Forschungsberichts als auch der späteren Theoriekapitel in verdichteter Form präsentiert werden.

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Die von der Verfasserin gewählte systematisch-synchrone Blickweise auf das Problem des erzählten Raumes kann sich manchmal, wie schon angedeutet, begrenzend auswirken. So schließt eine von vornherein vorausgesetzte und mit kognitionswissenschaftlicher Autorität versehene Raumvorstellung größere Überraschungen aus. Würde man mittels vergleichend-diachroner Lektüren Raummodelle rekonstruieren, ergäbe sich möglicherweise ein anderes Bild – insbesondere dann, wenn man die Einbeziehung nicht-räumlicher Bedeutungsaspekte zuließe. Auf diese Weise wäre erst noch zu überprüfen, inwieweit die Annahme anthropologischer Konstanten einer kulturhistorischen Überprüfung standhalten kann. 16

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Dennerleins ausdrückliches Ziel ist es, ein »Beschreibungsinstrumentarium« für eine raumbezogene Erzähltextanalyse zu entwickeln. Primärtexte zitiert sie, dieser Zielsetzung entsprechend, jeweils nur absatzweise, zur beispielhaften Illustration. Der nächste Schritt müsste nun darin bestehen, das angebotene Konzeptrepertoire in den Dienst eingehender Volltextanalysen zu stellen. Dennerlein hat dafür wichtige Voraussetzungen geschaffen, was angesichts der bisherigen Forschungslage ein großes Verdienst ist. Und so wäre ihrem sorgfältig konzipierten Buch zu wünschen, dass es sich als ein Standardwerk etablieren kann.

 
 

Anmerkungen

Gerhard Hoffmann: Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman. Stuttgart: Metzler 1978, S. 1.

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Zu einem frühen Referenzpunkt wurde ein Aufsatz der Germanistin Sigrid Weigel: Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2:2 (2002), S. 151–165. Vgl., als derzeit aktuellsten literaturwissenschaftlichen Beitrag, Wolfgang Hallet / Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: Transcript 2009.

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Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: Transcript 2008; Barney Warf / Santa Arias (Hg.): The Spatial Turn. Interdisciplinary Perspectives. London/New York: Routledge 2008.

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Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009.

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Dennerlein denkt hier an die vom amerikanischen Geographen Edward Soja initiierte Spielart des spatial turn als »Hinwendung zu Fragen sozialer Räumlichkeit« bei einer »gleichzeitigen Überwindung eines bestimmten Begriffs von Raum« (Stephan Günzel: Raum. Topographie. Topologie. In: S.G. (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld: Transcript 2007, S. 13–29, hier S. 15; vgl. dazu auch Doris Bachmann-Medick: Spatial turn. In: D.B.-M.: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 284–328). Diese Theorietradition beruft sich auf den französischen Philosophen Henri Lefebvre, der 1974 die These entwickelte, der Raum sei eine »soziale Produktion«, die bestehende Machtverhältnisse widerspiegle und verfestige, wobei Lefebvre den Raum als Gegenstand (und nicht bloßes Medium) von Praktiken und Handlungen definierte (vgl. Henri Lefebvre: The Production of Space [1974]. Übers. von Donald Nicholson-Smith. Oxford / Cambridge, MA: Blackwell 1991; nur ein Auszug der im Original französischen Studie liegt bislang in deutscher Übersetzung vor: Henri Lefebvre: Die Produktion des Raums. Übers. von Jörg Dünne. In: Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 330–342).

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Vgl. hierzu Bruno Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie: Kognitive und ›Natürliche‹ Narratologie. In: Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT 2002, S. 219–242. Zuvor hatte bereits Elrud Ibsch in einer Sammelrezension einen solchen turn konstatiert: Elrud Ibsch: The Cognitive Turn in Narratology. In: Poetics Today 11:2 (1990), S. 411–418.

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Vgl. etwa Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001.

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Gleich zweimal führt Dennerlein die Beispiele des Waldstückes, des Nationalstaates und des Ghettos an: Alle drei, schreibt sie, »mögen zwar genau genommen das Ergebnis sozialer Konstruktionen sein, im Alltag wird auf sie aber als Räume mit einer festen Innen-Außen-Unterscheidung referiert« (S. 62; vgl. S. 66). Der Mensch, so Dennerlein, stellt sich Räume als Container vor – und allein das ist aus ihrer Perspektive entscheidend, da sie annimmt, dass auf Grundlage dieser alltäglichen Raumvorstellung die in Texten beschriebenen Räume zu mentalen Modellen ausgeformt werden.

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Aus diesem Grund wird Lotman etwa in Matias Martinez' und Michael Scheffels Einführung in die Erzähltheorie (1999) ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Vgl. Matias Martinez / Michael Scheffel: Jurij M. Lotmans Raumsemantik. In: M.M. / M.S.: Einführung in die Erzähltheorie [1999]. 7. Aufl. München: Beck 2007, S. 140–144.

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10 

Vgl. Andrea Taubenböck: Die binäre Raumstruktur in der Gothic novel: 18.-20. Jahrhundert. München: Fink 2002; zu Lotman vgl. S. 21–29.

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11 

Michael C. Frank: Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin. In: Hallet / Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur (wie Anm. 2), S. 53–80; Sylvia Sasse: Literaturwissenschaft. In: Günzel (Hg.): Raumwissenschaften (wie Anm. 4), S. 225–241, hier S. 233 f.

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12 

Vgl. Dünne / Günzel (Hg.): Raumtheorie (wie Anm. 7), S. 529–545.

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13 

Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte [1970]. Übers. von Rolf-Dietrich Keil. 4. Aufl. München: Fink 1993, S. 311–347 (zum Raumbegriff: S. 312).

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14 

An einigen Punkten kann zudem Verwirrung entstehen. So wird etwa »Geschehen« zunächst als eine »innerhalb der erzählten Welt nichtintendierte Zustandsversänderung« definiert und von »Handlung« im Sinne von »Figurenhandlung« abgegrenzt (S. 123), wobei beide Begriffe zur Bezeichnung von Ereignistypen dienen. Dann aber heißt es in anderem Zusammenhang, »Ereignis« werde als die »kleinste Einheit der Handlung [nun im Sinne von: ›Plot‹]« verstanden, während »Geschehen« die »chronologische Abfolge von Ereignissen [und folglich kein einzelnes Ereignis]« bezeichne (S. 165; Ergänzungen MCF).

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15 

Während sich das Konzept des ›Raummodells‹ auf Mikroräume bezieht, bezeichnet Dennerlein mit ›Raumstruktur‹ die von verschiedenen Forschern – wie etwa dem Stadtplaner Kevin Lynch – beobachtete Tatsache, dass Menschen (respektive Erzähltexte) den von ihnen wahrgenommen (bzw. entworfenen) Raum aufgliedern in Wege, Bereiche, Grenzen und Landmarken – Gegebenheiten, die für die räumliche Orientierung wesentliche Bedeutung haben.

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16 

Michail Bachtin etwa hat in seinem Chronotopos-Essay gezeigt, dass raumzeitliche Struktur- und Motivelemente im Roman eng mit ihrem jeweiligen kulturhistorischen Kontext korrespondieren, dass sie als Element von Gattungen aber auch darüber hinaus Bestand haben können. Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Übers. von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. Dennerlein wendet gegen Bachtins Essay zu Recht ein, er liefere keine »raumbezogene Modellierung des [Chronotopos-]Begriffs« (S. 168).

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