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Raabes Finessen

  • Søren R. Fauth / Rolf Parr / Eberhard Rohse (Hg.): »Die besten Bissen vom Kuchen«: Wilhelm Raabes Erzählwerk: Kontexte, Subtexte, Anschlüsse. Göttingen: Wallstein 2009. 368 S. 35 Abb. Broschiert.
    ISBN: 978-3-8353-0544-1.
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Die Entdeckung des »späten Raabe« ist inzwischen fast 80 Jahre alt. Es war der Religionsphilosoph Romano Guardini, der 1932 Stopfkuchen ausgrub und auf das Gewicht des Romans verwies. 1 Die Germanistik brauchte einige Jahrzehnte, um Guardinis Anregungen aufzugreifen. Spätestens seit den 70er Jahren aber besteht unter den Vertretern des Faches Konsens, dass es sich bei den »mittleren« und vor allem bei den »späten« Romanen Raabes um Texte handelt, die in ihrer erzähltechnischen Finesse, in ihrem Reichtum an Intertexten, ihrer subtilen Infragestellung überlieferter Metaphysiken und Ideologien, in ihrer diffizilen Inszenierung der Probleme erzählerischer Wirklichkeitskonstruktion und in ihren verwirrenden Genreverhandlungen Highlights der Erzählliteratur darstellen – Highlights, die auf den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts zurückweisen, das Genre aber entscheidend modifizieren.

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Und so beschäftigt sich der vorliegende, von Søren R. Fauth, Rolf Parr und Eberhard Rohse herausgegebene Sammelband »Die besten Bissen vom Kuchen«. Wilhelm Raabes Erzählwerk: Kontexte, Subtexte, Anschlüsse, dessen Beiträge auf eine internationale, 2008 in Århus abgehaltene Raabe-Tagung zurückgehen, fast ausschließlich mit dem Teil des Raabe’schen Œuvres, der seit den 1870er Jahren entstand. Den Beiträgen, so die Herausgeber in der (leider viel zu kurzen, nur gut zwei Seiten langen) Einleitung, sei es darum zu tun, »die besonders interessanten Schlüsseltexte Raabes – die ›besten Bissen vom Kuchen‹ – neu [zu analysieren], indem sie bisher nicht in den Blick geratene Subtexte herausarbeiten, innovative Kontextualisierungen erproben und unerwartete Anschlüsse an andere Autoren, deren Poetik oder Texte herstellen«. (S. 7)

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Schon aufgrund seiner Kürze kann es dem Vorspann (übertitelt mit »Zur Einleitung: Kontinuitäten im Schnittpunkt von Texten, Kontexten, Subtexten und Anschlüssen«) nicht gelingen, eine präzisere Konzeptualisierung der – interessanten – Agenda des Bandes herauszuarbeiten. Inwiefern, wäre zu fragen, ist die Suche nach Kontexten, Subtexten und Anschlüssen in Bezug auf das Œuvre Raabes besonders produktiv? Wie positioniert sich der Band zur bisherigen –»Kontexte« erkundenden – Raabe-Forschung? Wie genau sind »Subtexte«, »Kontexte«, »Anschlüsse« – gewissermaßen differentialdiagnostisch – gegeneinander zu stellen, mit welchen Theoremen werden die Begriffe von den Herausgebern verknüpft? Wie wird das tradierte Autorbild durch die vorgenommenen Kontextualisierungen modifiziert? Welche Auswirkungen haben die Analysen auf die literaturhistorische Positionierung Raabes? Die Einleitung bleibt die Antwort auf diese Fragen zwar schuldig, macht aber schon mit dem bloßen Nennen der Beiträge und ihrer Sujets Lust auf die Lektüre – eine Lektüre, die auch deshalb gewinnbringend zu sein verspricht, weil die Herausgeber auf eine ausgewogene Mischung von Studien etablierter, zum Teil hoch dekorierter Vertreter der Raabe-Forschung wie auch auf Aufsätze jüngerer Kollegen gesetzt haben. Theoretisch avancierte und voraussetzungsreiche Beiträge wechseln mit solchen ab, die mit philologischer Akribie, auch stupendem positivistischem Faktenreichtum neue Kontexte erschließen können.

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Täuschende Titel und poetologische Selbstvergewisserung

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Im ersten der drei Teile des Bandes (den »Texten / Kontexten« folgen »Texte / Subtexte« und »Kontexte / Anschlüsse«) beschäftigt sich Hans-Jürgen Schrader mit Raabes täuschende[n] Titel[n] und deren »kalkulierter Diskrepanz zwischen Überschrift-Verheißung, assoziativer Fehllenkung und Nichterfüllung, durch die Lesererwartungen und Voreinstellungen in reflexiver Auseinandersetzung mit der Kunstform korrigiert werden sollen und eine neue Intensität kritischer, ja misstrauischer Auseinandersetzung mit dem Text eingeübt wird« (S. 42). Rolf Parr erörtert Modelle von Massendynamik bei Wilhelm Raabe und kann zeigen, dass die von Raabe in seinen Erzählungen der 1860er und 1870er verwendeten Formen der Darstellung massendynamischer Szenarien an das Schiller’sche Modell anschließen, die späteren Texte jedoch Konfigurationen entwickelten, die als Inversionen dieser Konzeption anzusehen seien. Eine Fülle an paläontologischem und naturhistorischem Material bringt Eberhard Rohse bei, der am Stopfkuchen und an weiteren Texte Raabes plausibel machen kann, wie paläontologische Ikonographie und biblisch-präfigurative Sinflutszenerie »einen tiersymbolisch begleiteten narrativen Erfahrungs- und Reflexionshorizont« eröffnen (S. 115). Georg Mein liest in seinem Aufsatz Raabes Stopfkuchen als Projekt einer poetologischen Selbstvergewisserung. Als eigentliche Themen des Romans zu benennen seien Gewalt und die Kontingenz von Wirklichkeit, Autorschaft werde dementsprechend als »wollüstige Phantasmagorie der Macht« (S. 120), als Form narrativer Gewalt entworfen, die der Kontingenz von Wirklichkeit genauso entgegengesetzt werde, wie Raabe im Stopfkuchen Sprechen und Schreiben, Isolation und Eskapismus, innere und äußere Emigration, Schaumann und Eduard zueinander in Opposition setze. Fokussiert wird Eduard von Mein gerade nicht als naiver Protokollant von Schaumanns Redefluss: Eduard vollziehe einen komplexen Reflexionsprozess, in dem sich ein lang verdrängtes Wissen artikuliere, er banne den Schrecken, der aus der Dekonstruktion seines idyllischen Heimatbildes resultiere, in die Ordnung der Schrift und mache sich so zum Schöpfer seines Ichs. (Das sieht die Rez. anders: Stopfkuchen ist auctor im Wortsinne. Er veranlasst, er verursacht, dass etwas geschrieben wird – von Eduard. Der schreibt im Bauch des Schiffes nach Diktat, notiert eine fremde Geschichte, die er zu seinen eigenen Erfahrungen nicht in Bezug setzen kann. Auch im Akt der Niederschrift regt sich der an jenem Besuchstage von Stopfkuchen so rigoros unterdrückte Widerspruch Eduards nicht, fügsam protokolliert dieser die ›Stimme seines Herrn‹. Insofern ist die erzählerische Gewaltstrategie der Titelfigur von durchschlagendem Erfolg: Noch Eduards Verschriftlichung fremder Rede resultiert aus Schaumanns Machtgestus und kündet von ihm.)

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Mein zeigt, dass der am Theologiestudium gescheiterte Schaumann als deus ex machina und als richtender Gott an den Hof der Quakatz zurückkehrt und dort die Ordnung wiederherstellt. Während Eduard mit seinem Schiffstagebuch das Projekt einer poetologischen Selbstvergewisserung verfolge, also versuche, sein Schicksal medial ›einzuholen‹, wisse der vorausschauende und abwartende Schaumann seinen Werdegang in die zwingende Logik einer Narration einzubetten. Im Stopfkuchen – so die Conclusio – gehe es um die »Transformation kontingenter Wirklichkeitserfahrung in die strukturierende Linearität einer literarischen Plotstruktur« (S. 129) – auf zwei medialen Ebenen: der der Oralität (Schaumann) und der der Literalität (Eduard).

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Homer und Schliemann

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Schließen viele Beiträge des Bandes an Befunde an, die in der Raabe-Forschung etabliert sind und bereits diskutiert wurden, betritt Heiko Ullrichs – mit scharfsinnigen In-Bezug-Setzungen gespickter – Beitrag Die »herzoglich braunschweigische Ilias«. Wilhelm Raabes Erzählung Das Odfeld als Hypertext des homerischen Epos dezidiertes Neuland. Zwar finden sich in der Odfeld-Forschung etliche Vorschläge, welche Prätexte in Bezug auf das Odfeld zu nennen seien: In die Debatte geworfen wurden bislang (von Detering) die biblische Apokalypse, die Philemon-und-Baucis-Episode aus Ovids Metamorphosen (von Mojem), Poes Raven (von Haas), Texte von Epiket, Seneca und Boetius (von Gehrke), Schopenhauers Metaphysik (von Cremer und Fauth). Homers Ilias aber, auf die Ullrich verweist, ist bislang noch nicht ins Spiel gebracht worden – und das, obgleich Raabe in einem Brief vom 19. September 1898 an Robert Lange auf die Ilias als Bezugspunkt verweist: »Demnächst schicke ich Hastenbeck hinaus; ein Gegenstück zu dem Odfeld. Nach der herzoglich braunschweigischen Ilias die herzoglich braunschweigische Odyssee.« (S. 169) Die auf Autorhinweise sonst sensibel reagierende Raabe-Forschung hat diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht zur Kenntnis genommen, wohl – so Ullrichs –, weil sich im Odfeld wenige direkte Zitate aus der Ilias ausmachen ließen. Das homerische Epos fungiere allerdings als ›Schablone‹ des Odfelds – eines Romans, als dessen konstituierendes Merkmal seine Hypertextualität zu verstehen sei. Ullrichs Hauptaugenmerk gilt dem Vergleich der Figuren Raabes mit denen der Ilias. Wichtiger als die Aufspaltung einer Figur des Hypotextes in mehrere Figuren des Hypertextes – etwa Achills in Buchius und Selinde oder des Machaon in den Raben und den ›Todesboten‹ – erscheint Ullrich die Fusion von Nestor und Achill im Protagonisten Buchius: »Während Nestor sich in der Ilias in Gegensatz zum egoistischen Achill setzt, verkörpert Buchius sowohl die aktive Hilfsbereitschaft als auch den gewollten Rückzug in Isolation und Passivität.« (S. 182)

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Am Ende von Raabes Roman verweise der Erzähler mit dem Bild vom Rauschen in der Muschel am Ohr darauf, dass der Leser »in Buchius sein Weltbild wiederfinden« werde (S. 196). Nach Ullrich steht damit am Ende des Hypertexts von Raabe der Befund, dass sich »in der Deutung eines beliebigen historischen Objekts […] zunächst einmal de[r] Deuter selbst« spiegelt (S. 196). Raabes Odfeld verhandele auch auf diese Weise die Fallstricke der (historischen) Erkenntnis; die Asymmetrie von verschiedenen Deutungen eines Ereignisses durch verschiedene Figuren und die durch sie repräsentierten analytischen – hier: mythologischen – Modelle werde in Szene gesetzt.

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Diskutiert Ullrich die Ilias als Hypotext für einen Roman Raabes, der bislang noch nicht auf das Homerische Epos abgebildet wurde, greift Kathrin Maurer mit ihrer In-Bezug-Setzung von Heinrich Schaumann und Heinrich Schliemann eine Konfiguration auf, die eine in der Raabe-Forschung vielbesprochene ist. Bereits in den 80er Jahren wies Mark Lehrer auf die Allusionenkette im Stopfkuchen hin, die sich mit dem Namen Heinrich Schliemann verbinden lässt. 2 Maurer fokussiert – auf diesen Vorarbeiten aufbauend – die Perspektivierungen des Geschichtlichen, die narrativen Konstruktionen der fiktiven Figur Heinrich Schaumann einerseits, die des historischen Archäologen Heinrich Schliemann andererseits. Dabei geht sie von der Beobachtung aus, dass sich im 19. Jahrhundert literarischer und wissenschaftlich-archäologischer Diskurs wechselseitig befruchten: Während zahlreiche Romane geschrieben würden, die die Themen und Darstellungspraktiken der Archäologie aufgreifen und verhandeln, orientiere sich die archäologische Praxis am literarischen Leitfaden der Ilias und der Odyssee. Schliemann habe die Dichtung Homers als historische Quelle ernst genommen. Ihm sei es darum gegangen, die Ergebnisse seiner Grabungen in eine möglichst sinnstiftende geschichtliche Erzählung einzubetten. Schaumann, Raabes Protagonist, dagegen sei es nicht darum zu tun, im Stile einer great story eine teleologische Entwicklung nachzuzeichnen, er sei mit der Sammlung von Einzelstücken der Geschichte befasst und lege ein Archiv literarischer Zitate an. Es gehe ihm dabei um den jeweiligen historischen Blickwinkel, mit dem auf eine nicht festgeschriebene, sondern dynamische Vergangenheit geblickt werde – eine Vergangenheit, die vor dem Hintergrund sich wandelnder Wissenskontexte immer wieder unterschiedlich wahrgenommen werde. Maurer liest Schaumanns subjektiven Zugang zur Geschichte sowie die poetische Selbstreflexivität des Stopfkuchen-Romans, der unterschiedlichste Sinnmodelle, Geschichtskonzepte und damit auch Lektürevorschläge aufwirft und problematisiert, als Raabe’sche – für einen »personalisierten« Blick auf das historische Material plädierende – Kritik an den akademischen Geschichtsinterpretationen im 19. Jahrhunderts.

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Kontexte / Anschlüsse

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Nimmt Maurer den archäologischen Diskurs der Zeit hinsichtlich des Stopfkuchens in den Blick, kartographiert Søren R. Fauth präzise die Funktionalisierung der Schopenhauer’schen Philosophie für Raabes See- und Mordgeschichte sowie das Odfeld; Gabriele Henkel rekonstruiert die Schiller-Rezeption in einem deutlich früher geschriebenen Text Raabes, im Dräumling; Jeffrey L. Sammons nähert sich mit dem Fokus auf die in den Texten zu beobachtende Erzählhaltung dem Autor aus komparatistischer Perspektive – und etikettiert Raabe als »deutschen viktorianischen Schriftsteller« (S. 239), der Thackeray an die Seite zu stellen sei. Mit seiner akribischen Untersuchung der Spuren Wolfenbüttels in Raabes Stopfkuchen legt Herbert Blume eine Detailstudie zu den Fiktionalisierungsstrategien Raabes vor – und kann en passant auch noch Forschungsirrtümer aus dem Weg räumen: So ergibt sich, dass die communis opinio, Raabe setze mit seinem Roman auf sprachliches Lokalkolorit, entscheidend zu modifizieren ist. Christof Hamann untersucht in seinem aufschlussreichen Beitrag, wie sich Raabe mit seinem Roman Unruhige Gäste im »Wirts«organ Gartenlaube positioniert, er nimmt den Autor als »Parasit« in den Blick, der seinen Wirt, die Zeitschrift Gartenlaube, missbrauche, »weil er sich bestimmter in der Gartenlaube durchaus gängiger interdiskursiver Komplexe bedient, sie aber auf eine Weise fortschreibt, dass sich zwischen den Oppositionen kein harmonischer Ausgleich, sondern eine unheimliche Unruhe einstellt« (S. 305). In Heinrich Deterings Studie, die an dessen Monographie von 1990 über Theodizee und Erzählverfahren. Narrative Experimente mit religiösen Modellen im Werk Wilhelm Raabes anschließt, werden ausgehend von Clemens Lugowskis Überlegungen die Raabe’schen Texte als Beispiele »für die Möglichkeit einer ästhetisch avancierten narrativen Reflexion des Zusammenhangs von providentieller Welt-Anschauung und mythischem (oder hier vielmehr: ›providentiellem‹) Analogon im Anfang der Moderne« in den Blick genommen (S. 323). Julia Bertschick verfolgt mit kriminalistischem Gespür das Geflecht, das sich zwischen Texten Friedrich Glausers und Wilhelm Raabes aufspannen lässt, und führt ihr Projekt des ›Spurenlesens‹ als Form philologischer Wissenspraxis vor.

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»Die besten Bissen vom Kuchen«

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Es ist der späte Raabe, der Literaturwissenschaftlern das beste Stück vom Kuchen verspricht. Und so wundert es auch nicht, dass es Raabes Roman Stopfkuchen ist (gefolgt vom Odfeld), an dem sich die meisten der Interpreten mit literaturwissenschaftlichem (Beiß-)Instrumentarium abarbeiten. Bemerkenswert ist dabei die Entschiedenheit, mit der Raabes Modernität als bestimmende Signatur seines Werkes zu verstehen versucht wird. Ob man die Umwertung Raabes – mit Jeffrey L. Sammons – als Beweis nehmen will, »dass die vielgeschmähte Literaturwissenschaft nicht als Gebetsmühle rotiert, sondern tatsächliche Fortschritte zeitigen kann« (S. 223), sei dahingestellt (geht die »neue Sicht« auf Raabe doch bereits auf das erste Drittel des vergangenen Jahrhunderts zurück). Darüber allerdings, dass insbesondere die späten Romane Raabes – textverzehrenden – Literaturwissenschaftlern erheblichen lukullisch-intellektuellen Genuss zu bereiten verstehen, ist kein Disput vonnöten. Und auch darüber nicht, dass der von Søren R. Fauth, Rolf Parr und Eberhard Rohse herausgegebene Sammelband für die Raabe-Forschung der nächsten Jahre als unentbehrliches Kompendium fungieren wird, auf das neue Studien zu Raabe Bezug zu nehmen haben – und das sie erstmal überbieten müssen.

 
 

Anmerkungen

Romano Guardini: Über Wilhelm Raabes Stopfkuchen, Mainz 1932.   zurück
Mark Lehrer: Der ausgegrabene Heinrich Schliemann und der begrabene Theodor Storm. Anspielungen auf Zeitgenossen in Raabes Stopfkuchen, in: JbRG (1989), S. 63–90.   zurück