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Neue Weerth-Perspektiven

  • Bernd Füllner (Hg.): Marie Weerth: Georg Weerth. 1822 - 1856. Ein Lebensbild. Bielefeld: Aisthesis 2010. 451 S. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-89528-759-6.
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Einer günstigen Konstellation ist es zu verdanken, dass diese Biographie doch nach beinahe 100 Jahren den Weg aus dem Archiv in die Öffentlichkeit schafft. (B. Füllner in Lebensbild, S. 424)
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Bernd Füllner, bereits Herausgeber des Bandes Georg Weerth – Neue Studien (Aisthesis 1988) und Verfasser einer Weerth-Chronik (Aisthesis 2006), somit profunder Kenner des Werkes und der Biographie von Georg Weerth, hat sich nun dem in der Lippischen Landesbibliothek Detmold hinterlegten Manuskript Marie Weerths gewidmet. Das jetzt von ihm herausgegebene Lebensbild Georg Weerths ist eine diplomatische Textwiedergabe eben jener Handschrift, die Georg Weerths Nichte Marie (1851–1925) um 1910 auf der Basis von Familienbriefen verfasste. Wie der Herausgeber selber unterstreicht (S. 399), geht es ihm vorrangig um die Authentizität des von ihm publizierten Dokuments, das mit wenigen Fußnoten und textspezifischen Erläuterungen auskommt. In seinem Anhang liefert Füllner neben einiger Abbildungen Angaben zur Edition (S. 399–408), zur Überlieferung (S. 411-412) und zur eigentlichen Verfasserin (S. 413–419) des Lebensbilds, hält sich ansonsten aber vornehm im Hintergrund.

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Ein Leben in Briefen

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Das 451 Seiten starke Lebensbild enthält 293 von Weerths Briefen, datiert zwischen November 1836 und Juli 1856, die fast ausschließlich an seine Mutter Wilhelmina und an seine Brüder Carl und Wilhelm Weerth gerichtet sind. Dazu kommen noch zwei Tagebuchblätter Weerths und ein an ihn gerichtetes offizielles Schreiben einer seiner Arbeitgeber. Auch wenn sämtliche der im Lebensbild gesammelten Briefe Weerths bereits in der zwei Bände umfassenden Ausgabe Georg Weerth. Sämtliche Briefe vorliegen 1 , bietet Marie Weerths Lebensbild unter anderem aufgrund ihrer ausführlichen Zwischentexte über den Standard des »Weerth-Chronisten« (Füllner S. 418) hinausgehende Einblicke in das Leben und das Wesen Weerths.

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Die Briefe Georg Weerths wurden von seiner Nichte Marie 15 chronologischen »Kapiteln« zugeordnet, beginnend mit seiner Kindheit (1822–1836) und endend mit seinem Tod (1856). Während Marie die früheren Briefe Weerths – dazu zählen auch jene aus Bradford und aus Brüssel – auf das biographisch Wichtige gekürzt in ihr Lebensbild integriert hat, übernimmt sie die Briefe des späteren Weltreisenden Weerth zumeist vollständig. Sie erlaubt sich allerdings, seine manchmal allzu ungepflegten Äußerungen zu entschärfen (Füllner gibt auf Seite 418 als Beispiel den Ausdruck »Scheißdreck« aus einem Brief an den Bruder an, der bei Marie zu einem »Dreck« abgemildert wird).

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Zu Beginn des Lebensbilds fungiert Marie Weerth als wahrhaftige Biographin ihres Onkels und unterlegt ihren ausführlich dokumentierenden Text mit einigen wenigen, ausschnittsweise zitierten Briefen. Dem Leser werden hier besonders Einblicke in familiäre Konstellationen, Zusammenhänge und auch Konflikte erlaubt, die ein Außenstehender so nicht hätte ermöglichen können. Aber auch später, ab Kapitel 5 – es geht um die zwei ersten Englandreisen Weerths im Jahre 1843 –, wenn sich Marie nur mehr mit einem jeweils einleitenden und ausführlichen Kommentar zu besagtem Lebensabschnitt und der dazugehörigen Lebenslage Georg Weerths begnügt, und ansonsten ihren Onkel sprechen lässt, geht das Lebensbild über den Rahmen einer einfachen Briefausgabe heraus. Georg Weerths Kontakte zu Marx und Engels, aber auch zu Heinrich Heine oder zu Ferdinand Freiligrath, sowie seine politischen Aktivitäten vor und während der 48er Revolution werden durch Marie Weerths Anekdoten und Bewertungen in ein neues Licht gestellt.

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Marie Weerth

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Die wenigen bekannten Informationen über das Leben von Marie Weerth hat Bernd Füllner, neben ihrer acht Dokumente umfassenden Bibliographie, in seinem »Anhang« zusammengetragen. Die Tochter von Georgs Lieblingsbruder Wilhelm (1815–1884) wurde am 23. Dezember 1851 in Blomberg bei Oerlinghausen geboren und verließ ihr Elternhaus bereits im Alter von 14 Jahren, um sich in Berlin zur Lehrerin ausbilden zu lassen – ein Beruf, den sie unter anderem aufgrund ihrer schwachen Gesundheit nie ausüben sollte. 1872 bewarb sich Marie um eine Stelle als Gouvernante in Paris, wie aus einem Empfehlungsschreiben des Detmolder Dichters Ferdinand Freiligrath (1810–1876), ein Jugendfreund des Vaters und des Onkels, hervorgeht. Über Maries tatsächlichen Aufenthalt in der französischen Hauptstadt sind hingegen keine Informationen überliefert. Aus einer in der Georg Weerth-Sammlung (Lippische Landesbibliothek Detmold) hinterlegten britischen Reiseskizze Maries, St. Alban und Verulamium, geht allerdings hervor, dass sie England und vor allen Dingen London besucht hatte. Weitere Details zu dieser Reise fehlen allerdings. Erwiesen ist, dass Marie Weerth Ende der 1870er, Anfang der 1880er Jahre wieder nach Oerlinghausen in den Schoß der Familie zurückkehrte und sich unter anderem stark in der evangelischen Gemeinde engagierte. Nach dem Tod ihrer Mutter 1903 zog Maire nach Detmold, wo sie später von ihrer jüngeren Schwester Julie (1855–1935) gepflegt wurde. Marie Weerth starb am 27. Dezember 1925 im Alter von 74 Jahren. Neben dem Lebensbild ihres Onkels und ihrer britischen Reiseskizzen verfasste Marie Weerth mehrere lokal-historische Aufsätze, die in den von ihrem Bruder Otto (1849–1930) herausgegebenen Mitteilungen zur Lippischen Geschichte publiziert wurden.

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Erinnerungsarbeit innerhalb der Familie Weerth

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Die Erinnerung an das illustre Familienmitglied Georg wurde innerhalb der Familie Marie Weerths gepflegt: Auch ihr älterer Bruder Otto widmete sich seinem Onkel, der nach seinem Tod schnell in Vergessenheit geriet. Während Marie sich intensiv mit dem brieflichen Nachlass ihres Onkels auseinandersetzte, verfasste Otto Mitte der 1880er Jahre einen biographischen Artikel über Georg Weerth für das 1886 von Franz Brümmer in Leipzig herausgegebene Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten des neunzehnten Jahrhunderts. Auch Ottos Sohn Karl Weerth (1881–1960) engagierte sich im Rahmen der Aufarbeitung von Leben und Werk seines weit gereisten Großonkels: 1930 erschien in Leipzig die von Karl verfasste erste Biographie unter dem Titel Georg Weerth. Der Dichter des Proletariats. Während Karl sich allerdings bei seinen Studien mit Informationen aus zweiter oder dritter Hand zufrieden geben musste, hatten die Geschwister Otto und Marie noch persönliche Erinnerungen an ihren Onkel. Marie erinnert sich wie folgt an ihre einzige Begegnung mit Georg Weerth im August 1855:

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Den Brüdern erwies er sich als treuster Freund, der Schwägerin war er ein liebevoller ritterlicher Bruder, u. auch mit Wilhelms Kindern in Oerlinghausen wußte er sich anzufreunden. Den 6jährigen Karl nahm er aufs Knie u. ließ ihn den Kladderadatsch buchstabieren, zu dem Töchterchen setzte er sich an ihren kleinen Spieltisch u. baute ihr den mitgebrachten Hühnerhof auf. (S. 359)
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Das Lebensbild

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Der Zeitpunkt der Niederschrift des Lebensbilds ist nicht genau erwiesen: 1912 erwähnt Marie in einem Brief an den sozialdemokratischen Publizisten Franz Diederich (1865–1921), dass sie schon »vor Jahren« (S. 414) damit begonnen hätte, die Biographie ihres Onkels zu schreiben, diese aus gesundheitlichen Gründen aber nicht abschließen können. Es kann also durchaus sein, dass eine erste Fassung des Manuskripts bereits vor der Jahrhundertwende entstanden ist, welche Marie um 1910 erneut überarbeitet hat und zeitweise beabsichtigte, unter dem Titel Georg Weerth. 1822–1856. Ein Lebensbild zu veröffentlichen. Im Januar 1914 schrieb sie allerdings erneut an Franz Diederich, dass sie das Lebensbild nun doch nicht der Öffentlichkeit preisgeben wolle, sondern ihre biographische Arbeit für das »Familien-Archiv« (S. 414) zu reservieren.

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Fazit

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Dass Bernd Füllner dieses Manuskript nun der Öffentlichkeit zugängig gemacht hat, ist nicht nur für Weerth-Forscher, sondern auch für jeden Vormärz-Interessierten und Geschichtsbegeisterten ein Glücksfall. Die Briefe Georg Weerths bieten nicht nur ein ausführliches Panorama der politischen Landschaft des europäischen Vormärz, sondern auch Einblicke in die Lebensumstände Handelsreisender des 19. Jahrhunderts. Somit lernen wir mit Georg Weerth auch, dass die Globalisierung wesentlich älter ist, als wir heute annehmen, und dass schon vor fast 200 Jahren kosmopolitische Philanthropen die Welt umrundeten und versuchten, nationalen und kulturellen Grenzen zu entgehen.

 
 

Anmerkungen

Jürgen-Wolfgang Goette (Hg.): Georg Weerth. Sämtliche Briefe. 2 Bde. Frankfurt/M., New York: Campus 1989. Bernd Füllner listet übrigens auf den Seiten 437–442 die jeweiligen Entsprechungen der Briefe des Lebensbilds in Goettes Ausgabe auf.   zurück