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»Aberglaube« und mittelalterliches Kirchenrecht - ein wenig erforschtes Thema

  • Patrick Hersperger: Kirche, Magie und »Aberglaube«. »Superstitio« in der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts. (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 31) Köln, Weimar: Böhlau 2010. 533 S. Broschiert. EUR (D) 64,90.
    ISBN: 978-3-412-20397-9.
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Wer sich je ernsthaft mit mittelalterlichen Beschwörungen auseinandergesetzt hat, weiß um den enormen Arbeitsaufwand, den die Erforschung dieses Gebiets anonymer Kleinliteratur mit sich bringt, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Gegenstand uns heute im wesentlichen fremd ist. Solches gilt gleichermaßen auch hinsichtlich der Untersuchung der Disziplinen, die sich zeitgenössisch mit Magie etc. auseinandergesetzt haben; es ist nichts weniger als mühelos, etwa den kirchenrechtlichen Diskurs über ›superstitio‹ zu verfolgen, der, wie auf dem Cover von Patrick Herspergers Züricher Dissertation zu lesen, bislang »nur unzureichend aufgearbeitet« ist. Die genannte Arbeit will diese Lücke schließen, indem sie Texte der klassischen Kanonistik vom ›Decretum Gratiani‹ bis zum ›Liber Extra‹ untersucht. Eine solche Unternehmung ist sinnvoll und zeitaufwendig – und insofern kann Hersperger vorab einen Bonus für sich beanspruchen – , doch freilich setzt sie umfangreiche Kenntnisse und einen beherzten Zugriff auf eben die »Lücken« (die als solche auch explizit zu verorten wären) voraus. Und genau hier liegt der sozusagen neuralgische Punkt der Untersuchung.

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Die Quellenfrage

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Zunächst zur Auswahl der Quellen. Die analysierten Texte umfassen die ersten beiden Teile des ›Corpus Iuris Canonici‹, das ›Decretum Gratiani‹ (um 1140) und den ›Liber Extra‹ (1234), verschiedene Dekret- und Dekretalenkommentare und einige Bußsummen. Es ist natürlich verdienstvoll, dass Hersperger neben gedruckten insbesondere ungedruckte Quellen heranzieht. So wurden hauptsächlich Handschriften ausgewertet, die Hersperger während eines Studienaufenthalts am Institute of Medieval Canon Law in Berkeley (jetzt Kuttner Institute München) in Form von Mikrofilmen eingesehen hat, wobei die Auswahl selbst »dementsprechend von der Verfügbarkeit (und Lesbarkeit) des Filmmaterials abhängig« (S. 22) war.

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Die Untersuchung fokussiert nach Hersperger drei »Kernthemen«: zum einen die Entwicklung der Kanonistik und ihrer Schriften von ca. 1080 bis 1234; zweitens die Superstitionenkritik der spätantiken und frühmittelalterlichen Kirche und drittens die Untersuchung zur Superstitio in der kanonistischen Diskussion von 1140 bis 1234. Hier stellen sich Bedenklichkeiten beim Leser ein, denn das erste »Kernthema«, das allenfalls einen knapp informierenden Status haben sollte und hinsichtlich der Themenstellung kein zentrales Thema sein kann, nimmt nahezu 120 Seiten (von 450) ein. Zwingende Gründe für diese Ausweitung gibt es offenbar nicht, im Gegenteil: ihre Existenz scheint allein dem geschuldet, was ich Herspergers Methode der mehrfachen Durchgänge nennen möchte – und die stellt sich wie folgt dar.

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Nach der Einleitung und dem zweiten Kapitel, das sich auf wenigen Seiten (S. 28–39) dem nicht unwichtigen Aspekt der »Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert« widmet, beginnt die Behandlung des ersten sogenannten »Kernthemas«, die genannte Entwicklung des klassischen kanonischen Rechts von Gratian bis zum ›Liber Extra‹, das mit der Vorstellung einiger Bußsummen endet. Die Anzahl der herangezogenen Quellen ist respektabel, doch Patrick Hersperger war nicht gut beraten, die Textbasis bis zum Schluss der Untersuchung mehrfach unnötig durchzuspielen. So wird im ersten Durchgang (Kapitel 3) die Dekretistik nach Rechtsschulen dargestellt (Bologna, Frankreich, Deutschland, anglo-normannischer Raum), gefolgt von Werken der frühen Dekretalistik – all dies wird jedoch nicht weiter funktionalisiert bzw. prozessiert, die Darstellungsbasis ist eine lediglich deskriptive. Die Kapitel 5 und 6 beschäftigen sich dann (endlich!) mit dem eigentlichen Thema, nämlich der Superstition in den kanonistischen Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts, doch auch hier gibt es überflüssigerweise zwei Durchgänge, einmal die formale Struktur und den »materiellen Aufbau« (Kapitel 5) betreffend, zum anderen eine »inhaltlich-systematische Analyse« (Kapitel 6) – und das heißt: bis einschließlich Kapitel 5 generieren eben nicht thematische Schwerpunkte bzw. priorisierte ergebnisorientierte Fragestellungen die entsprechenden Kapitelüberschriften. Diese folgen stets lediglich der Reihe der gelisteten Quellentexte in der bekannten Unterteilung, was inhaltliche Überschneidungen und Wiederholungen befördert.

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Kernthema: die verschiedenen Arten von Superstitio

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Erst das letzte (!) Kapitel bietet dann eine zumindest in Ansätzen themenzentrierte Aufarbeitung, denn hier werden wenigstens die Superstitionen selbst als das dominierende Gliederungsmerkmal gewürdigt, als da sind: Dämonenvorstellungen, die Wahrsagepraxis des Losens, Astrologie und Observationen, Inkantationen und Phylakterien sowie die Anwendung von Schadenzauber. Überspitzt formuliert: Bis S. 240 hat die Untersuchung in weiten Teilen lediglich den Status von frühen Vorarbeiten, die in erst noch zu formulierende Fragehorizonte bzw. sich hieraus entwickelte Arbeitshypothesen hätten systematisiert und kategorisiert werden müssen. Dass die Untersuchung insgesamt in weiten Teilen an der Oberfläche verbleibt, zeigt sich entlarvend überdies auch dort, wo die Magie als solche (Hersperger spricht u.a. von »Aberglaube«) bzw. im Zusammenhang der Superstitionenkritik der spätantiken und frühmittelalterlichen Kirche (Kapitel 4) grundlegend hätte beleuchtet werden müssen. Wenig systematisiert bedient sich Hersperger hier vor allem bei der einschlägigen Sekundärliteratur, doch das genügt eben nicht, vor allem dann nicht, wenn sie nicht kritisch hinterfragt wird.

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Fehlende Hierarchisierung thematischer Schwerpunkte

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Das weitgehende Fehlen hierarchisierter thematischer Schwerpunkte bzw. Fragestellungen und die flache Grundlegung rächen sich dann auch im eigentlichen Untersuchungskapitel (6), denn hier kommt der Verfasser doch relativ selten über eine eher punktuelle inhaltliche Beschreibung hinaus. Dass unter solchen Vorzeichen die Zusammenfassung am Schluss dann kaum zu neuen Ergebnissen kommt, ist geradezu vorprogrammiert. Eine Ausnahme bildet möglicherweise der Themenkomplex ›impotentia ex maleficio‹, die durch Schadenzauber induzierte Impotenz also, die nach Hersperger nach den ›sortes‹ das zweite Thema darstellen, »welches die Dekretisten ausführlich kommentierten« (S. 450). Auf beides lässt sich Hersperger engagierter ein (Lose, S. 291–359: hier wird wenigstens auch eine eigene Fragestellung formuliert, nämlich jene, unter welchen Umständen ›sortes‹ erlaubt sind; unter ›Malefizium‹ werden der Totenzauber (Totenmesse für lebende Menschen) und der genannte Impotenzzauber subsumiert, S. 394–426; hier kommt Hersperger zu dem Ergebnis, dass sich die Kanonisten »kaum mit Praktiken befassten, die (angeblich) zu einer ›impotentia ex maleficio‹ führten, sondern sich für deren eherechtliche Implikationen interessierten«, S. 454).

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Superstition in der Kanonistik als Spiegel der mittelalterlichen Realität?

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Die Fragestellung zum Schluss, inwieweit die Superstition in der Kanonistik einen Spiegel der Realität darstellte, ist, wenn man z.B. weiß, dass es zigtausende von schriftlich fixierten Beschwörungen gibt, eigentlich eine künstlich generierte. Die Argumentation von Hersperger beschränkt sich denn im wesentlichen auch auf die einfache Beobachtung, dass frevlerische Handlungen – etwa im Zusammenhang mit der Wahrsagepraktik des Losens – durch die Dekretisten regelmäßig verurteilt wurden, und er schließt daraus: »Wären diese Verbote notwendig gewesen, wenn sie jeglicher realer Grundlage entbehrt hätten?« (S. 452). Aussagekräftiger, wenn auch nicht neu, ist dann seine Einlassung, dass sich der mittelalterliche Mensch »bei der Realisierung vorhandener Möglichkeiten der Lebensbewältigung auf einer ständigen Gratwanderung zwischen kirchlich gebilligten Praktiken einerseits und Superstitionen andererseits« befand und dass die »teilweise sehr feinen Unterschiede« (S. 453) kaum zu erkennen waren.

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Doch wie gesagt: Die Materie ist schwierig – und insofern ist Patrick Herspergers Dissertation trotz aller Schwächen mit Nachsicht zu betrachten.