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Der Ausnahme- als Regelfall

  • Bärbel Schrader: »Jederzeit widerruflich«. Die Reichskulturkammer und die Sondergenehmigungen in Theater und Film des NS-Staates 1933-1945. Berlin: Metropol 2008. 672 S. Paperback. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-938690-70-3.
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»Nur wenn wir die Berufs- und Lebenswirklichkeit der von den Kammern erfaßten, verwalteten und beaufsichtigten Menschen in unsere Betrachtung einbeziehen, werden wir ein annähernd richtiges Bild von der tatsächlichen Bedeutung und Funktion der RKK im NS-Staat gewinnen können«, schrieb Volker Dahm 1986 in einem richtungweisenden Aufsatz über die »Anfänge und Ideologie der Reichskulturkammer« 1 . Diesem Ziel ein gutes Stück näher gekommen zu sein, ist das große Verdienst Bärbel Schraders.

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Film, Theater und Musik – Künstler und Funktionäre

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In ihrer monumentalen Studie über die Sondergenehmigungen für künstlerische Tätigkeiten im NS-Staat zeichnet die Autorin ein detailliertes Bild der 1933 durch Joseph Goebbels ins Leben gerufenen Reichskulturkammer. Sie nimmt dabei nicht nur die Institutionengeschichte in den Blick, sondern analysiert eine Vielzahl von Fällen und Vorgängen aus den Bereichen Film, Theater und Musik, die die gesamte Spannweite an Handlungsmöglichkeiten sowohl auf Seiten der Funktionäre als auch der betroffenen »Kulturschaffenden« ausloten.

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Zusätzlich nimmt Schrader auch die Kulturpolitik in Österreich und der Tschechischen Republik ins Visier (Kapitel 5 und 6). Neben den mit jedem »Anschluss« neu entfachten Kompetenzstreitigkeiten brachten die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort und die unterschiedlichen Beziehungen zum Deutschen Reich jeweils eigene Probleme mit sich. Vor allem bereitete es Schwierigkeiten, die Politik der örtlichen Kulturfunktionäre mit dem Konzept des Propagandaministeriums in Einklang zu bringen. Nachdem man im Jahr 1938 die »Kampfzeit« längst hinter sich gelassen hatte, war man hier mittlerweile vorrangig darum bemüht, eine möglichst effiziente Propagandaarbeit mit hoher Breitenwirkung zu leisten (vgl. S. 365).

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Auch wenn Schrader in den ersten beiden Kapiteln über die Gründung und Etablierung der Reichsfilm-, -theater- und -musikkammer keine wesentlich neuen Erkenntnisse zutage fördert, beschreibt sie die Zusammenhänge und Hintergründe mit hoher Prägnanz. So stellt sie beispielsweise fest, dass die Vereinigungen von der Künstlerschaft sehr wohl auch als Aufwertung ihres Berufsstandes im öffentlichen Ansehen eingeschätzt wurden (vgl. S. 126) oder merkt an, dass »[d]ie in der Literatur oft überbewertete Rolle des Reichspropagandaministers als eines Mannes, der an allen Entscheidungen beteiligt war, […] die Sicht auf den Apparat« (S. 94) verdecke. Schließlich seien es in erster Linie die in Ministerium und Kulturkammer tätigen Beamten gewesen, die belastendes Material zusammentrugen, Ausschlussverfahren vorbereiteten und somit für die Bedrohung und Vernichtung künstlerischer Existenzen verantwortlich waren.

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Sondergenehmigungen als »Instrument«?

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Wie Frithjof Trapp bereits im Vorwort des Buches zusammenfasst, stellten die Sondergenehmigungen »offensichtlich nicht so sehr eine Ausnahmeregelung als vielmehr ein Ausgleichsinstrument dar, von dem in vielfältiger Weise und keineswegs nur unter dem Begriff ›Sondergenehmigung‹ Gebrauch gemacht wurde« (S. 13). Als »Kontingentverordnung« für Filmproduktionen, »Befreiungsscheine« für die Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer, zeitlich befristete oder »jederzeit widerrufliche« Sondergenehmigungen etc. wurden sie, so die Erkenntnis der Untersuchung, in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft tausendfach erteilt und dienten somit zur Stabilisierung des Systems (vgl. S. 15).

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Auf Basis einer breiten Quellenlage gelingt es Schrader, »die Verschränkung von Ideologie, Rechtslage und konkreter Handhabe im Detail nachzuvollziehen« (S. 19). Wer einmal die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, sei es durch eigene Unachtsamkeit, falsche Angaben oder infolge einer Routineüberprüfung, der hatte Mühe, sich aus dem engmaschigen Netz aus Verwaltungsstellen des Propagandaministeriums, Paragrafen zum »Schutz« des Vaterlandes, Gestapo-Stellen und Denunziantentum vor Ort wieder zu befreien. Die Zwangslagen, in die die Menschen gerieten, zeitigten häufig Entsolidarisierungserscheinungen und förderten eine Art Einzelkämpfertum. Die Handlungen und Reaktionen reichten dabei von vollständiger Anpassung über Verleugnung von Familienangehörigen bis hin zum Suizid (vgl. S. 17).

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»Da Sondergenehmigungen bei aller offiziellen Handhabung immer als Abweichung von der angestrebten Norm angesehen und behandelt wurden«, konstatiert Schrader, »gab es über eine interne Verständigung zur Verfahrensweise hinaus nur sehr wenige feste Regeln« (S. 226). Fraglich ist allerdings, ob es sich bei dieser offiziellen Handhabung nicht eher um eine offiziöse handelte, die vielmehr nur den Schein einer zielgerichteten Kulturpolitik suggerierte. Sicherlich bestand Goebbels’ grundsätzliches Problem darin, dass er einerseits in letzter Instanz für das Funktionieren seines Apparates und die künstlerische Qualität verantwortlich war und andererseits die Gewähr für die Umsetzung der nationalsozialistischen Rassendoktrin bieten sollte (vgl. S. 33). Ob er jedoch die Ausnahmeregelungen bewusst als ein »Instrument« entwickelte, um sich aus diesem Dilemma zu befreien, ist zumindest diskussionswürdig. Die Unterstellung permanent intentionalen Handelns würde bedeuten, dass es zumindest in der Vorstellung möglich gewesen wäre, die inneren Widersprüche des Systems aufzulösen. Dabei, so hielt bereits Reinhard Bollmus in seiner Arbeit über das Amt Rosenberg als Ergebnis fest, ließe sich ein Großteil der politischen Maßnahmen im Herrschaftsapparat auf »tatsächliche[…] Planlosigkeit« zurückführen. 2

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Und auch die mehrmals ausgesprochenen Verbote einer Doppelmitgliedschaft in den Einzelkammern oder die Anordnung, keine eigenen Eignungsprüfungen im Zusammenhang mit einem Aufnahmeantrag durchzuführen, zeugen letzten Endes auch von der Hilflosigkeit des Propagandaministers, mit den Gegeben- und Gepflogenheiten in den künstlerischen Berufsfeldern fertig zu werden (vgl. S. 293 ff.).

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Fallbeispiele

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Eine Stärke der Studie ist zweifellos, dass die Autorin den individuellen Fällen und Reaktionen der Künstlerinnen und Künstler differenziert nachgeht und sie in gebotener Kürze auch biografisch verortet. Versuche der Einflussnahme mit Hilfe prominenter Fürsprecher, wie zum Beispiel beim Bayreuther Dirigenten Franz von Hoesslin durch Winifred Wagner (S. 575 ff.), werden ebenso skizziert wie der Versuch des Schauspielers und Regisseurs Theodor Danegger, der sich von seiner Mutter ein notariell beglaubigtes Zeugnis ausstellen ließ, dass er nicht der Sohn des als »Volljude« und Kommunist bekannten Schauspielers Josef Danegger sei (S. 600 ff.).

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Wie im Fall Henny Portens deutlich wird, reichten die Druckmittel der Behörden vom persönlichen Einschüchterungsversuch aufgrund fadenscheiniger Vorwürfe bis hin zum Abschluss eines Vertrages, ohne die Schauspielerin anschließend für die gezahlte Gage überhaupt in einem Film einzusetzen. Das alles nur, weil »sie mit einem sogenannten Volljuden verheiratet und in keiner Weise bereit war, sich von ihm scheiden zu lassen« (S. 584).

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Ergänzt und abgerundet wird das Werk Schraders durch drei Biografien, die »von den Schwierigkeiten des Neubeginns« nach 1945 erzählen (S. 613 ff.). Dass die konsequente Anwendung des Ausschlusskriteriums »Mitgliedschaft in der NSDAP« den Bühnenbetrieb ebenso zum Erliegen gebracht hätte und daher nicht erwünscht war, wie vormals die Ausgrenzung aller »Nichtarier«, zählt zu den paradoxen Eigentümlichkeiten der Kulturgeschichte. Hinzu kommt, dass bestimmte Gesetze, wie beispielsweise der homosexuelle Handlungen betreffende Paragraph 175 des deutschen Strafgesetzbuches, zunächst weder von den alliierten Militärregierungen noch von den Nachfolgeregierungen der DDR und BRD angetastet wurden.

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Dass die »Entnazifizierung« Hans Hinkels zwar als Epilog ausgewiesen, jedoch formal ebenfalls unter das Kapitel »Schicksale einzelner Künstler« fällt, ist nur eine winzige Ungeschicklichkeit. Es wäre allerdings wünschenswert gewesen, der weitgehend unerforschten Biografie des ab 1935 fungierenden zweiten Geschäftsführers der Reichskulturkammer und Sonderbeauftragten für die Überwachung der im deutschen Reichsgebiet kulturell tätigen Juden und Nichtarier noch mehr Raum beizumessen. 3

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Fazit

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Bärbel Schrader ist mit ihrer Studie eine sehr gut lesbare, eindrücklich geschriebene Abhandlung gelungen, die sich vor allem durch profunde Rechercheleistung und hohe Prägnanz in der Darstellung auszeichnet. Quantitativ wie qualitativ ist sie ein Meilenstein in der Erforschung der Kulturpolitik des »Dritten Reiches«. Mit Schraders Buch liegt nun ein materialreiches Standardwerk vor, an dem die weitere Forschung auf diesem Gebiet nicht vorbeikommen wird.

 
 

Anmerkungen

Volker Dahm: Anfänge und Ideologie der Reichskulturkammer. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986) 1, S. 53–84, hier: S. 84.   zurück
Vgl. Reinhard Bollmus: Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. 2. Auflage. München: Oldenbourg 2006, S. 250.   zurück
Neben lexikalischen Einträgen und der Erwähnung in nahezu sämtlichen Monografien zum Theater im »Dritten Reich« gibt es über Hinkel bisher lediglich die Skizze Alan E. Steinweis’: Hans Hinkel and German Jewry, 1933–1941. In: Leo Baeck Institute Year Book 38 (1993), S. 209–219.   zurück