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Lauschen auf die mediale Vielfalt der Stimmen

Was Texte und Bilder einander und dem Leser erzählen - und wie es dazu kam

  • Henrike Manuwald: Medialer Dialog. Die 'Große Bilderhandschrift' des 'Willehalm' Wolframs von Eschenbach und ihre Kontexte. (Bibliotheca Germanica 52) Tübingen [u.a.]: Francke 2008. X, 638, 80 S. zahlr. Abb. EUR (D) 148,00.
    ISBN: 978-3-7720-8260-3.
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Fragestellung und Struktur

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Das physisch wie intellektuell gewichtige »Große Buch« Henrike Manuwalds über die in nur wenigen Fragmenten 1 erhaltene »Große Bilderhandschrift« von Wolframs von Eschenbach ›Willehalm‹ 2 und den »medialen Dialog«, den Text und Bild darin miteinander führen, ist die überarbeitete Fassung ihrer von Ursula Peters betreuten Kölner Dissertation aus dem Jahr 2006. Die Autorin ist für das Thema in besonderer Weise prädestiniert, denn sie nähert sich als Germanistin und Kunsthistorikerin ihrem Stoff im besten Sinne interdisziplinär.

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Methodisch klar und dem Thema angemessen strukturiert sie ihre mit mehr als 600 Seiten außerordentlich umfangreiche Arbeit in zwölf Kapitel sowie einen Dokumentations- und Tafelteil: Zunächst werden die Grundlagen geklärt und dabei auch methodologische und kodikologische Aspekte behandelt. Dann folgen die Kapitel zum Text, den Bildern, ihrem Verhältnis und zu »Mediale[n] Übersetzungsprozesse[n]«, worin die Perspektive von der Analyse der Fragmente hin zu systematischen produktions- und rezeptionsästhetischen Fragestellungen geöffnet wird. Schließlich werden übersichtlich die unterschiedlichen Kontextualisierungen der Fragmente ins Visier genommen, nämlich in Bezug auf die kodikologischen Merkmale der ›Großen Bilderhandschrift‹, ihre Bildersprache , ihren Kontext mit Handschriften aus demselben ›Werkstattzusammenhang‹ und mit illustrierten Handschriften aus derselben Region. Die Zusammenfassung beschreibt die »›Große Bilderhandschrift‹ als komplexes Zeichensystem«.

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Themen und Thesen

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Selbstständigkeit oder Abhängigkeit – von der Text-Bild-Relation

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Im Folgenden ziehe ich die argumentativen Hauptlinien nach – angesichts des großen Umfangs und der Komplexität der Untersuchung scheint mir dieses Vorgehen angemessen 3 . Die »Einleitung« (Kapitel 1) geht vom locus classicus der neuzeitlichen Beschäftigung mit der Relation zwischen Dichtung und bildender Kunst aus, von Lessings ›Laokoon‹, und formuliert eine zentrale These der Abhandlung: Selbstständigkeit der Bilder und ihre Abhängigkeit vom Text schlössen sich nicht aus und müssten bei der Klärung der Relation zwischen beiden Medien gleichermaßen berücksichtigt werden. Das gelte auch für das höchst komplexe Text-Bild-Verhältnis in der ›Großen Bilderhandschrift‹. Der um 1270/75 im Raum Quedlinburg entstandene Codex stelle allein schon wegen seiner ursprünglich etwa 1300 Bilder eine Ausnahmeerscheinung unter den deutschsprachigen illustrierten Handschriften dar.

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Manuwald möchte verstehen, ob die beiden Illustratoren den Text als Vorbild lediglich in Bilder übersetzten – wobei der verbildlichten Erzählerfigur als »Zeichen der Zwischenstellung von Literatur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit« (S. 10 f.) bekanntlich eine wichtige Rolle zukommt –, oder ob sie durch »mediale Transformationen und interpretatorische Entscheidungen eine eigene Fassung der Willehalm-Geschichte geschaffen« (S. 3f.) haben, die »in einen Dialog zum Text tritt« (S. 4). Ferner fragt sie nach den »medialen Übersetzungsprozessen« (S. 4), die das Text-Bild-Gefüge vom Rezipienten einfordere, und ob die »Rezeptionsanforderungen historisch kontextualisierbar« (S. 4) seien. Der Dialog vollzieht sich nicht nur auf Produktionsebene zwischen Illustrator und Text, nicht nur zwischen Text und Bild, sondern bekanntlich im Rezeptionsakt: »Die dialogische Interaktion zwischen den Zeichenordnungen ›Text‹ und ›Bild‹ findet im Rezipienten statt, wobei die Art der Sinnbildung von dessen jeweiligem historischen Standpunkt mit beeinflusst wird« (S. 29). Zunächst müsse aber das »Text-Bild-Verhältnis in den Fragmenten auf der Grundlage einer kodikologischen, germanistischen und kunsthistorischen Gegenstandssicherung differenziert« (S. 4) beschrieben werden. Solide und informativ ist schließlich der in der »Einleitung« platzierte Forschungsüberblick, der zugleich Desiderate benennt.

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Theorie

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Die »Methodologischen Überlegungen« (Kapitel 2) vertiefen die eingangs angerissenen Fragen und erläutern das gewählte Vorgehen bei der Analyse der konkreten Relation zwischen Text und Bild sowie Sprache und Bild in der ›Großen Bilderhandschrift‹. Text und Bilder werden als »selbstständige mediale Ausdrucksformen« (S. 18, Anm. 4) begriffen, die durch »Verweiszeichen« (S. 18) miteinander verbunden sind und im Verhältnis der »Interreferenz« (S. 18) zueinander stehen. Am Beispiel der differierenden Auffassungen des Begriffes »Illustration« zeigt Manuwald eine generelle terminologische und methodische Unsicherheit der Text-Bild-Forschung auf (S. 18 f.).

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Die Forschungsfelder der »studies of the manuscript book«, der »new codicology« oder »material philology« hätten in Bezug auf die Text-Bild-Forschung immer wieder zeigen können, dass Bilder selbstständig den Stoff interpretieren. Notwendig ist Manuwalds Erweiterung der Diskussion der konkreten Text-Bild-Thematik auf den Komplex der Visualität von Texten, evozieren doch Texte innere Bilder im Rezipienten, die neben die konkreten, einzelne Texte begleitenden Illustrationen treten. Manuwald formuliert in einem ausgewogenen wie vorsichtigen Urteil entgegen der attraktiven Vision Wenzels einer »Poetik der Visualität« die Hypothese, dass sich die »vielfältigen Erscheinungsformen von Bildlichkeit gerade nicht auf einen Nenner bringen« (S. 22) ließen. Es sei zwar schwierig, unterschiedliche fachwissenschaftliche Zugänge auf die Text-Bild-Forschung unter einem gemeinsamen Konzept zu vereinigen, dennoch ließen sich methodische Perspektiven aus der kunsthistorischen Erzählforschung oder aus der Semiotik entwickeln, »frei von Rivalitäten zwischen Text und Bild über die spezifischen Eigenschaften des jeweiligen Mediums transdisziplinär nachzudenken« (S. 24 f.).

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Die Problematik der Anwendung semiotischer Untersuchungsmethoden bestehe allerdings bereits in der unzureichenden Verständigung über deren terminologische und methodische Prämissen. Manuwald gelingt es gut, semiotische Analyseansätze aus unterschiedlichen Disziplinen in ihrer jeweiligen Entwicklung und möglicher Anwendbarkeit für die Text-Bild-Forschung zu diskutieren, sie entscheidet sich aber bei ihrer Untersuchung der ›Großen Bilderhandschrift‹ für einen pragmatischen Ansatz, der Bilder wie Sprache als semiotische Systeme versteht. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass grundsätzliche Fragen zur Text-Bild-Relation in der ›Großen Bilderhandschrift‹ bisher nicht behandelt wurden, wenn die Forschung auch bereits früh feststellte, dass in den auf das Wesentliche beschränkten Bildern nichts dem Zufall überlassen (S. 29) und ihre Struktur derjenigen der Sätze vergleichbar sei. Zuzustimmen ist Manuwalds Kritik der von der Forschung oftmals unbewusst gesetzten Prämisse, »neben einen narrativen Text platzierte Bilder müssten ebenfalls narrativ sein« (S. 31) – wann aber sind Bilder wirklich »narrativ«? Manuwald bezieht sich für die Text-Bild-Relation auf einen weiter gefassten Übersetzungsbegriff und gelangt – nach differenzierter theoretischer Skizze der unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten von Text und Bild – zu der gleichwohl nicht neuen Erkenntnis, dass »bei einer intermedialen ›Übersetzung‹ der Stoff wegen der unterschiedlichen Eigenschaften der Medien in jedem Fall (durch eine interpretierende Instanz) neu organisiert werden muss« (S. 37).

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Das Methodenkapitel schließt mit einem Abschnitt über die »Narrativität von Bildern«, wo sie die seit Lessings ›Laokoon‹ intensiv diskutierte, in der Kunstgeschichte bisher nicht gelöste Frage referiert, wie Temporalisierung in nicht bewegten Bildern realisiert werde und ob Narrativität nur durch Temporalisierung möglich sei. Manuwald plädiert für den methodischen Ansatz einer »kognitiven Narratologie« (S. 39), die die Kriterien für Narrativität auf die kognitiven Voraussetzungen des Rezipienten bezieht. Dieser müsse »anhand von bildimmanenten Indizien oder Vorwissen die Lücken zwischen den einzelnen abgebildeten Stationen in seiner Vorstellung ausfüllen« (S. 43), so dass die Bilderfolge einen Bedeutungsgehalt gewinne, »der über die Summe der Bedeutungen der einzelnen Bilder« (S. 43) hinausgehe. Narrativität sei daher keine der Bilderfolge innewohnende Qualität, sondern gleichermaßen gesteuert vom Rezipienten und vom jeweiligen Rezeptionskontext. Nach der Darlegung unterschiedlicher disziplinärer Ansätze zu Narrativität formuliert Manuwald die These, dass narrative und deskriptive Elemente in einem Bild gemeinsam auftreten könnten (S. 46), und plädiert für das von Gerald Prince für Texte entwickelte Modell verschiedener Grade von Narrativität auch in Bezug auf Bilder (S. 46).

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Mit der ausdrücklichen Betonung ihres »methodischen Vorbehalts« (S. 53) nimmt Manuwald ihren Kritikern sehr besonnen den Wind aus den Segeln: Die auf nur zehn Blättern erhaltenen 55 Bilder stellen ja nur einen Bruchteil des ursprünglich auf etwa 1300 Miniaturen geschätzten Bildzyklus dar. In der ›Großen Bilderhandschrift‹ sind Illustrationen also nur zu etwa einem Zwanzigstel des ›Willehalm‹-Textes erhalten, der Textbestand selbst ist mit nur etwa einem Dreißigstel des Gesamttextes sogar noch geringer (S. 87). Eine »Resignation indessen angesichts des Fragmentcharakters« (S. 53) ist jedoch Manuwalds Sache nicht: Sie erhofft sich mit aller Vorsicht aus dem möglichen Nachweis einer konsistenten Illustrationsweise einen Erkenntnisfortschritt – was ihr mit großer Umsicht und Präzision gelingt.

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Kodikologie

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»Kodikologische Aspekte« (Kapitel 3) betreffen die Rekonstruktion des Herstellungsprozesses der Handschrift und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen. Die Informationen über Fundort und Herkunft der zehn großformatigen, gotischen Makulaturblätter aus der ›Großen Bilderhandschrift‹ weisen in den Raum Meiningen, Wernigerode, Halberstadt oder allgemein nach Sachsen. Wenn sich auch der Gesamtumfang der Handschrift nicht mehr sicher rekonstruieren lasse, habe der ›Willehalm‹-Text 27 Quaternionen, das heißt 216 Blätter, gefüllt und sei der einzige Text der Handschrift gewesen. Innerhalb der zweispaltigen Anlage dominieren im Layout die jeweils außen liegenden Bildspalten mit drei Bildern pro Seite optisch die beiderseits der Mittelfalz liegenden Textspalten. Es folgt die allgemeine Bildbeschreibung der in drei, zuweilen auch nur in zwei Registern übereinander platzierten, rahmenlosen Federzeichnungen von zwei unterschiedlichen Illustratoren.

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In ihrer kodikologischen und paläographischen Analyse schließt sich Manuwald weitgehend den Ergebnissen ihrer Vorgänger an (Karin Schneider, Susan Noakes) und bestätigt die bereits von Ulrich Montag formulierte Vermutung, dass es sich bei der ›Großen Bilderhandschrift‹ nicht um die Kopie einer Vorlage handele, sondern um ein originäres Konzept, dessen zuvor festgelegter Gesamtentwurf von unterschiedlichen Illustratoren mit einem gewissen Gestaltungsspielraum umgesetzt wurde.

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Philologie

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Nach der kodikologischen Analyse widmet sich Manuwald zunächst dem Text (Kapitel 4). In der Frage der Gattungszugehörigkeit des ›Willehalm‹ findet sie die komplexe Definition vom »höfischen Roman mit historischem Stoff und legendenhaften Zügen’ (S. 77). Als Zeichen für die außerordentliche Wirkung des ›Willehalm‹ insbesondere im mitteldeutschen Gebiet seien nicht nur die Fortsetzung (Ulrich von Türheim, ›Rennewart‹) und die Vorgeschichte (Ulrich von dem Türlin, ›Arabel‹) zu interpretieren, sondern auch die Tatsache, dass es sich bei diesem Text um das am reichsten überlieferte höfische Epos handelt – oft gerade als Trilogie mit den erwähnten Texten. In der ›Großen Bilderhandschrift‹ wurde der ›Willehalm‹ allerdings sehr wahrscheinlich als Einzeltext überliefert.

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Die Frage nach der Gattungszugehörigkeit des ›Willehalm‹ möchte Manuwald auch durch die Deutung der Ausstattung der ›Großen Bilderhandschrift‹ beantworten. Der Text sei häufiger als andere höfische Epen illustriert worden, die einzelnen Bildprogramme aber unabhängig voneinander. Den Ausstattungstyp der illustrierten ›Willehalm‹-Handschriften vergleicht sie mit Chronik- und Epenhandschriften (S. 86). Den singulären Illustrationstyp der ›Großen Bilderhandschrift‹ möchte Manuwald als »eine Form der Reaktion auf bestimmte Gattungszüge und/oder Kontextualisierungen des Textes deuten lassen« (S. 87). Leider nur in einer Fußnote versteckt sie ihre Erkenntnis, dass ein Gesamtvergleich der Ausstattungstypen und Bildprogramme anderer illustrierter ›Willehalm‹-Handschriften mit der ›Großen Bilderhandschrift‹ zwar rezeptionsgeschichtlich interessant sei, jedoch keine unmittelbaren Erkenntnisse für die Konzeption der ›Großen Bilderhandschrift‹ bringe – daher würden diese nur zu ihrer Kontextualisierung heran gezogen (S. 87, Anm. 90). Hilfreich ist die vorgenommene »inhaltliche Einordnung der zu den erhaltenen Fragmenten gehörigen Textpartien«, die zentrale Themen und Motive des Werkes berührt und die der Leser von Manuwalds Arbeit gerne als Erinnerungsstütze für ihre spätere Analyse der Bilder nutzt. Dabei wird auch der nicht in den Fragmenten erhaltene Text zusammengefasst (S. 87–95).

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Methodisch präzise unternimmt Manuwald anschließend den nächsten Schritt, indem sie die Textversion der Fragmente untersucht – aber auch hier in realistischer Einschätzung der Schwierigkeit auf Grund des geringen Textumfangs. Als Referenz für ihren Vergleich legt Manuwald die ›Willehalm‹-Edition Heinzles nach dem Codex Sangallensis 857 (G) zu Grunde. Besonders wichtig sind diejenigen Stellen, an denen inhaltliche Abweichungen vom edierten Text in der ›Großen Bilderhandschrift‹ unmittelbare Konsequenzen für die Illustrationen haben. Hier identifiziert Manuwald mit genauer Beobachtung Beispiele aus den Bereichen Syntax, Semantik und Sinnstruktur des Textes, die beispielsweise in einem negativen Tybalt-Bild in der ›Großen Bilderhandschrift‹ im Vergleich zur Ausgabe deutlich werden. Insgesamt aber stelle der Text der ›Großen Bilderhandschrift‹ keine eigene Fassung dar, in der eine Textvorlage in bestimmter Weise neu interpretiert wurde (S. 95 ff).

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Die Analyse der schreibsprachlichen Merkmale der ›Großen Bilderhandschrift‹ darf als einziges zuverlässiges Lokalisierungskriterium angesehen werden. Manuwald bestimmt die Schreibsprache als »hybride Mischung ostmitteldeutscher und niederdeutscher Formen« (S. 115) und schließt sich einerseits der Beobachtung Hartmut Beckers an, der niederdeutsche Schreiber habe eine hochdeutsch geprägte Vorlage kopiert, wobei er sich am Thüringischen orientierte. Andererseits behalte Karl v. Amira Recht, der Nordthüringen als Entstehungsgebiet der ›Großen Bilderhandschrift‹ bestimmt hat, wobei Manuwald die niederdeutschen Züge durch die Annahme der Entstehung im Ostfälischen oder Elbostfälischen im Dreieck Halle – Magdeburg – Halberstadt erklären möchte (S. 115).

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Im nächsten Schritt ihrer Textanalyse wendet sich Manuwald der »narratologischen Analyse der zu den erhaltenen Fragmenten gehörigen Textpartien« (S. 117–131) zu. In einer behutsam vorgenommenen strukturalistischen Analyse im Sinne der Systematik Gérard Genettes analysiert sie den Text in seiner Bedeutung für die Bilder, wie etwa in Bezug auf Zeitstruktur, Makrostruktur, Mikrostruktur und Erzählperspektive. Besonders spannend ist Manuwalds Beschäftigung mit der »Visualität und Zeichensysteme im Text« (S. 313 ff.). Sie zeigt auf, dass es Wolfram gelingt, durch charakterisierende Figurenbeschreibungen, Gebärden und Körperbewegungen und sprachliche Bilder in besonderer Weise das visuelle Vorstellungsvermögen des Lesers anzusprechen und dadurch gezielt die Rezeption zu lenken.

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Kunstgeschichte

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Im fünften Kapitel »Bilder« konzentriert sich Manuwald auf den Partner im »medialen Dialog«. Zunächst werden die formalen Prinzipien der Bildanlage besprochen, danach die einzelnen Bilder analysiert. Trotz fehlender Bildbegrenzungen erkennt Manuwald eine klare Strukturierung der Bildspalten innerhalb eines »gedachten« (S. 165) querrechteckigen Rahmens. Im Grundtypus werde zwischen den Bildern ein schmaler Pergamentstreifen frei gelassen. In Komposition und Bildraum stehe das Prinzip der Isokephalie für das durch beide Illustratoren verfolgte Charakteristikum strenger Symmetrie. Die hintergrundlosen Bilder verzichten auch weitgehend auf architektonische oder naturräumliche Requisiten, Architektur werde rein bildfunktional eingesetzt (S. 170) – im Zentrum stehen immer die Figuren. Die Bilder ließen sich nicht auf eine gemeinsame Leserichtung festlegen, da die Kompositionen in der Regel zentriert seien.

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Interessant ist Manuwalds Befund, dass der zweite Illustrator eine andere Raumauffassung vertrete, indem er seine Figuren auf Bodenstücken platziere und der perspektivischen Darstellung größere Aufmerksamkeit widme. Dennoch weiche seine Auffassung »nicht grundsätzlich von der des ersten Illustrators ab« (S. 172). Im Hinblick auf den Umgang mit Plastizität und Figurenstil seien beispielsweise die Gesichter der Figuren der beiden Illustratoren deutlich zu unterscheiden, insgesamt aber – so Manuwalds schlichtes Fazit ihrer differenzierten stilistischen Beobachtungen – unterscheiden sich die Figurenkonzepte beider Illustratoren nur unwesentlich. Der Umgang mit der Figurenausstattung in der ›Großen Bilderhandschrift‹ lasse sich jedoch »nicht auf einen Nenner bringen« (S. 237): Einige Figuren, wie Rennewart mit seiner Stange, zeichnen sich durch Kontinuität aus, andere, wie Willehalm, zeigen eine wechselnde Physiognomie. Die Hauptfiguren besitzen also keine durchgängig gleich bleibende Kennzeichnung durch Kleidung und Attribute, die Nebenfiguren noch viel weniger. Hinsichtlich der Farbgebung der Gewänder sei auch mit schlichter Freude an variierender Farbigkeit zu rechnen.

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Ihr nächster Schritt ist die Analyse der Bildersprache, das heißt der in den Bildern verwendeten Ausdrucksmittel. Diese wird von den in der Regel nicht individualisierten Figuren getragen. Dass etwa über Kleidung, Rüstungen und Herrschaftsinsignien Figuren bestimmten Gruppen zugeordnet werden, mag nicht verwundern – für den Manuwald interessierenden »medialen Dialog« ist jedoch interessant, dass durch »Kleidergesten« (S. 191) die Emotionen der Figuren für den Rezipienten visualisiert werden. Für die Verwendung der Farben stellt Manuwald zwar allgemeine Tendenzen fest, die jedoch keine normative Verallgemeinerung zulassen.

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Interessant ist Manuwalds Analyse der »syntaktischen Zuordnung der Bildelemente« (S. 202). Die Hierarchisierung durch die Komposition schaffe den Rahmen für die Interaktion zwischen den Figuren, die beispielsweise durch »Vektoren« – angedeutete Blick- und Bewegungsrichtungen – realisiert würden. Sind die Figuren dem leeren Zentrum eines Bildes zugewandt, könne dieses Zentrum zur Bildmitte werden. Im Vergleich zum ersten Illustrator neige der zweite zu einer eher statischen Figurenkonzeption. Neben der kompositorischen Platzierung in der Bildfläche seien die Raumangaben – Architekturelemente und Requisiten – für die Zuordnung der Figuren entscheidend. Insgesamt seien die Illustrationen durch Wiederkehr immer gleicher Bildformeln geprägt

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Manuwald wählt sinnvoll den Begriff »Bildserie« (S. 226) für die Gesamtheit der Bilder der ›Großen Bilderhandschrift‹, während sie von »Bildsequenzen« bei den Einzelbildern spricht, hält aber auch Kurt Weitzmanns Terminologie der »zyklischen Illustrationsweise« für anwendbar. Bezogen auf die Frage der Narrativität der Bilder erweisen einheitliches Format und geregelte Abfolge die Einzelbilder als Bilderzählung: »Inwiefern weisen die Illustrationen als solche aber narrative Züge, insbesondere eine zeitliche Dimension, auf? Lässt sich eine Erzählinstanz erkennen?« (S. 228 f.) Manuwald geht von den Einzelbildern aus, um dann ihre funktionelle Einbindung in die Sequenzen zu untersuchen. Sie spricht von »Monophasen-Bildern« (S. 229), bei den Schlachtenbildern handele es sich um »Handlungsbilder« mit Parallelhandlungen, die einen hohen Grad an Narrativität besitzen. Die »Rede-Bilder« (S. 231) seien inhaltlich meist auf zwei Aspekte derselben Sache konzentriert. Teleologische Gerichtetheit erhöhe die Narrativität (S. 238, Anm. 368) – hier sei die ›Große Bilderhandschrift‹ jedoch uneinheitlich. Die Bilder seien von einer Instanz entworfen, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf bestimmte Aspekte lenken wolle (vgl. S. 240).

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Text und Bild

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Die Betrachtung des »Verhältnisses von Text und Bildern« (Kapitel 6) erfolgt in mehreren Schritten: Der »strukturelle Vergleich« arbeitet zunächst das Erfassen der Zeit heraus. Entgegen dem Text können die Bilder mehrere parallele Handlungen zeigen, wenn auch die Integration verschiedener Handlungen in einem Bild nur begrenzt möglich sei. Insgesamt lassen sich zahlreiche Korrespondenzen zwischen Zeitstruktur des Textes und der Bilder festmachen: »Die Bilder begleiten den Text in einer weitgehend linear angelegten Szenenfolge mit Vor- und Rückverweisen. Der Ausführlichkeit der Bilderfolge gemäß konzentrieren sich die Bilder nicht nur auf dramatische Momente, sondern zeigen auch kleinschrittige Handlungsfolgen und gelegentliche Zustandsbilder« (S. 248).

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Die Erzählerinstanz sei in Text und Bild gleichermaßen ausgeprägt: Die visualisierte Vermittler-Figur des Erzählers stelle das mündliche Erzählen im Bild vor, das der fingierten Mündlichkeit an diesen Textstellen entspreche. Die Erzähler-Figur habe eine erläuternde Funktion und erscheine immer dann, wenn ihre »interpretierende Vermittlung der story im Text artikuliert wird« (S. 251). Die Erzähler-Figur eröffne im Bild Aspekte, die über die bloße Visualisierung einer narratologischen Kategorie hinausgingen.

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Bei ihrer Analyse der Fokalisierung und Fokussierung kommt Manuwald unter anderem zu dem Ergebnis, dass eine generelle Fokussierung auf die Träger der Haupthandlung zu beobachten sei. Neben den inhaltlichen und strukturellen Korrespondenzen untersucht sie auch die räumliche Anordnung von Text und Bild innerhalb des Layouts. Ganz offensichtlich wurden die Illustrationen nach ganz bestimmten formalen Kriterien gestaltet, an die sich beide Illustratoren gebunden fühlten; beide reagieren ähnlich sensibel auf Textstrukturen (vgl. S. 259)

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Bei der Gegenüberstellung der »Visualität des Textes und die Bilder« betrachtet Manuwald die »Descriptio des Textes und die Präsentation von Figuren und Raum in den Bildern« (S. 260) in Gestalt der »Figuren und ihre Ausstattung«, die »Gebärden und Körperbewegungen« (S. 266 ff.), »Örtlichkeiten« (S. 268 ff.), »sprachliche Bilder des Textes und die materiellen Bilder« (S. 270 ff.), die »Thematisierung von Blicken« (S. 272 ff.), »Sehen und Erkennen: Die Adressaten der Zeichen« (S. 275ff.), »Ausfüllen visueller Leerstellen des Textes in den Bildern« (S. 276 ff.) sowie »Text und Bilder als konkurrierende Zeichensysteme« (278 ff.). Manuwald beobachtet dabei das Prinzip, dass »gerade die ›visuellen Widersprüche‹ zum Text dadurch entstehen, dass in den Bildern ein eigenes System von Ausdrucksmitteln verwendet wird« (S. 262).

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Ferner beschäftigt sie sich ferner mit den Adressaten der visuellen Zeichen, da diese sowohl für den Rezipienten angelegt seien als auch thematisiert werde, »wie Figuren Zeichen verstehen und welche Probleme dabei auftreten« (S. 275). Beispielsweise sei der Stern über Willehalms Kopf für den Betrachter gemacht, nicht aber für die anderen Figuren. Prinzipiell könnten visuelle Leerstellen des Textes in den Bildern gefüllt werden. In der Visualisierung des Religionsgesprächs habe der Illustrator Informationen aus anderen Textstellen herangezogen. Manuwald formuliert schließlich eine Erkenntnis, die wir auch an anderen Bildhandschriften haben gewinnen können:

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Inwieweit generell kulturelles Wissen der Illustratoren bei der visuellen Konkretisierung eine Rolle gespielt hat und inwieweit sie sich an bereits existierenden Bildkonventionen orientiert haben, lässt sich im Einzelfall oft nicht mehr mit Sicherheit entscheiden. (S. 278)
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In einem der wichtigsten Abschnitte ihres Buchs unternimmt es Manuwald, die von Werner Koller benannten »Äquivalenzrelationen« zwischen Text und Bild zu beschreiben. (S. 294 ff.) Sie kritisiert den in der Forschung zur ›Großen Bilderhandschrift‹ etablierten Gegensatz zwischen Textoberfläche, die nach Norbert H. Ott und Michael Curschmann Gegenstand der Illustration sei, und der Handlung. Als Hauptargument für die Orientierung der Bilder an der Textoberfläche diene zumeist die Repräsentation einer Erzählerfigur. Der Erzähler werde aber – so Manuwald – offenbar nur an ausgewählten Stellen ins Bild gesetzt und gewinne dadurch eine uneingeschränktere Kompetenz als im Text.

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Die »Übersetzungseinheiten« (S. 295) seien weder Worte, Sätze oder Mikrostrukturen der Erzählung, sondern Erzählabschnitte. Dadurch erweisen sich die Bilder in ihrer Narrativität dem Text als adäquat. Diese Äquivalenzrelationen zwischen Text und Bild können jedoch keineswegs auf einen Nenner gebracht werden, sondern lassen sich »als medialer Dialog definieren« (S. 296) – ein Konzept, das Manuwald programmatisch in den Titel ihrer Studie aufgenommen hat.

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Mit Verdoppelung, Widerspruch und Ergänzung sind wesentliche Aspekte des Verhältnisses zwischen Text und den Bildern in der ›Großen Bilderhandschrift‹ beschrieben: Text und Bild stehen als verschiedene Fassungen derselben Geschichte nebeneinander. Die Bilder sind zwar räumlich dominant, durch die Verweisbuchstaben aber eindeutig als Ergänzung zum Text gekennzeichnet. (S. 297)
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Wie Kommentarbemerkungen liefern Bilder komplementäre Informationen zum Text, betonen und werten diesen. Der Rezipient müsse schließlich Text und Bilder in der ›Großen Bilderhandschrift‹ zu einer ›Willehalm‹-Geschichte zusammen bringen.

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Dennoch zeuge das Bildprogramm von einer sehr guten Textkenntnis des oder der Entwerfenden, da die Bildszenen strukturell und inhaltlich relevante Aspekte des Textes sowie einzelne Formulierungen erfassen und detailliert umsetzen. Beide Illustratoren hätten sich nach Vorgaben gerichtet, kannten aber möglicherweise auch den Text. Dieser wurde in den Bildern jedoch nicht Wort für Wort nachvollzogen, sondern die medienspezifischen Ausdrucksmöglichkeiten des Bildes systematisch genutzt.

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Medialer Dialog

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Im Kernabschnitt der Studie »mediale Übersetzungsprozesse« (Kapitel 7) konzentriert sich Manuwald erneut auf rezeptionsästhetische Überlegungen. Die Bilder, die durch ihre Position auf den Seiten dominant seien, sich andererseits auf das Wesentliche konzentrierten, seien sicher keine »Lesehilfe« für ungeübte Leser oder für illiterati gewesen. Vielmehr müsse der ideale Rezipient eine »visual literacy« beziehungsweise »cultural literacy« besessen haben. Der Rezeptionsprozess sei daher als gemeinsame Rezeption von Text und Bild, als »wiederkäuende« (S. 305) Lektüre im Sinne der monastischen Tradition zu verstehen. Dazu treten noch die mentalen Bilder, die den materiellen gegenüber stehen. Interessant ist Manuwalds Hinweis auf die »visuellen Widersprüche« (S. 307), die beispielsweise dadurch entstehen, dass die Bilder die Heiden im Gegensatz zum Text abwerten: Musste der Rezipient daher beide Erzählungen gegeneinander abwägen? Wie kam er zu seiner Entscheidung?

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Für die Deutung der ›Großen Bilderhandschrift‹ und ihre Einordnung in den Kontext mittelalterlicher Rezeptionskonzepte zieht Manuwald die mittelalterliche Vorstellung heran, dass die sinnliche Wahrnehmung durch das Auge beim Lektüreakt nur den ersten Schritt der intellektuellen Erkenntnis darstelle: »Überträgt man ein solches Modell auf die Rezeption der GB, heißt das, dass mit der doppelten Stimulierung der ›äußeren Sinne‹ durch Text und Bild bloß der erste Schritt getan ist. Mit Hilfe der imaginatio wären dann Text und Bild von den ›inneren Sinnen‹ des Betrachters so zusammenzubringen, dass sich die tiefere Sinnschicht, auf die sie verweisen, herauskristallisiert. In einem solchen Prozess der Semiose könnten visuelle Widersprüche, etwa was die Ausstattung der Figuren angeht, ausgeglichen werden, indem die Äußerungen in beiden Zeichensystemen auf ein Konzept (wie Rennewarts Stellung zwischen Christen und Heiden) zurückgeführt werden. Die Wahrnehmung interpretatorischer Unterschiede zwischen Text und Bildern wäre damit keineswegs ausgeschlossen« (S. 312). Allerdings lasse sich natürlich keineswegs nachweisen, dass Wahrnehmungstheorien bei der Konzeption der Handschrift überhaupt eine Rolle gespielt haben:

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Sie mögen mit eingeflossen sein, vielleicht orientierte man sich bei der Anlage der GB auch einfach an anderen Handschriften. Jedenfalls stellen im Resultat die Handschriftenseiten der GB mit ihrer medialen ›Doppelung‹ nach den skizzierten Wahrnehmungstheorien eine besonders eindringliche Form der Vermittlung dar. Text und Bild, die auf der Handschriftenseite zwar dicht nebeneinander stehen, aber letztlich nur abwechselnd rezipiert werden können, fordern den Rezipienten zu einem emotional Anteil nehmenden, vertiefenden Nachdenken über den Stoff auf. (S. 312)
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Kontext Kodikologie

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Ohne vergleichende Erforschung einzelner thüringisch-sächsischer Skriptorien ist auch für Manuwald eine konkrete Verortung der ›Großen Bilderhandschrift‹ nicht möglich. Daher konzentriert sie sich im achten Kapitel auf die Analyse kodikologischer Befunde für den dem ›Willehalm‹-Text zugemessenen Status sowie für die Illustrationstechnik. Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die mise en page stellt sie fest zu den Codices picturati des ›Sachsenspiegels‹ und zu Psalterien – gleichwohl sei auch ohne die Identifizierung konkreter Vorbilder oder Parallelen für das Layout »nachvollziehbar, wie es aus den verschiedensten Traditionen heraus entwickelt worden sein könnte.« (S. 320) In ähnlicher Weise seien die Verweiszeichen, die Text- und Bildspalte durch Wiederholung der Abschnittsinitialen im Bild eng aufeinander beziehen, einerseits aus der »speziellen Situation eines Bilderkommentars« (S. 321) heraus erklärbar, andererseits aber auch in byzantinischen Parallelen greifbar. Diese könnten auch von Rechtshandschriften wie den ›Sachsenspiegel‹-Codices übernommen worden sein.

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Die kommentierende Illustrationstechnik mit Bildern auf den Seitenrändern wird mit Hella Frühmorgen-Voss als »Illustrationszeichnung« bezeichnet, die offenbar einen bestimmten »Illustrationswillen« (S. 326) ausdrücke. Es gebe neben festen Illustrationstraditionen für bestimmte Textsorten auch immer die »Möglichkeit, den Modus der Illustrationszeichnungen auf andere Arten von Texten zu übertragen.« (S. 326). Manuwald vergleicht die ›Große Bilderhandschrift‹ mit weiteren Handschriften und macht byzantinische Einflüsse aus dem italienischen Raum aus, denkt aufgrund der großen Bilderzahl an die didaktischen ›Bibles moralisées‹, aber auch an weltliche Texte mit historischen Stoffen wie Chroniken oder literarische Texte mit historisch-chronikalischen Inhalten. Neben der absoluten Bilderzahl müsse aber die Bilderdichte beurteilt werden. Der ›Willehalm‹-Text sei wegen seiner historischen und hagiographischen Elemente besonders prädestiniert für eine reiche Bebilderung. Anzahl, Größe und Kolorierung der Bilder, normative Schrift, Anknüpfung an Traditionen der Bilderzählung und der Kommentarillustration signalisieren das außerordentlich hohe Anspruchsniveau der Handschrift.

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Kontext Bildersprache

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Auch bei der »Kontextualisierung der Bildersprache der ›Großen Bilderhandschrift‹« (Kapitel 9) verzichtet Manuwald darauf, konkrete Vorlagen nachweisen zu wollen:

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Stattdessen soll mit Hilfe von Analogien zu bestimmten Phänomenen in der Bildersprache der GB nachvollziehbar gemacht werden, inwiefern sich die Illustratoren eventuell eines bereits vorhandenen ›Vokabulars‹ bedienten und welche Konnotationen für einen geübten Betrachter mit entsprechenden semiotischen Kompetenzen mitgeschwungen haben mögen (S. 333).
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Charakteristisch seien die allgemein verbreiteten »Abbreviaturen« der Bildelemente in den Illustrationen, indem nur die wesentlichen Züge eines Bildgegenstandes visualisiert sind. Weiter analysiert Manuwald die Darstellung von Redegegenständen wie Spruch- oder Schriftbänder oder das Nebeneinander von Sprecher und Redegegenstand. Sie betont, , dass es wegen der großen Bedeutung der Gesten in der mittelalterlichen Kunst nicht möglich sei, die Gesten der ›Großen Bilderhandschrift‹ ausschließlich von den Rechtsgebärden in den Bildhandschriften des ›Sachsenspiegels‹ herleiten zu wollen (S. 351). Die Gesten der die Wahrheit des Erzählten verbürgenden Erzähler-Figur unterzieht sie indessen einer besonderen Betrachtung, indem sie sie mit der Vermittler-Figur in der Heidelberger Handschrift des ›Welschen Gastes‹ vergleicht. Die Koexistenz verschiedener Realitätsebenen im Bild (in Gestalt des Nebeneinanders von Erzählerfigur und handelnden Figuren) sei auch bei der Wiedergabe der sprachlichen Bilder zu beobachten (S. 363). Abschließend formuliert sie die These, dass die ›Große Bilderhandschrift‹ keineswegs als Beispiel einer spezifisch volkssprachlichen Ikonographie, wie sie im 12. und 13. Jahrhundert gesucht und entwickelt wurde, gelten dürfe – hatte doch Michael Curschmann die Illustrationen des ›Willehalm‹ als »spektakulärsten Missgriff« (S. 368) interpretiert, in dem das für den ›Sachsenspiegel‹ entwickelte Format und Zeichensystem für eine epische Großerzählung adaptiert wurde.

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Kontext Werkstattzusammenhang

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Bei der Frage nach Handschriften aus demselben Werkstattzusammenhang (Kapitel 10) zieht Manuwald die Berliner Fragmente der Weltchronik des ›Pantheon‹ Gottfrieds von Viterbo und die Codices picturati des ›Sachsenspiegels‹ heran. Heute wird allgemein die Auffassung vertreten, dass der Archetypus der ›Sachsenspiegel‹-Handschriften älter sei als die ›Große Bilderhandschrift‹ und in dieser das Experiment unternommen worden sei, eine für Rechtstexte angemessene Illustrationsmethode auf ein poetisches Werk zu übertragen.

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Während die Forschung die intermedialen Bezüge der »Großen Bilderhandschrift« zu konkreten Vorbildern beweisen möchte, geht es Manuwald »vielmehr darum, die Implikationen zu rekonstruieren, die mit ihrem Illustrationskonzept verbunden sind« (S. 4). Dabei zeigt sie in Bezug auf die Berliner Fragmente der Weltchronik des ›Pantheon‹, dass im Falle eines Werkstattzusammenhangs die hypothetische Werkstatt im Raum Quedlinburg/Blankenburg Kompetenzen aus unterschiedlichen Illustrationstraditionen vereinigt hätte (S. 411). Bei den vier Bilderhandschriften des ›Sachsenspiegels‹ vermutet sie, dass die Stammhandschrift der Codices picturati des ›Sachsenspiegels‹ im östlichen Harzvorland, dem Raum Halberstadt/Blankenburg, entstanden und aus derselben Werkstatt wie die ›Große Bilderhandschrift‹ stammen, der Auftraggeber also die jeweils andere Handschrift gekannt haben könnte und es in der Stammhandschrift der Codices picturati des ›Sachsenspiegels‹ Anknüpfungspunkte für narrative Bilder gegeben habe, die in der ›Großen Bilderhandschrift‹ weiter entwickelt worden seien (S. 445). Die Bildhandschriften des ›Sachsenspiegels‹ untersucht sie in der Tradition der Rechtsillustration (›Decretum Gratiani‹, ›Corpus Juris Civilis‹) und vermutet im Falle der Provenienz der Stammhandschrift der Bilderhandschriften des ›Sachsenspiegels‹ aus der Halberstädter Gegend, wo sich auch eine Rechtsschule befand, dass die Illustratoren wahrscheinlich auch illuminierte lateinische Rechtshandschriften kannten.

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Besonders wichtig ist Manuwalds abschließende Warnung, die Bildfrequenz der Codices picturati und der ›Großen Bilderhandschrift‹ allein aus der Volkssprachigkeit der Texte oder der Zwischenstellung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu erklären – sind doch die gleichermaßen bilderreichen Berliner ›Pantheon‹-Fragmente lateinisch! Alle drei bekräftigen vielmehr die Schriftlichkeit des Textes, und zwar eines Textes, der eine (weltliche und christliche) Autorität beanspruche. Alle drei habe vermutlich der Laienadel in Auftrag gegeben. Ein Werkstattzusammenhang von ›Großer Bilderhandschrift‹, Berliner ›Pantheon‹-Fragmenten und Stammhandschrift der Codices picturati des ›Sachsenspiegels‹ sei trotz aller Wahrscheinlichkeit nicht eindeutig nachzuweisen, wenn auch der Raum Blankenburg, konkret: Magdeburg oder Halberstadt, in Frage komme. Dazu passe die Verwendung des Sternes in einigen Siegeln der Grafen von Blankenburg-Regenstein, der an die Kennzeichnung Willehalms durch den ersten Illustrator der ›Großen Bilderhandschrift‹ erinnere und dieses Geschlecht als Auftraggeber vermuten lasse – wozu auch die Karlsverehrung in Halberstadt passe.

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Kontext Bildhandschriften derselben Region

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Im elften Kapitel ordnet Manuwald den Stil der Zeichnungen in das konkrete regionale Entstehungsumfeld ein, zu dem auch Fresken, Skulpturen und sonstige Kunstdenkmäler gehören. Insgesamt komme ein relativ großer Raum in Frage.

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Als Vergleichsobjekte werden herangezogen: Der ›Magdeburger Psalter‹, die aus Magdeburg stammenden Psalterien Wien, ÖNB Cod. Ser. n. 2595, Wien, ÖNB Cod. 1834, die erhaltenen Kopien der aus Niedersachsen entstandenen ›Ebstorfer Weltkarte‹, die Gothaer Handschrift der ›Sächsischen Weltchronik‹, das ›Jenaer Martyrologium‹ sowie die vier Bildhandschriften des ›Apokalysenkommentars‹ des Alexander Minorita. Bei der Analyse von »Kodikologie«, »Stil«, »Bildersprache und Narrativität«, »Text-Bild-Verhältnis« sowie »Funktion der Bebilderung« kann Manuwald feststellen, dass »einerseits ähnliche Komponenten und Zuordnungsprinzipien verwendet wurden, die Bildelemente andererseits aber immer auch einer dem Text entsprechenden individuellen Semantisierung unterliegen können« (S. 524). Die Vergleichshandschriften »stehen der GB hinsichtlich der Ausstattung mit hintergrundlosen kolorierten, zumeist ungerahmten Federzeichnungen und des engen Text-Bild-Verhältnisses nahe, das etwa an einer besonderen räumlichen Nähe von Text und Bild oder an der radikalen Konzentration der Bilder darauf, bestimmte Aspekte des Textes zu verdeutlichen, festzumachen ist« (S. 530) und repräsentieren dabei besonders innovative Illustrationskonzepte, die zeigen, dass aus dem Text heraus entwickelte Bildprogramme im nord- und ostmitteldeutschen Raum im fraglichen Zeitraum kein Einzelfall waren.

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Ergebnisse

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In ihrem Fazit über die ›Große Bilderhandschrift‹ als »komplexes Zeichensystem« (Kapitel 12) gelingt Manuwald ein sehr guter Überblick über das analytisch und argumentativ Erreichte: Die Illustratoren der ›Großen Bilderhandschrift‹ haben »neben dem Text die Bilder als ein Zeichensystem mit eigenen Regeln etabliert, das den visuellen Angeboten des Textes teilweise sogar widerspricht.« (S. 534) Die Textinformationen wurden in den Bildern durch »eigenständige, medienspezifische Präsentation« (S. 534) »reorganisiert« (S. 534), da die Zeichner die Ausdrucksmöglichkeiten des jeweiligen Mediums virtuos reflektieren konnten. Der so inszenierte »mediale Dialog« werde indessen vom Rezipienten weiter geführt. Der Text sei für das Verständnis der Bilder notwendig und rege zur genaueren Betrachtung der Bilder an. Besonders einprägsam ist Manuwalds Vergleich der Seitenstruktur der ›Großen Bilderhandschrift‹ mit einer zweisprachigen Ausgabe mit Text und Übersetzung, andererseits müsse aber auch die Kommentarfunktion der Bilder für den Text gesehen werden – diese beiden Aspekte lassen sich daher am besten durch das Bild des »medialen Dialogs« beschreiben: »Im Einzelnen sind die Relationen der interagierenden Zeichenordnungen ›Text‹ und ›Bild‹ auf den Seiten der GB sehr komplex, denn die Bilder sind nicht einfach als Signifikate oder Signifikanten des Textes anzusehen oder umgekehrt die Signifikate der Bilder im Text zu suchen« (S. 535). Eine aktive Mitwirkung des Rezipienten sei einkalkuliert, denn es gibt keine Namensbeischriften, keine Trennung der Realitätsebenen der Bilder, und narrative Bildsequenzen besitzen Lücken, die der Rezipient schließen muss.

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Die ›Große Bilderhandschrift‹ sei daher nicht – wie in der Forschung vielfach bemerkt – ein »misslungenes Experiment«, sondern zeige vielmehr, dass »Illustrationsstrategien, die sich für bestimmte Gattungen ausgeprägt hatten, mit ihren dadurch bedingten Implikationen auf andere Texte übertragen werden konnten« (S. 536). »Experiment« war die ›Große Bilderhandschrift‹ jedoch insofern, dass sie nicht auf eine Vorlage mit einer durchgehenden ›Willehalm‹-Illustration zurückgeht. Der Vergleich mit anderen Handschriften konnte erweisen, dass die ›Große Bilderhandschrift‹ in einem regionalen Kontext entstand, in dem sich über Gattungsgrenzen hinweg eine Bildersprache zur Illustration eines Epentextes entwickelte. Aufgrund des Stiles der Bilder, der Schrift und der Schreibsprache des Textes und den Gemeinsamkeiten mit den Berliner ›Pantheon‹-Fragmenten und den Codices picturati des ›Sachsenspiegels‹ konnte die ›Große Bilderhandschrift‹ in das Jahr 1270/75 im Raum Halberstadt/Magdeburg lokalisiert werden. Ein konkreter Auftraggeber kann indessen auch von Manuwald nicht bestimmt werden, die Kostbarkeit der Handschrift weise aber auf ein weltliches oder geistliches Fürstenhaus hin. Auch die Präsenz der Wilhelmiten in Mitteldeutschland oder die Karlsverehrung in Halberstadt würden gut dazu passen.

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Manuwalds Kontextualisierungen zeigen erneut, »wie wenig scharf die lateinische von der volkssprachigen Kultur zu trennen ist« und dass die Frage, »ob die Bilder als Zeugnis für eine volkssprachige semi-orale Kultur zu interpretieren sind, neu gestellt« (S. 538) werden müsse. Die Illustrationen der ›Großen Bilderhandschrift‹ repräsentierten keine spezifisch volkssprachige Ikonographie und stellten auch keinen Ersatz für die mündliche Vermittlung des Textes dar. Wichtiger sei vielmehr die gute Memorierbarkeit und der emotionale Appell der Bilder für den Betrachter (vgl. S. 538).

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Dokumentation und Materialien

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Die Studie wird durch einen umfangreichen Dokumentationsteil abgeschlossen, der neben der Transkription der Fragmente und der inhaltlichen Zuordnung der Bilder zum Text vor allem eine umfassende Bibliographie enthält. Ausgezeichnet ist ebenfalls das ausführliche Register zu Schwerpunktthemen der Studie, den Vergleichshandschriften sowie der Tafelteil. Der diplomatischen, nicht normalisierten Transkription ist der Text der Ausgabe Heinzles gegenübergestellt; die Abweichungen sind in einem Apparat zur Transkription dokumentiert. Dem Leser sei empfohlen, zuerst die Kurzbeschreibung der Bilder zu studieren, bevor er sich den Kapiteln 5 und 6 zuwendet. Darüber hinaus empfiehlt Manuwald selbst, nach wie vor die Faksimileausgaben von v. Amira und Montag für die ausführlicheren Kommentare zu den Einzelminiaturen zu konsultieren.

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Fazit

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Die Studie Manuwalds ist unverzichtbar für jede weitere Beschäftigung mit der ›Großen Bilderhandschrift‹, da sie methodisch präzise aufgebaut, interdisziplinär orientiert ist und durch die konsequenten Kontextualisierungen Schnittstellen für weitere Forschungen in die unterschiedlichsten Richtungen eröffnet. Sicherlich bleibt es auch für die künftige Beschäftigung mit der ›Großen Bilderhandschrift‹ ein Problem, auf Grundlage der wenigen erhaltenen Bilder generelle Aussagen über die ursprünglich 1300 Bilder umfassende Handschrift zu machen. Manuwald ist es jedoch gelungen, in den von ihr behandelten Einzelanalysen einen vollständigen und aktuellen Überblick über die bisherige Forschung zu geben. Beeindruckend ist der Fleiß und die Akribie, mit der sie ihre Beobachtungen und Ergebnisse breit mit der bisherigen Forschung vernetzt. Für ihre Arbeit ist sie 2011 verdientermaßen mit dem Heinz Maier-Leibnitz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem wichtigsten Preis für den wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland, ausgezeichnet worden.

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Bereits die einleitenden methodischen Bemerkungen Manuwalds zeigen, dass die Text-Bild-Forschung inzwischen eine Breite und Differenziertheit erreicht hat, die es zunehmend schwieriger macht, nicht nur den erreichten Forschungsstand zusammen zu fassen, sondern zugleich eine neue, eigene Position zu beziehen. Hieraus resultiert auch eine gewisse Problematik der vorliegenden Studie, dass bei zusammenhängender Lektüre oft die Argumentationslinie nicht immer prägnant sichtbar ist in der überbordenden Fülle von Einzelbeobachtungen, die zuweilen in den Fußnoten ausführlich weiter diskutiert werden. Insofern ist auch die separate Lektüre der einzelnen Kapitel empfehlenswert, auch wenn dadurch das eigentliche Ziel der Arbeit, den »medialen Dialog« in der ›Großen Bilderhandschrift‹ in seiner Multiperspektivität zu rekonstruieren und lesbar zu machen, nicht optimal erreicht wird. Andererseits ruhen Manuwalds Analysen auf einem logisch aufgebauten Fundament, so dass bei der Lektüre der Einzelkapitel dennoch immer der Bau des Ganzen sichtbar bleibt. Vorbildlich ist auch Manuwalds Grundsatz, immer wieder auch scheinbar gesicherte Erkenntnisse zu hinterfragen und ihre Argumentation grundsätzlich neu aufzubauen, auch wenn dadurch zuweilen Längen und Redundanzen entstehen, die dem Leser einen langen Atem abverlangen.

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Schließlich muss dem Francke Verlag ein großes Kompliment für die exzellente Ausstattung des schönen Buches gemacht werden (die sich allerdings auch in seinem Preis niederschlägt): Ohne den umfangreichen Bildteil wäre eine gewinnbringende Lektüre nur mit großen Hindernissen möglich. Auch künftig sollten sich Publikationen von Studien, die wie diejenige Manuwalds mit differenzierten Vergleichen von Bildern arbeiten, an solchen vorbildlichen Verlagsprodukten orientieren.

 
 

Anmerkungen

München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 193/III und Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Graphische Slg., Kapsel 1607, Hz 1104–1105, vgl. http://www.handschriftencensus.de/1064.   zurück
Der Codex (München, Cgm 193/III und Nürnberg, GNM, Graphische Sammlungen, Hz. 1104/05, Kapsel 1607), von dem 10 Blätter mit 55 Illustrationen erhalten sind, umfasste ursprünglich vermutlich 216 etwa 300 x 230 mm große Blätter mit etwa 1300 rahmenlosen kolorierten Federzeichnungen. Während der Text von einem Schreiber stammt, lassen sich zwei Illustratoren unterscheiden.    zurück
Vergleiche die Rezensionen von Bernd Schirok, in: ZfdPh 128 (2009), 3, S. 459–463 und Henrike Lähnemann, in: Germanistik 50 (2009), 1–2, S. 228.   zurück