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Oublier Foucault

Ein Handbuch als Archiv von Michel Foucault

  • Clemens Kammler / Rolf Parr / Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2008. VIII, 454 S. Broschiert. EUR (D) 49,95.
    ISBN: 978-3476021922.
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Foucault for Dummies

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War Foucault bis vor kurzer Zeit eine mehr oder weniger unerwünschte Figur in den akademischen Diskussionen Deutschlands, so zählt er mittlerweile zu denjenigen Autoren, über die im wissenschaftlichen Diskurs am meisten debattiert wird. Seine häufig unscharfen Begriffe zirkulieren in den verschiedensten Disziplinen und werden so unterschiedlich ausgelegt, dass ihre Ambivalenz genau so groß wie ihre Verbreitung ist. Das vom Metzler Verlag frisch veröffentlichte Foucault Handbuch soll Laien helfen, sich den Begriffen und Methoden Foucaults anzunähern.

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Es ist gewiss eine sehr schwierige Aufgabe, das Denken eines Philosophen wiederzugeben, der niemals dort sein wollte, wo man ihn erwartet. 1 In dem von den Germanisten Clemens Kammler und Rolf Parr zusammen mit dem Philosophen Ulrich Johannes Schneider herausgegebenen Handbuch wurde diese Aufgabe gut umgesetzt. In einer Reihe von kurzen, aber gut fundierten Beiträgen erklären Autoren und Autorinnen aus unterschiedlichen Wissensbereichen Foucaults Werk sowohl thematisch als auch theoretisch. Dazu bieten sie interessante Verweise auf die deutsche beziehungsweise internationale Fachliteratur über Foucault und erläutern die Wirkung seines Denkens auf die heutige wissenschaftliche Landschaft.

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Die Ordnung des Handbuches

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Zu loben ist die anschauliche Struktur der Publikation, die Foucaults Leben und Werk in fünf Teile gliedert: einen biographischen Teil (S. 1–8), einen, der die Werke beziehungsweise Werkgruppen behandelt (S. 9–164), einen, der den unterschiedlichen Einflüssen und Anschlüssen seines Werkes gewidmet ist (S. 165–218), einen weiteren Teil, der seine Begriffe in ihrer Formation hinterfragt (S. 219–306), und einen letzten, der Foucaults Rezeption in Deutschland thematisiert (S. 307–442). Als Anhang bietet die Veröffentlichung zudem eine sehr detaillierte Bibliographie von beziehungsweise über Foucault, die sowohl Originale als auch Übersetzungen berücksichtigt. Diese bietet Leserinnen und Lesern eine gute Orientierungshilfe.

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Lobenswert ist ebenfalls die Bemühung der Autoren und Autorinnen, eine verständliche, aber Foucault getreue Sprache zu benutzen. In diesem Sinne erreicht das Handbuch sein Ziel; im Vergleich zu Sekundärliteratur, die sich in wissenschaftlichem Jargon verstrickt, verkompliziert es nicht, was es vereinfachen soll. Es lohnt sich, einen kurzen Blick in die unterschiedlichen Bereiche des Handbuches zu werfen.

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Der Philosoph mit der Maske

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Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass der von Ulrich Johannes Schneider verfasste biographische Teil des Handbuches extrem kurz bleibt. Dem Subjekt Foucault zu viel Raum zu geben, wäre definitiv ein Verstoß gegen die Konventionen der Diskurstheorie gewesen. Hier entscheidet sich der Autor daher für die Zusammenstellung von biographischen Fakten, die immer wieder in Zusammenhang mit den theoretischen Interessen des Philosophen oder zum Beispiel mit seinem politischen Engagement gebracht werden. Diese Bezüge aber, so Schneider, blieben rein abstrakt, da sich strenge Kausalzusammenhänge zwischen politischem Engagement und Werken nicht konstruieren ließen. Interessant sind an dieser Stelle aber Verweise auf Mentoren wie Georges Dumézil und Georges Canguilhem oder Mitstreiter wie Jacques Derrida oder Daniel Lagache sowie Foucaults Verbindungen zu Universitäten in Brasilien, Japan oder Schweden, die Auskunft über die wissenschaftlichen Interessen des Philosophen geben. Trotz dieses kleinen Einblickes in sein Leben bleibt Foucault – wie Schneider es auch betont – als »abstrahierbare Person schwer darzustellen« (S. 7). Daher wird im Handbuch das Hauptaugenmerk auf seine Texte gelegt. Ralf Konersmann hat Michel Foucault als »den Philosoph mit der Maske« 2 bezeichnet, der in seinem Schreiben verschwindet. Es zahlt sich aus, hinter diese Maske zu schauen.

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Die Archäologie der Werke

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Dass gerade Foucault, der den Krieg, den Ursprung und die Kontinuitäten in der Geschichte erklärt hatte 3 , im Sinne einer theoretischen Evolution vorgestellt wird, mag manchen ironisch erscheinen. Und trotzdem lassen sich laut Clemens Kammler verschiedene Modelle für eine Phasierung seines Werkes finden, die dieses entweder in Aussagen-, Diskurs- und Machtanalysen oder in Themenkomplexe wie Wissen, Macht und Subjektivierung unterteilen. 4 Wie der Autor richtig anmerkt, zeigen diese Modelle eher eine Akzentverschiebung an als eine simple Abfolge.

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Besonders interessant und gut gelungen sind in diesem Teil des Handbuches die Präsentationen der einzelnen Werke, die in Bezug auf Fragestellung, Methoden, Begriffe und Ergebnisse vorgestellt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Artikel »Die Ordnung der Dinge« von Ute Frietsch. Nach einer kurzen Einleitung in die Fragestellung des Buches weist die Autorin auf Foucaults zentralen Begriff der Episteme hin, welcher wiederum auf eine bestimmte Art von Wissenskonstruktion in einer gegebenen zeitlichen beziehungsweise räumlichen Konstellation verweist. Mit Hilfe der sich im frühen 20. Jahrhundert formierenden »Gegenwissenschaften« Ethnologie, Psychologie und Linguistik, die er als Disziplinen sah, die das Verschwinden des Menschen als Episteme ankündigten, versucht Foucault, den Sinnzusammenhang konkreter Wissensformationen frei zu legen, das heißt das »auszugraben«, was das positive Wissen der westlichen Wissenschaft mit ihren Methoden verdrängt.

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Hier liegt offensichtlich die Beziehung beziehungsweise die Analogie zur Disziplin der Archäologie. Ihre Aufgabe ist es in der Ordnung der Dinge, die diskursiven Formationen unterschiedlicher Epochen – Zeitalter der Ähnlichkeiten, der Repräsentation und des Menschen – zu analysieren, um ihre Wissensformationen herauszuarbeiten:

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Foucault versteht seine Methode, das Charakteristische des Wissens einer Epoche zu eruieren, nicht als Epistemologie oder als Ideengeschichte, sondern als ›Archäologie‹: Mit seiner archäologischen Methode stellt er den Anspruch auf, das gesamte Wissen eines behandelten Zeitraums in seiner Kohärenz charakterisieren zu können. (S. 42)
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Frietsch erklärt zudem die jeweils von Foucault im Buch untersuchten Epochen und diskutiert dabei die These des Todes des Menschen, mit der Foucault das Buch beendet und die für große Kontroversen sorgte. 5 Neben der Vorstellung des Buches geht die Autorin auf die Foucault-Rezeption bekannter Autoren ein, wie die der Franzosen Jacques Derrida, Bruno Latour oder Gilles Deleuze oder die deutscher Autoren wie Friedrich Kittler oder Axel Honneth, die Foucaults Archäologie in unterschiedliche Wissensbereiche oder Disziplinen übertragen haben. Damit wird dem Leser oder der Leserin nicht nur ein Überblick über das Werk angeboten, sondern darüber hinaus liefert Frietsch konkrete Angaben zur Rezeption innerhalb der Wissenschaft.

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Unter den anderen Beiträgen dieses Teils des Handbuches möchte ich die zur Archäologie des Wissen von Clemens Kammler, zur Ordnung des Diskurses von Michael Sellhof, zu Überwachen und Strafen von Klaus-Michael Bogdal sowie zu Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 von Petra Gehring hervorheben, die recht komplexe Werke knapp und verständlich erklären. Ebenfalls lesenswert sind die Kommentare zu den Vorlesungen von Magdalena Beljan, Petra Gehring, und Felix Heidenreich, die Foucaults Beschäftigung mit psychiatrischen, politischen und ethischen Problemen wiedergeben.

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Foucaults Genealogie

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Unter der Rubrik »Kontexte« befindet sich eine Reihe von Texten, die sowohl Referenzautoren als auch die Wirkung des Foucaultschen Denkens auf andere Theoretiker zusammenstellt. Man könnte sagen, dass die Herausgeber des Handbuches hier eine Genealogie von Michel Foucault im eigentlichen Sinne und eine Wissenschaftsgeschichte nach ihm zu entwerfen versuchen. Unter den Klassikern, die hier berücksichtigt werden, befinden sich Philosophen wie Kant, Hegel, Marx, Nietzsche und Heidegger. Eine besondere Stellung hat selbstverständlich der »Philosoph der fröhlichen Wissenschaft«, der mit seinen Slogans »Wille zur Macht« und »Wille zur Wahrheit« eine zentrale Rolle für die theoretische Entwicklung von Foucault spielte. So stimme ich Friedrich Balke in seinem Artikel »Nietzsche« zu, wenn er folgendes behauptet:

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Nietzsche gibt Foucault nicht nur die Thematik seines Forschungsinteresses vor, stellt ihm nicht nur wichtige Begriffe und Analyseinstrumentarien zur Verfügung, sondern stattet ihn auch mit dem Rüstzeug einer Genealogie aus [...]. Mit dem Konzept der Genealogie wendet sich Nietzsche gegen die geschichtsphilosophische Unterstellung linearer Genesen, monotoner Teleologien und geistesgeschichtlicher Kausalitäten. (S. 174)
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Damit entwickelt Foucault eine Form der historischen Analyse, die weder nach dem Ursprung eines Diskurses noch nach seinen Kontinuitäten fahndet, sondern die versucht, seine verborgenen formativen Elemente an die Oberfläche zu holen.

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Aber nicht nur Klassiker werden dort behandelt. Aus dem Bereich der zeitgenössischen Philosophie wird Foucaults kritische Auseinandersetzung mit Denkströmungen wie dem Existenzialismus, der Phänomenologie oder dem Strukturalismus sowie mit anderen französischen Denkern wie Louis Althusser, Jacques Lacan, Gilles Deleuze und Jacques Derrida erläutert. Hier werden die Reaktionen Foucaults auf die Kritiken der genannten Autoren thematisiert, oder, wie im Falle von Jacques Lacan, Übereinstimmungen aufgezeigt.

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Zu erwähnen ist der kurze, aber exzellente Beitrag »Judith Butler« von Hannalore Bublitz, in dem sie Interdependenzen zwischen Butler und Foucault in Bezug auf die Gender-Thematik anspricht. Hier werden die zentralen Thesen der amerikanischen Philosophin – Genderkonstruktion als Performanz, die Aufhebung der Unterscheidung Gender / Sex – auf Foucaults Arbeiten über den Körper, das Subjekt und die Sexualität übertragen. Unterschiede werden ebenfalls deutlich hervorgehoben. Während Foucault, so die Autorin, Körper und Subjekte im Rahmen von Wissens- und Machtordnungen untersuchte, geht es bei Butler darum, die performativen Geschlechterkonstruktionen zu analysieren (S. 195–197).

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Weitere Überschneidungen und Differenzen wie zum Beispiel Auseinandersetzungen mit der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, mit Pierre Bourdieu oder mit Niklas Luhmann erweisen sich ebenfalls als sehr hilfreich. Unbegründet scheint dagegen der enorme Platz, der der Interdiskurstheorie von Jürgen Link und anderen zugeschrieben wird (S. 202–206). Diese deutsche Lesart der Foucaultschen Diskurstheorie berücksichtigt die Vernetzung bestimmter Spezialdiskurse mit mehreren nicht diskursiven Praktiken innerhalb der modernen Gesellschaft. Das Resultat dieser Kette von Diskursen sei eine nicht homogene, aber doch holistische Kultur, die aus der Perspektive der Foucaultschen Diskursanalyse ganz nah an der Idee eines Zeitgeistes oder einer Mentalität stehe. 6 Selbst wenn die Interdiskursanalyse in deutschen Kreisen an Präsenz gewonnen hat, scheint mir eine Vernachlässigung von großen Themen wie Gender oder sozialer Distinktion zu ihren Gunsten nicht gerechtfertigt.

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Archäologie der Begriffe

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Ein zentraler Teil des Handbuchs, wenn nicht sogar der beste, ist der Erläuterung der Foucaultschen Begriffe gewidmet. Wie bereits erwähnt, tendierte Foucault dazu, Begriffe unscharf zu definieren oder diese von Buch zu Buch beachtlich zu modifizieren. Hier verfolgen die Autoren und Autorinnen die wichtigsten Begriffe Foucaults, wie ›Archäologie‹, ›Diskurs‹, ›Archiv‹, ›Autor‹, ›Dispositiv‹, ›Ereignis‹ oder ›Genealogie‹, ›diskursiv‹ und ›genealogisch‹. Spezielle Erwähnung verdient der Artikel »Diskurs« von Rolf Parr, der das zentrale Element der Foucaultschen Theorie interpretiert. Parr geht auf die verschiedenen Auslegungen des Begriffes in Foucaults Werk ein, um festzustellen, dass Diskurs sowohl als allgemeines Gebiet aller Aussagen, als eine individualisierte Gruppe von Aussagen, als auch als eine regulierte Praxis, die ein bestimmtes Feld von Aussagen hervorbringt (S. 234), definiert wird. Richtig merkt er an, dass der Diskurs bei Foucault nicht nur auf Sprache reduzierbar ist, da seine Funktion sich nicht allein auf einen Zeichen-Charakter reduzieren lässt.

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Parr zeigt die unterschiedlichen Schwerpunkte der Diskursanalyse. So untersucht Foucault in der Archäologie des Wissens die unterschiedlichen Bereiche des Diskurses wie die Formationen der Gegenstände (worüber gesprochen wird), der Äußerungsmodalitäten (wie und von wem die Aussagen formuliert werden), der Begriffe (wie die Konzepte innerhalb eines Diskurses miteinander in Verbindung gebracht werden) und der Strategien (welche Interessen, Absichten, Doktrinen verhandelt werden). Dementsprechend ergibt sich der Diskurs für Foucault laut Parr als »eine Praxis des Denkens, des Schreibens, Sprechens und auch des Handelns, die diejenigen Gegenstände, von denen sie handelt, zugleich selbst systematisch hervorbringt« (S. 235). Es geht daher darum, eine Reihe von Regularitäten, die bestimmen, was gesagt, geschrieben oder innerhalb dieses diskursiven Systems gehandelt werden kann, zu analysieren.

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Es ist aber ein ganz anderer Aspekt, der in der Ordnung des Diskurses in den Mittelpunkt rückt. Dort sind es die äußeren Formationsmechanismen, die untersucht werden. Besondere Aufmerksamkeit bekommen dabei die Formen der Ausschließung beziehungsweise die Verbote und Grenzziehungen, durch die die Regulierung des Diskurses gesichert wird (S. 235). Parr weist darauf hin, dass Diskurse interdiskursiv mit anderen Diskursen und extradiskursiv mit anderen nicht-diskursiven Praktiken korrelieren. Parrs Definition von Diskurs erweist sich daher als sehr nützlich:

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Führt man die interne Blickrichtung der Diskursformation aus der Archäologie des Wissens [...] und die externe der Ausschließungsprozeduren aus Die Ordnung der Dinge zusammen, dann ergibt sich als heuristisch-pragmatische Bestimmung: Diskurse sind materiell nachweisbare Formen gesellschaftlicher Rede, die stets nach Praxisbereichen spezialisiert und institutionalisiert sind, so dass es Diskurse mit distinkten Formations- und Ausschließungsregeln jeweils eigener Operativität gibt. (S. 235)
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Empfehlenswert ist auch der Beitrag »Ereignis« von Hania Siebenpfeiffer, der ebenfalls die unterschiedlichen Prägungen dieses Begriffes analysiert, der sowohl im alltäglichen Sinne als auch als eine Form der diskursiven Positivitäten gebraucht wird (S. 251); der Artikel über »Genealogie« (Joseph Vogl), in dem das Erbe Nietzsches noch einmal diskutiert wird (S. 255); sowie der ebenfalls von Hania Siebenpfeiffer verfasste Text über Körper, zum einen als Effekt strategischer Macht-Wissen-Praktiken, zum anderen als produktives Feld für die Reproduktion von Macht (S. 266). Darüber hinaus behandeln der Beitrag »Macht« von Hannelore Bublitz, »Panoptismus« von Burkhardt Wolf, »Wahrheit« von Stephan Günzel oder »Wissen« von Clemens Kammler interessante Aspekte des Denkens von Michel Foucault.

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Foucault for Dummies

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Der letzte Teil des Handbuches ist der Rezeption der Werke in den verschiedenen Wissenschaften gewidmet, etwa in der Literaturwissenschaft oder in der Geschichte, in den Medienwissenschaften oder in den Cultural Studies – Foucault hinterließ verschiedenen Disziplinen ein wichtiges Erbe. Empfehlenswert ist die kritische Auslegung der Diskurstheorie innerhalb des Feminismus, die einerseits die Machtanalytik und die Dezentrierung des Subjektes als eine Unterminierung feministischer Kritik und Politik fürchtete, 7 anderseits die Ausblendung des Begriffs ›Geschlecht‹ kritisierte (S. 368). Weitere Aspekte wie feministischer Poststrukturalismus oder die Dekonstruktion von Geschlechterkategorien werden auch im Text diskutiert.

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Besonders wichtig scheint mir die Rezeption Foucaults in den deutschen Medienwissenschaften, mit der sich Rolf Parr und Matthias Thiele auseinandersetzten. Zentrale Rolle spielt hier die von Friedrich Kittler entwickelte These der Archäologie der Medien. Studierte Foucault, so Kittler, allein die Existenzbedingung der symbolischen Ordnung, das heißt des Geschriebenen, so beanspruche die Archäologie der Medien das technische Apriori archäologisch zu hinterfragen:

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Kittler fragt daher zunächst noch in konsequenter Verlängerung Foucaults über Textarchive hinaus nach weiteren Medien wie Schreibmaschine, Grammophon, Film und Computer als diskurskonstituierenden und diskursregulierenden Aufschreibesystemen bzw. nach den Veränderungen einzelner Spezialdiskurse und ihrer Medien im sich zunehmend ausdifferenzierenden System der Medienkonkurrenzen. (S. 348)
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Darüber hinaus werden dort die medienwissenschaftlichen Interpretationen von Foucault wie diejenige von Hartmut Winkler oder Jean-Louis Baudry thematisiert. Hier analysieren die Autoren Winklers Auslegung des Begriffs ›Dispositiv‹, um die deterministischen Strukturen der Medien zu hinterfragen, und Jean-Louis Baudrys Anwendung des Begriffs auf die ideologiekritische Untersuchung des Films und anderer Medien. Außerdem werden mediale Anwendungen der Foucaultschen Begriffe ›Panopticon‹, ›Macht‹, ›Körper‹ und ›Wissen‹ unter die Lupe genommen. So bekommt der Leser oder die Leserin einen guten Überblick in die vielschichtige und einflussreiche Rezeption von Foucault innerhalb der Medienwissenschaften.

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Schluss

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Wenn es das Ziel eines Handbuchs ist, als Werkzeugkasten oder als Nachschlagewerk zu dienen, dann lässt sich behaupten, dass Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider ihr Ziel erreicht haben. Das Foucault Handbuch bietet eine sehr umfangreiche Dokumentation von Leben, Werk und Wirkung des französischen Philosophen. Man bekommt den Eindruck, dass die Herausgeber sich viel Mühe gegeben haben, die einzelnen Beiträge stilistisch und thematisch zu verbinden. Dies kann manchmal etwas lästig werden, wenn man thematische Aspekte wiederholt findet, der Aufbau erweist sich dennoch als hilfreich, da Verbindungen zwischen Themen deutlich gemacht werden, die für die Laien nicht immer klar sind.

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So ist die durchgehende Qualität der Beiträge erstaunlich. Leserfreundlich sind zudem die kurzen Bibliographien, die an jeden Artikel angefügt werden. Zwischen den zahlreichen auf dem Markt befindlichen Sekundärwerken zu Foucault positioniert sich das Handbuch als hervorragende Publikation für den Einstieg oder die Vertiefung in das Werk des Philosophen mit der Maske.

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Im Jahr 1977 veröffentlichte der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard das Buch Oublier Foucault, in dem er die Machtanalytik Foucaults aufgrund ihrer für ihn konservativen Züge kritisiert. Aber Foucault wurde nicht vergessen, im Gegenteil: seine Berühmtheit wuchs und wuchs. Mit dem von Kammler, Parr und Schneider herausgegebenen Handbuch könnte eine Annahme Baudrillards wohl Wirklichkeit werden: Man könnte jetzt Foucault — zumindest im Original — vergessen. Sekundäre Literatur wie diese reicht, um ihn als Philosophen zu verstehen. Soll das eine Kritik oder eher ein Lob sein?

 
 

Anmerkungen

Michel Foucault: Die Archäologie des Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 30.   zurück
Ralf Konersmann: Der Philosoph mit der Maske. Michel Foucaults L’ordre du discours. In: Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M.: Fischer Verlag 2001, S. 91.   zurück
Michel Foucault (Anm. 1). S. 17 ff.   zurück
Wie Kammler richtig anmerkt, lässt sich sogar eine vierte Phase umreißen, wenn man den Wissensbereich in einen archäologischen (zum Beispiel Wahnsinn und Gesellschaft und Die Ordnung der Dinge) und einen methodologischen (zum Beispiel Die Archäologie des Wissens oder Die Ordnung des Diskurses) unterteilt (S. 11).   zurück
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, S. 388.   zurück
Elizabeth Ann Clark: History, Theory, Text. Historians and the Linguistic Turn. Harvard: Harvard University Press 2004. Siehe vor allem Kapitel 3.   zurück
Für eine ähnliche Kritik aus der Perspektive des Postkolonialismus siehe : Linda Tuhiwai Smith: Decolonizing Methodologies: Research and Indigenous Peoples. London, New York: University of Otago Press 1999.   zurück