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Literaturgeschichte der Extreme

  • Wilhelm Haefs (Hg.): Nationalsozialismus und Exil 1933-1945. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begründet von Rolf Grimminger 9) München: Carl Hanser 2009. 704 S. Leinen. EUR (D) 68,00.
    ISBN: 978-3-446-12784-5.
  • Wilhelm Haefs (Hg.): Nationalsozialismus und Exil 1933-1945. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begründet von Rolf Grimminger 9) München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2009. 702 S. Kartoniert. EUR (D) 30,00.
    ISBN: ISBN 978-3-423-04351.
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Nach fast drei Jahrzehnten wird die Sozialgeschichte der deutschen Literatur mit ihrem schwierigsten Band abgeschlossen. Wenn die Einleitung des Herausgebers mit der Feststellung beginnt, es sei das »Paradigma der ›Sozialgeschichte der Literatur‹ längst in den Hintergrund gerückt« (S. 9–10), so soll diese Methodendiskussion nicht verdecken, dass hier mit wechselnden Ansätzen auf begrenztem Raum durchaus konkrete Ergebnisse vorgelegt werden.

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Kurze Texte

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Der Titel Nationalsozialismus und Exil 1933–1945 ist ernst zu nehmen. Er kündigt die simultane Betrachtung zweier Literaturbereiche an, die bislang meistens getrennt und dazu sehr unterschiedlich intensiv bearbeitet worden sind, ein Problem, das aus der Literaturgeschichte der beiden Folgestaaten des ›Dritten Reiches‹ wohl bekannt ist. Er verwendet allerdings eine Periodisierung, die so herkömmlich wie verengt ist, was in der Einleitung denn auch gebührend relativiert wird (S. 12–13). Und er schließt stillschweigend, wenn auch nicht durchgehend befolgt, die Literaturszene in Österreich und der Schweiz ein. Da ein Handbuch hier nicht beabsichtigt und bei einem reinen Textumfang von 500 Seiten auch nicht möglich ist, verteilt der Herausgeber Wilhelm Haefs »interessante« Themen, die sich aus dem Gesamtaspekt ergeben, auf 17 Einzelbeiträge, die sich zumeist mit einem Umfang von 20 Druckseiten bescheiden müssen. Eine weitere Gliederung des Bandes ist nicht vorgesehen. Die umfangreiche Einleitung des Herausgebers strukturiert aber auf einleuchtende Weise die Materie, ein integriertes Personenregister und ein kapitelgenaues Inhaltsverzeichnis (S. 695–702) erleichtern die Navigation.

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Durchaus hilfreich eröffnen zwei größere Übersichts-Artikel den Band: Jan-Pieter Barbian, sicher der beste Kenner auf diesem Gebiet, gibt eine konzise und zugleich faktenreiche Übersicht über die Institutionen, Machenschaften, Folgen und Lücken der nationalsozialistischen Literaturpolitik, einem übergreifenden Machtsystem. Ernst Fischer, der eine Biographische Dokumentation zur Emigration der Verleger, Buchhändler und Antiquare vorbereitet, beschreibt die Organisations- und Sozialisierungsformen des Exils – Autoren-Vereinigungen, Mitarbeiterkreise von Presse- und Rundfunkredaktionen, Verlagsunternehmen und deren Außenbeziehungen. Darauf lässt sich aufbauen, zum Beispiel mit der Erörterung von medialen Erscheinungsformen der Literatur innerhalb des Zeitraums. In dem instruktiven Artikel von Hans-Edwin Friedrich über Drama und Theater geht es um Institutionen und Inhalte, um Klassikerpflege und nationalsozialistische Kultspiele, aber auch um unpolitische Dramatik (Krach im Hinterhaus) und um den Theaterbetrieb in Österreich, in der Schweiz und im außereuropäischen Exil. Von Hörfunk und Literatur berichtet der Rundfunk-Redakteur und Hörspielfachmann Wolfram Wessels – dass solche Qualifikationen im Buch nicht mitgeteilt werden, ist ein Mangel – in einem Kabinettstück der Wissensvermittlung auf 20 Seiten. Schließlich: Film und Kino von Karin Bruns, Professorin für Medientheorie in Linz. Sie betont die politische Deregulierung in der Filmindustrie, deren fortschreitende Ökonomisierung und die wachsende Unterhaltungsproduktion, und trägt zu dem Erkenntnis bei, dass der Propagandabegriff die Medienwirklichkeit des ›Dritten Reiches‹ nicht komplett erfassen kann. Mit einem eindeutig sozialgeschichtlichen Thema, nämlich mit der schwierigen, oft missglückten Akkulturation der Exilanten im fremden Land, ihren Sprachproblemen und der besonderen Lage von Frauen, auch der Ehefrauen, sowie schließlich mit dem »Exil als Asyl« befasst sich Sabina Becker. Eher symbolisch als historisch zu verstehen ist der Artikel Literatur und Krieg von Eva Horn. Er setzt mit dem Schlagwort von der »totalen Mobilmachung« lange vor dem Beginn des eigentlichen Kriegszustandes ein und verweist auf eine zunehmende Ästhetisierung. Ähnliches unternimmt Carl Wege mit seiner Arbeit über Technik in der nationalrevolutionären Literatur, ein deutlicher Hinweis auf die »ambivalente Modernität« der Periode. (An beide Artikel könnten sich empirische Studien zur ›Schrifttumsarbeit‹ der Wehrmacht oder der Organisation Todt anschließen.)

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Die Ästhetik als kritisches Instrument wie als Gegenstand bestimmt zwei andere Beiträge. Es dient der Schärfung des Begriffs, wenn Thomas Lischeid der Bücherverbrennung von 1933 auf ihren semiologischen Grund geht und sie als aggressives Moment in der Kollektivsymbolik des NS-Systems erkennt, auf die man im Exil auf eigene Weise reagierte. Und jedenfalls war es an der Zeit, die ›Realismus‹-Debatten im Moskauer Exil, die auch eine medienästhetische Seite hatten, vom Geruch bloßer Machtspiele zu befreien und sie auf ihren Subtext zu untersuchen. Detlev Schöttker zeigt in seinem Beitrag, dass dann der Weg zu Benjamin und Adorno nicht mehr weit ist.

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Immerhin zwei Felder der Rezeptions- und Vermittlungsforschung werden sichtbar. Über die Rezeption und Benutzung der klassischen Literatur in Deutschland (und die entsprechenden Gegenreden aus dem Exil) berichten Claudia Albert und Marcus Gärtner, über die schwierige Selbstbehauptung und die eilige Selbstgleichschaltung der Germanistik im ›Dritten Reich‹, aber auch über die Vorbereitung einer ›werkimmanenten Interpretation‹ in dieser Zeit, gibt Ralf Klausnitzer einen vorurteilsfreien Überblick. Auch wenn er politischen Widerstand nirgends erkennen kann, so sieht er doch eine »polyparadigmatische« Wissenschaftslandschaft vor sich.

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Sieht man von den allgemeinen Problemen gattungsgeschichtlicher Betrachtung für einen Moment ab, dann kann sie im Einzelfall durchaus Evidenz erreichen. Das gilt in diesem Sammelband zweifellos für den Beitrag des Herausgebers Wilhelm Haefs zur Lyrik in den 1930er und 1940er Jahren, also zu einer extrem subjektiven Gattung, für die man im politischen Resonanzraum keine besondere Akustik erwartet. Der Hinweis auf die Texte von HJ-Liedern, die zur abgesunkenen Kindheitserfahrung einer ganzen Generation gehören, widerspricht dem gleich zu Anfang, und auch im Exil war die extrem eingeschränkte Publizität kein Hindernis für Lyrik-Produktion. Der gern vernachlässigte, ästhetisch wie materiell schwierig zu definierende Bereich der Essayistik wird von Hans-Edwin Friedrich als höchst ergiebiges Thema erkannt. Obwohl er dafür kaum mehr Platz beansprucht als andere Beiträger, eröffnet er den Blick für die stilistischen und motivischen Besonderheiten des Genres innerhalb und – von Sternberger bis Bense – außerhalb der NS-Literatur, aber auch in Österreich und im Exil. Schwieriger ist es dann schon, eine so haltbare Gattung wie den historischen Roman, Lieblingsthema von Georg Lukács, in den Focus zu bringen (Bettina Hey’l), während sich die autobiographische Literatur (Carola Hilmes), hier mit vielen Titel-Verweisen, als historische Quelle, aber mehr noch als Geschichtserzählung präsentiert, wobei die lebensgeschichtlichen Positionen von ›Drinnen‹ und ›Draußen‹ häufig wechseln.

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Die Beiträge dieses Bandes halten sich trotz der gebotenen Kürze von lexikalischer Zusammenfassung fern, gehen ins Detail, wagen Urteile und meiden Generalisierungen. (Ein so allgemeiner Titel wie der von Michael Rohrwasser: Schriftsteller im Zeitalter des Totalitarismus bildet die Ausnahme.) Dem interessierten Leser wird damit reichlich Anregung zum Nachdenken, Nachschlagen und »further reading« geboten. Wollte man, wider die Vernunft, Themen nennen, die noch zu berücksichtigen gewesen wären, so kommt jedenfalls die Verknüpfung von historischer Zeit und Lebenslauf in den Blick. 1929 stellte Kesten in einer Anthologie »24 neue deutsche Erzähler« vor. Was wurde aus ihnen?

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Der Anhang enthält 70 Seiten Anmerkungen, ein noch umfangreicheres Literaturverzeichnis und ein Personenregister.

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Lange Wege

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Die Erforschung der Literatur im Nationalsozialismus und im Exil hat eine wechselvolle Geschichte, die in sich schon wieder ein Untersuchungsgegenstand wäre. Seit der Publikation von Dietrich Strothmanns Buch Nationalsozialistische Literaturpolitik, das 1958 nach mehrjähriger Bedenkzeit von der Historischen Kommission des Frankfurter Börsenvereins abgelehnt und 1960 bei Bouvier erstmals aufgelegt wurde, und der unverhüllt polemischen Arbeit von Franz Schonauer Deutsche Literatur im Dritten Reich, 1961 bei Walter, ist viel Zeit vergangen. Die Beschäftigung mit der unterdrückten Literatur verlief gesondert, frühen Gedenkbüchern (Almanach der Unvergessenen, Greifenverlag 1946, verboten und verbrannt, Ullstein/Kindler 1947) folgten Initiativen der Zentralbibliotheken in Frankfurt und Leipzig zur Erinnerung an die »Emigrationsliteratur« und später die ersten Exil-Dokumentationen, so die nach Ländern geordnete, materialreiche, aber ideologisch belastete Reihe Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933–1945, die ab 1979 von den DDR-Akademien der Künste und der Wissenschaften in sieben Bänden bei Reclam in Leipzig herausgegeben wurde (der UdSSR-Band von 1979 erschien 1989 in revidierter Form), sowie die 1972 bei Luchterhand begonnene Reihe Deutsche Exilliteratur 1933–1950 von Hans-Albert Walter. Nach dem Sammelband von 1973 Die deutsche Exilliteratur 1933–1945 erschien bei Reclam in Stuttgart Die deutsche Literatur im Dritten Reich (1976), zusammengestellt von Horst Denkler und Karl Prümm. Unter den 22 Beiträgern dieses, dem vorliegenden nicht unähnlichen Buches befinden sich damalige Jungakademiker, wie Emmerich, Mörchen, Prümm, Witte und Peter Zimmermann und Auslandsgermanisten wie Bormann, Grimm und Hermand. Angesichts großer Forschungsdefizite und der daraus entstehenden Aufgabenvielfalt hielten die Herausgeber eine zwingende methodische Orientierung weder für möglich noch für sinnvoll. Allerdings, so hieß es, sei allen Autoren »das Bemühen gemeinsam, die immanente Literaturbetrachtung zu verlassen, an literatursoziologische Methoden anzuschließen und historische, soziopolitische Faktoren einzubeziehen sowie nach Wirkungen und Wirkungsmechanismen zu fragen.« 1

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Auch wenn sich seitdem die Begrifflichkeit geändert hat: Ein sozialgeschichtlicher Ansatz erscheint hier ganz selbstverständlich. Genau das ist, wie die eingangs zitierte Äußerung von Wilhelm Haefs zeigt, heute nicht mehr der Fall. Ein Göttinger Symposium über Vergangenheit und Zukunft einer Sozialgeschichte der Literatur hat sich inzwischen der Frage angenommen, und zwar mit ausdrücklichem Bezug auf die Hanser-Reihe. 2 Wilhelm Haefs stellte dort fest, dass die Reihe ihren sozialgeschichtlichen Anspruch, also ihre Gründungsidee, nur partiell habe verwirklichen können, worin Gerhard Sauder aber keine Delegitimierung der Methode selbst erkennen wollte. Die Diskussion um Sozial- und Symbolsystem wird weiter gehen, so wie auch die Darstellungs- und Produktionsprobleme von Referenzwerken und Handbüchern eher wachsen werden. Unter diesen Umständen sollten wir dankbar dafür sein, dass der Band 9 von Hansers Sozialgeschichte der Literatur die Konturen einer Geschichte der deutschsprachigen Literatur in den dreißiger bis fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, und das heißt: in einer Extremsituation, deutlich erkennen lässt.

 
 

Anmerkungen

Horst Denkler / Karl Prümm (Hg.): Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen –Traditionen – Wirkungen. Stuttgart: Reclam 1976, Vorwort, S. 8.   zurück
Tagungsbericht in: Journal of Literary Theory, URL: http://www.jltonline.de/index.php/conferences (letzter Zugriff am 09.05.2010).   zurück