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Comparative Arts go Visual Culture?

Ein Tagungsband konfrontiert zwei Forschungsparadigmen

  • Monika Schmitz-Emans / Gertrud Lehnert (Hg.): Visual Culture. Beiträge zur XIII. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (DGAVL), 18.-21. Mai 2005. (Hermeia. Grenzüberschreitende Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 10) Heidelberg: Synchron 2008. 400 S. Kartoniert. EUR (D) 44,80.
    ISBN: 978-3-935025-94-2.
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Visual Culture – unter diesem oder ähnlichem Titel erscheint seit Mitte der 90er Jahre eine Reihe einführender Aufsatzsammlungen im angloamerikanischen Bereich. 1 Der von Monika Schmitz-Emans und Gertrud Lehnert herausgegebene Tagungsband Visual Culture ist nicht etwa ein deutsches Pendant dazu; vielmehr steht der Titel in heimlicher Spannung zum Untertitel Beiträge zur XIII. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Potsdam, 18.-21. Mai 2005. Gegen Ende der Einleitung von Monika Schmitz-Emans wird das explizit gemacht:

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»Visual culture« als Thema der Komparatistik: das könnte auf den ersten Blick den Befürchtungen derer Nahrung geben, die die Identität der Literaturwissenschaft angesichts einer angeblich oder tatsächlich bevorstehenden Absorption durch kulturwissenschaftliche Forschung gefährdet sehen und kritisch fordern, die Literaturwissenschaftler möchten nicht nur aus Gründen der Professionalität bei ihren Leisten bleiben, sondern auch, weil eine Subsumption der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit literarischen Texten unter kulturwissenschaftliche Fragestellungen diese Texte als Exempel umfassender kultureller Strukturen, Zusammenhänge und Entwicklungen in den Blick nehme und deren ästhetischer Dimension ein allenfalls untergeordnetes Interesse widme. (S. 24)
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Schmitz-Emans hält diesen Befürchtungen zwei Argumente entgegen: Erstens gehe es bei Visual Culture »immer auch um die Frage nach der Signifikanz der Sprache und sprachlicher Darstellungsverfahren in einer Kultur der Bilder«, zweitens sei Literatur seit jeher ein bevorzugter Ort der Reflexion von Bildern und »Bilderzeugungsmechanismen« gewesen (S. 24). Das erste Argument lässt sich schon nach einem kurzen Blick auf die Inhaltsverzeichnisse der oben angeführten Aufsatzsammlungen relativieren: Sprache und Literatur interessieren zumindest in den angloamerikanischen Visual Culture Studies eher am Rande. Das zweite Argument ist zutreffend, doch befassen sich Literaturwissenschaftler nicht erst (wenn auch wieder besonders lebhaft) im Zeichen von visual, pictorial und iconic turn mit dem Verhältnis von ›Text und Bild‹. Sie tun dies zumal in der Tradition der hermeneutisch geprägten Interart oder Comparative Studies und nicht notwendigerweise im Rahmen der eher poststrukturalistisch orientierten Visual Culture Studies. 2 Das gilt auch für die Arbeiten von Schmitz-Emans, 3 und selbst ihre Einführung schenkt dem visual und pictorial turn, welche die Visual Studies begründen, weniger Aufmerksamkeit als dem iconic turn, ausgerufen von Gottfried Boehm, der »das spezifisch Bildhafte am Bild« (S. 15) herausarbeiten will. 4

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Warum also müssen »Anschlußstellen der Komparatistik« an die Visual Studies gesucht werden, um solche Wechselbezüge zu analysieren (S. 29)? Pointierter als in der Einleitung wird diese Frage im Waschzettel und einem englischen »Summary« am Schluss des Bandes beantwortet: Comparative Arts konzentrierten sich vorrangig auf »Bilder und Texte«, womit offensichtlich vor allem gemeint ist: auf bildende Kunst und Literatur. Visual Culture Studies dagegen bezögen sich auf »alle visuellen Praktiken« bzw. »grundsätzlich auf Praktiken des Sehens und Zeigens«, was angesichts der »eminent effectiveness of visual media, exeeding previously experienced dimensions« (S. 397) dringend geboten sei. Comparative Arts fragten vor allem, »wie ein Medium das andere abbildet«; Visual Culture Studies dagegen berücksichtigten den »gesamten kulturellen Kontext«. Interessanterweise fehlen Hinweise auf eine Fundierung der Visual Arts in dekonstruktivistischen, medientheoretischen oder ideologiekritischen Theoremen – soll hier also so etwas wie Visual Culture ›light‹ erprobt werden?

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1. Programm der Rezension und Aufbau des Bandes

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Um das Verhältnis der Einzelbeiträge zu Comparative Arts bzw. Visual Studies genauer zu bestimmen, möchte ich sie, sofern möglich, zunächst einer Typologie von Arbeitsfeldern im Bereich Literatur und Bildende Kunst zuordnen, die Ulrich Weisstein 1992 in der Einführung seines gleichnamigen Sammelbandes vorgelegt hat. In einem zweiten Schritt werden Beiträge, die sich Weissteins Programm nicht zuordnen lassen, einem erweiterten Programm von Bildlichkeit folgend vorgestellt.

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Damit stelle ich, grob gesagt, den triadischen Aufbau des Bandes auf den Kopf: Der erste Teil trägt den Titel »Konzepte des Visuellen und seiner Semantik« und setzt sich, wie Schmitz-Emans in einer vorangestellten Übersicht formuliert, »auf allgemeiner und grundlegender Ebene mit dem Konzept der ›Bildlichkeit‹ auseinander« (S. 29). Der zweite Teil ist mit »Techniken der Sichtbarmachung« überschrieben: »Sehweisen, Bild-Typen und Techniken der Bilderzeugung werden dabei unter der Leitfrage nach ihrer jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Funktion analysiert und als Indikatoren komplexer historischer Semantiken betrachtet« (S. 30). Der dritte Teil scheint die größte Affinität zu den Comparative Arts aufzuweisen, geht es doch um »die Relationen der bildenden Kunst zur Literatur« (S. 31), wobei die Überschrift »Bündnisse, Komplementaritätsbezüge, Rivalitäten« mehrere mögliche Ausprägungen andeutet.

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Allerdings verschwimmt die Gliederung bei näherem Hinsehen: So findet sich die Fallstudie Angelika Baumgarts zu Brian Stanley Johnson im ersten und Christian Deulings Studie zu Karikatur-Kommentaren im Bildjournal London und Paris im zweiten Teil. Unklar ist also, warum manche Beiträge als allgemein und exemplarisch betrachtet werden und andere nicht, unklar ist auch, ob ›Bildende Kunst‹, ›Bilder‹, ›Bilderwelten‹ und ›das Visuelle‹ einschließlich dem Prozess des Sehens differenziert oder in Eins gesetzt werden sollen. 5 Die letztgenannte Unschärfe wird im Folgenden insofern ausgenutzt, als ich zwar von Weissteins Begriff »Kunstwerk« ausgehe, diesen aber, aktuellen Entwicklungen der Kunstgeschichte entsprechend, in Richtung »Bild« entgrenze.

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2. Texte als Schrift-Bilder 6

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Dass Literatur die visuelle Dimension der Schrift gezielt ausstellen kann, führt Dagmar Burkhart im ersten Teil ihres Beitrags »Sichtbares und Unsichtbares in Texten« anhand von Beispielen visueller Poesie vor. Deren Effekt beschreibt sie unter Rückgriff auf Peirce als »Interferenz« zwischen der ikonischen und der (normalerweise dominanten) symbolischen Dimension der Signifikanten; insgesamt entstehe eine »Text-Konstellation«, die »flächig, statt linear strukturiert« sei (S. 102). Letzteres ist zu relativieren: Die Gewohnheit, entlang einer linearen Struktur zu lesen – im Fall der im Sammelband vertretenen Sprachen von links nach rechts und/oder von oben nach unten – nutzen meines Erachtens auch die hier abgedruckten Bild-Texte, um eine Spannung zur Flächigkeit zu erzeugen; andererseits ist daran zu erinnern, dass auch ›normale‹ Texte nicht streng linear aufgenommen werden. 7

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»Die Kehrseite der Visualität ist die Invisualität«, formuliert Burkhart weiter und demonstriert dies an Eugen Gomringers Konstellation schweigen: Das vierzehnmal wiederholte Wort »schweigen« bildet ein Rechteck, in dem nur die Mitte, so umfangreich wie ein fünfzehntes »schweigen«, unausgefüllt ist. Nach Burkhart »ikonisiert der unsichtbare Intext [...] den semantischen Inhalt Schweigen als das Verschwinden oder die Abwesenheit von Sprache bzw. Schrift« (S. 104). Die eigentliche Pointe scheint mir jedoch zum einen zu sein, dass auch das Gegenteil von Schweigen – gesprochene Rede – zunächst nicht visuell in Erscheinung tritt; visuelle Absenz steht hier also für akustische Absenz. Zum anderen wird die Präsenz der Zeichen, welche die Absenz ja erst definiert, durch ein Wort realisiert, das semantisch eine Abwesenheit bezeichnet.

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Damit ist – wieder in Peirces Terminologie – der Interpretant angesprochen, der im Falle symbolischer Zeichen keine direkten materiellen Spuren hinterlässt und sich erst in der Imagination des Lesers konstituiert. Ihm will Burkhart im zweiten Teil ihres Beitrags näherkommen. Sie thematisiert »das Phantasma des Mantels« in Uwe Timms Erzählung Der Mantel und Nikolaj Gogols Prätext (S. 105), womit die Ersetzung des eigentlich ersehnten Liebespartners durch ein Kleidungsstück gemeint ist, und bezeichnet es in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen als »anagorische Exegese«, »Allegorese«, »Finalen Interpretanten« und »parabolischen Interpretanten« (S. 106). Systematik und Erkenntniswert dieser Melange aus Peirce’scher Semiotik und Lehre vom vierfachen Schriftsinn haben sich mir nicht erschlossen.

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Dass auch Romane mit ihrem visuellen Erscheinungsbild spielen können, ist spätestens seit Sternes Tristram Shandy bekannt, einem Vorbild des avantgardistischen Erzählers Brian Stanley Johnson. Angelika Baumgart arbeitet heraus, wie Johnson den »Text- und Buchraum« (S. 124) nutzt, um die Erwartung linearer Rezeption auch hinsichtlich eines geordnet präsentierten Plots zu demontieren: von Text-Konstellationen, die mit Fotos korrespondieren (Street Children, 1964), bis zur Verbindung von Erzählung und doppelter Buchführung in Malry’s Own Double-Entry (1974). Das buchstäblich spektakulärste Beispiel ist Johnsons Buchobjekt The Unfortunates (1969): Eine Schachtel enthält 28 Romanteile (»Signaturen«), von denen nur der erste und letzte gekennzeichnet sind – in welcher Reihenfolge die übrigen gelesen werden, entscheiden die Leser. Baumgarts Analysen dieser Visualisierungsstrategien überzeugen zumeist, leider jedoch eifert sie stilistisch dem verwegenen Duktus Johnsons nach und produziert so eine Unmenge ärgerlicher Manierismen und Katachresen. 8

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Gomringers und Johnsons Experimente muten geradezu schlicht an, wenn man sie mit Mallarmés Un coup de dés jamais n’abolira le hasard vergleicht. Sebastian Hartwig zufolge entdeckt Malarmé in dieser Typographie» allererst „den Weißraum« und gewinnt »dessen gestalterisches Potential zur Darstellung des Undarstellbaren« (S. 311). Auch diese Darstellung kann sich freilich nur in einer Dialektik von materieller An- und Abwesenheit entfalten. Hartwigs Beitrag führt eindrucksvoll vor Augen, dass, wer die Materialität anspruchsvoller Schrift-Bilder interpretieren will, nicht weniger von Drucktechnik verstehen sollte als der Deuter eines Sonetts von Metrik: Indem Malarmé typographisch die Buchseite zur Doppelseite hin überschreitet und die Leseordnung einer Partitur evoziert, fordert er, so Hartwig, den Leser zu simultaner statt linearer Rezeption heraus; unterschiedliche Kegelhöhen suggerieren Raumtiefe, und »Clusterbildungen divergierender [...] Auszeichnung, Satzart und Durchschusses« vervielfachen die visuellen Bezüge (S. 319). Hartwig geht auch auf die noch von keiner Edition voll verwirklichte Schriftartenauswahl Malarmés ein und zeigt, dass insbesondere die Antiqua Firmin Didot dazu dienen sollte, »die Auflösungsprozesse von Un Coup de dés zu visualisieren«, da »bei einiger Entfernung in der Betrachtung des materiellen Schriftsatzes die Haarlinie auf dem Papier verschwindet, als würde sich die Schrift selbst entmaterialisieren« (S. 319).

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Die optische Präsentation ist nicht nur für visuelle Poesie entscheidend, sondern auch für metrisch ungebundene Gedichte, insofern deren spezifische Spannung vor allem zwischen grammatischer Struktur und Verseinteilung, – sprich: Zeilenende – entsteht. Diese Erkenntnis des russischen Metrikers Boris Jakovlevič überträgt Sebastian Donat auf die Analyse eines vermeintlichen Gedichtes von Paul Klee durch Roman Jakobson. Tatsächlich handelt es sich bei Zwei Berge gibt es um einen Tagebucheintrag, den Klees Sohn Felix erst 1960 als Gedicht veröffentlicht hat. Jakobsohn kritisiert Felix Klees Versaufteilung und geht von einer sehr viel symmetrischeren aus – angeblich aufgrund metrischer Befunde. Diese kann Donat überzeugend entkräften: Jakobson rekonstruierte nicht regelmäßige, sondern konstruierte Freie Verse. Dabei ging es jedoch gerade nicht um eine Spannung zwischen Vers und Grammatik, vielmehr überführte er die »linear-temporale Sukzessivität« von Klees Text »in die optische Simultaneität der Fläche«, um allererst »einen geeigneten Gegenstand für eine strukturale Analyse« herzustellen (S. 364).

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3. Bild-Textkombinationen

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Vielleicht noch augenfälliger wird die Affinität von ›Wort und Bild‹ im Fall von »synoptische[n] oder symbiotische[n] Gattungen« 9 , die in jüngster Zeit vor allem am Beispiel des Comics vorangetrieben worden sind. 10 Roger Lüdeke untersucht das Zusammenwirken von Bild, Schrift und Narration in William Blakes Book of Urizin (1789–94), das in freien Versen und visionären grafischen Bildern erzählt, »wie sich der Titelheld aus der ganzheitlichen Weltordnung der Ewigkeit abspaltet und sich als absolutistischer Herrschergott etabliert« (S. 287). Anhand des Prologs zeigt Lüdeke zunächst auf inhaltlicher Ebene, dass die Sprechinstanz sich »zwischen den transzendenten Herrschaftsansprüchen der ›Eternals‹ einerseits und den weltimmanenten Herrschaftsansprüchen des Urizen andererseits« verortet (S. 291). Diese Zwischenstellung wird auf der zweiten Platte des Book of Urizen (A) durch eine ungleichmäßig dicke, vielfach gewundene Linie visualisiert, die das letzte Wort der ersten Strophe – »solitary« – mit dem ersten Wort der zweiten Strophe –»Eternals« – verbindet. (Wenn man die Linie von links nach rechts ›liest‹, führt sie freilich in umgekehrte Richtung; vgl. Abb. S. 292, wo das Lesen des Textes leider zum Augentest wird.) In einer subtilen Interpretation von Platte 20 (A) demonstriert Lüdeke, wie Blake diese Zwischenstellung auf den korrespondierenden Ebenen von Grammatik, Vers- und Stropheneinteilung, Handlung und bildlicher Darstellung im Akt der Rezeption erfahrbar macht, und zwar in doppelter Weise: zum einen als Spaltung, zum anderen als Oszillieren zwischen mehreren Deutungsmöglichkeiten. Vor allem aber interpretiert er sie als einen »Indifferenzbereich zwischen tierischer und menschlicher Existenz« (S. 295) und kontrastiert diese Auffassung mit politischen Souveränitätstheorien von Edmund Burke, Thomas Paine und insbesondere Thomas Hobbes. Dieser argumentiert im Leviathan, dass nur der absolutistische Despot als »mortal God« die menschliche Kultur vor der Bedrohung durch die Wolfsnatur des Menschen bewahren könne. Blakes Prophetie, so Lüdeke, überführt dieses Konstrukt in die Erzählung vom Leviathan Urizen, kritisiert aber die aus dessen Gesetzgebung folgende Unfreiheit und macht »die Unverfügbarkeit der Unterscheidung zwischen Kultur und Natur [...] im skripturalen Zusammenhang [...] dadurch beobachtbar und ästhetisch erfahrbar, daß er die Spannungsverhältnisse von Körper-Spur und Zeichenhandlung als Ort für eine potenzierte Sinnerfahrung mobilisiert« (S. 296).

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Dies ist die erste dezidiert kulturwissenschaftliche Wendung der bisher besprochenen Beiträge; Lüdeke beruft sich insbesondere auf Derrida und Agamben. 11 Seine These ist anregend, ließe sie sich aber wohl plausibler machen durch eine Darstellung von Blakes politischen Anschauungen, die über den bloßen Hinweis auf Blakes America, Europe und den Sammelband Historizing Blake (S. 285) hinausgeht – und womöglich durch einen Vergleich zwischen Blakes Urizen-Darstellungen (besonders Platte 1) und dem berühmten Frontispiz des Leviathan. 12

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4. Ekphrasis

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Die literarische Evokation realer oder auch fiktiver Kunstwerke, für die sich seit Leo Spitzer der (eigentlich weiter gefasste) Terminus Ekphrasis eingebürgert hat, ist auch deshalb ein Lieblingsgegenstand der Comparative Arts, weil sich hier, so scheint es, Lessings »Grenzen der Malerei und Poesie« besonders gut studieren lassen – oder, im Gegenteil, grenzüberschreitende Äquivalenzen. Nicht zufällig ist Gottfried Boehm ein Herausgeber der immer noch wichtigsten Aufsatzsammlung zum Thema. 13 Doch auch in kulturwissenschaftlich geprägten Studien wächst das Interesse für Ekphrasis. Typischerweise wird der Begriff dabei erneut entgrenzt, wenn auch nicht im antiken Sinn von ›lebendiger Beschreibung‹, sondern von Intermedialität. 14

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Monika Schmitz-Emans hat zu Recht angemerkt, dass man unterscheiden sollte zwischen Ekphrasen, die Kunstwerke für die Phantasie des Lesers ersetzen müssen, und solchen, die sich auf beigefügte Reproduktionen beziehen. 15 Berühmtestes Beispiel für letztere, oft Bildkommentare genannt, ist G. C. Lichtenbergs ausführliche Erklärung der Hogarthschen Kupferstiche. Das Angebot, dieses Projekt fortzusetzen, lehnte der Altphilologe, Journalist und Lichtenberg-Bewunderer Carl August Böttiger wohlweislich ab, kommentierte aber seit 1798 englische und französische Karikaturen für Friedrich Justin Bertuchs Bildjournal London und Paris. Christian Deuling skizziert das Zustandekommen der Zeitschrift wie der einzelnen Kommentare, nennt Böttigers Quellen und zeigt, wie er in den Schrift- und Bildteil der Karikaturen eingriff, um schon auf dieser Ebene das Verständnis zu erleichtern, mitunter aber auch, um die Aussage zu ändern. Vor allem aber zeigt Deuling exemplarisch, dass Böttiger nicht nur »interpikturelle« Anleihen James Gillrays bei Hogarth erkannte (z.B. die Technik, »das Thun der Menschen auf demselben Blatte noch einmal durch die animalische Natur der sie umgebenden Hausthiere zurückzuspiegeln«, zit. n. S. 174), sondern selbst Verfahren Lichtenbergs übernahm: etwa das »Vorgehen, sich von dem im Bild Dargestellten zu eigener Imagination leiten zu lassen« (S. 181). Beachtenswert scheint mir auch Deulings Beobachtung, dass Böttiger einer der ersten war, der »das Hässliche in den Karikaturen [...] nicht länger pauschal kritisiert, sondern als notwendige Formensprache der Karikatur akzeptiert« hat (S. 182). Der Altphilologe Böttiger gab der Karikatur sogar die Weihen einer recht unklassizistischen Antike, indem er sie als moderne Entsprechung zur aristophanischen Komödie wertete.

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Wie Deuling bewegt sich auch Dieter Burdorf mit seiner Frage »Gibt es poetische Stillleben?« ganz in den Bahnen der Comparative Arts. Er bejaht seine Frage nach einem kurzen Blick auf Charakteristika des kunstgeschichtlichen Genres und der überzeugenden Analyse von Gedichten Rilkes, Steins, Celans, Kraussers und Nootebooms und regt an, eine Geschichte der postulierten lyrischen Gattung zu schreiben. Burdorf vermeidet allerdings eine Definition von »poetischen Stillleben« 16 . Geht es also lediglich um Gemäldegedichte zu realen (Noteboom) oder imaginierten Bildern (Krausser)? Dann wäre sein Befund kaum überraschend; auch müsste man fragen, ob diese Gedichte grundlegend anders verfahren als beispielsweise solche auf Landschaftsgemälde oder als Stilleben-Ekphrasen in Prosa. Offenbar geht es jedoch um Gedichte und um in unbestimmter Weise als ›lyrisch‹ apostrophierte Kurzprosa, die einige für künstlerische Stillleben typische Gegenstände (Burdorf interessiert sich vor allem für Obst) in einer dem künstlerischen Genre unbestimmt analogen Weise präsentieren. Dabei ist die Gattungszuordnung jedoch (sofern das Gedicht nicht gerade, wie im Fall des Celan-Beispiels, die Überschrift Stilleben trägt [S. 377f.]) mitunter anfechtbar. Gertrude Steins Kurztext Apple, der aus einer Aufzählung von Nahrungsmitteln sprachassoziative Funken schlägt, ohne eine geschlossene Bildvorstellung aufkommen zu lassen, wird als poetisches Stillleben verstanden, weil er die angeblich für eine Untergattung typische Strategie der »Sektion« verfolge (S. 372, 376f.); das dreizehnte und fünfzehnte der Sonette an Orpheus sollen hingegen keine »poetischen Stillleben« sein, obwohl sich für beide Gedichte die ebenfalls typische Strategie der »Evokation« nachweisen ließe (S. 372–376). 17

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5. Grafische Bilder und visuelle Inszenierungen als Thema der Literatur

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»Literarische Werke, die fiktive oder historisch belegte Maler, Bildhauer, Architekten und deren Werke zum Gegenstand haben oder kunstgeschichtliche Probleme thematisieren,« sind ein bevorzugter Gegenstand von Comparative Arts, spielen in diesem Tagungsband aber naheliegender Weise keine Rolle. 18 Ersetzt man »Kunst« jedoch durch einen weit gefassten Begriff von »graphic images« (Mitchell) 19 oder visueller Inszenierung, so lassen sich die Beiträge von Shaun F.D. Hughes über das Motiv des Tattoos bei Sia Fiegiel und von Uwe Lindemann über »Literatur und Warenhauskultur um 1900« dieser Rubrik zuordnen.

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Die 1967 geborene samoanische Autorin Sia Figiel interessiert sich, Hughes zufolge, vor allem für das Schicksal von Frauen, die in einer konservativ-hierarchischen Gesellschaft unter postkolonialen Verhältnissen um ihren Platz kämpfen. In ihrem jüngsten Roman They Who Do Not Grieve verknüpft sie die Geschichte dreier Generationen von Frauen in Samoa und Neuseeland durch das »leitmotif [sic!] of the traditional Sāmoan women’s tatoo« (S. 241). Die beiden Freundinnen Tausi und Lalolagi lassen sich 1941 gemeinschaftlich tätowieren, was der sozialen Funktion des Tattoo und des Tätowierakts entspricht: Das Wort malū steht nicht nur für das Schenkeltattoo der Frauen, sondern konnotiert auch Geborgenheit und Schutz. Diese Semantik wird jedoch durch Leidenschaften erschüttert. Tausi erhält zwar ein vollständiges malū, verfällt aber dem Tätowierer und wird von ihm abgewiesen; Lalolagi dagegen wird von ihm verführt und von der eifersüchtigen Freundin an die Ehefrau des Künstlers verraten, so dass nicht nur ihr malū unvollständig bleibt (nur am linken Schenkel), sondern ihr zur Strafe ein Ohr abgeschnitten wird. Damit ist Lalolagi zu einem Leben am Rande der Gesellschaft gezwungen, findet jedoch gemeinsam mit ihrer Enkelin, die kein Tattoo trägt, aber Malu heißt und wegen der von ihrem Vater ererbten dunklen Haut diskriminiert wird, »the way to cultural self-awareness, self-identity and individual recuperation« (S. 247). Tausi dagegen wird durch ihr Tattoo ständig an ihren Verrat gemahnt, zumal dem Fluch Lalolagis zwei Töchter und zwei Schwiegertöchter zum Opfer fallen. Erst ihrer Enkelin Alofoa gelingt es, ihr eigenes malū umzudeuten im Sinne eines selbstbestimmten Lebens.

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Es wird deutlich, dass der Roman einen kulturwissenschaftlichen Zugriff geradezu herausfordert, allerdings spricht Hughes etwa das Paradigma der Postcolonial Studies eher pflichtschuldig an, ohne es für die Interpretation zu nutzen. 20 Unter dem Vorzeichen von Visual Culture ist zu fragen, ob nicht auch die konkrete Erscheinung der malū und ihr Status zwischen Körperlichkeit und Bildlichkeit zu thematisieren wären. 21 Der anfängliche Rekurs auf die Theorie des französischen Psychologen Didier Anzieu vom ›Haut-Ich‹ ist zu knapp (S. 421f.) und wird nicht klar erkennbar mit der ausführlichen Inhaltswiedergabe vermittelt, die den Hauptteil der Studie ausmacht.

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Während sich das Tattoo noch als »ein so kulturspezifisches wie semantisch hochkomplexes Bildmedium« verstehen lässt, 22 bestimmt Uwe Lindemann Warenhauskultur des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts einleuchtend als »eine Maschine visueller Performanzproduktion« (S. 210). Beginnend bei der Architektur, die das Warenhaus nach außen wie innen als offenen Raum gestaltet, über die Präsentation der Waren selbst, »die von haptischen und olfaktorischen Reizen unterstützt wird«, bis hin zur Verführungskunst der Verkäuferinnen und Verkäufer geht es, so Lindemanns These, darum, »über die sinnliche Affizierung einen Kontrollverlust bei den Warenhausbesuchern herbeizuführen« (S. 198). Frauen werden dabei besonders umworben und nutzen gerne die Möglichkeit, der häuslichen Monotonie zu entkommen, vor allem aber, einmal nicht nur Schauobjekte zu sein, sondern zu schauen. Doch auch Männer zeigen sich verführbar durch die »Logik der visuellen, sexuellen, moralischen und sozialen Transgression«, die Lindemann zufolge erst ermöglicht wird »durch die transgressive Kraft, welche dem Geld inhärent ist« (S. 209).

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Dies alles wird von den Zeitgenossen »in vielfacher Weise literarisch und nicht-literarisch reflektiert« (S. 210), und Lindemann entwickelt seine Thesen ebenso präzise aus Erzählungen von Emile Zola bis Vicky Baum wie aus wirtschaftshistorischen Untersuchungen. Auf den ersten Blick könnte der Beitrag allerdings die in Schmitz-Emans‘ Einführung angesprochenen Comparative-Arts-Vertreter in ihrem Verdacht bestätigen, literarische Texte würden im Zeichen der Visual Culture zwangsläufig zum bloßen Exempel degradiert. Doch wenn Lindemann aufzeigt, dass bereits Zolas früher Warenhaus-Roman Au Bonheur des Dames (1833) »nach dem Prinzip [funktioniert], dass jeder Transgression eine Reglementierung entgegengesetzt wird« (S. 209), sagt dies sowohl etwas über die Struktur dieses Romans aus wie über die im Roman reflektierten ökonomisch-sozialen Wechselwirkungen. Zudem wäre es ebenso möglich wie wünschenswert, auch die narrative »Inszenierung« der Warenschau zu untersuchen, etwa in Bezug auf Darstellungsmodus (showing oder telling) und Fokalisierung.

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6. Textstrategien, Geschichte des Sehens und der Bildmedien

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Drei weitere von Weisstein identifizierte Themenfelder, die sich m.E. zusammenfassen lassen, sind »[l]iterarische Werke, bei deren Gestaltung bildkünstlerische Verfahrensweisen zur Anwendung gelangen«, 23 solche, »in denen versucht wird, verbale Entsprechungen zu bildkünstlerischen Bewegungen oder Strömungen zu erarbeiten« und solche, »die mit gleichzeitig entstandenen oder konzipierten Werken der Bildenden Kunst durch Programm oder Manifeste verbunden sind« 24 . Im vorliegenden Sammelband passt nur Burdorfs bereits besprochener Beitrag über »poetische Stillleben« in diese Kategorie, doch lässt sich die Rubrik wiederum sinnvoll erweitern, indem man »bildkünstlerische Verfahrensweisen« bzw. »Bewegungen oder Strömungen« ersetzt durch »Umbrüche in der Geschichte der Bildmedien und, in engem Zusammenhang damit, in der Geschichte des Sehens« (Schmitz-Emans, S. 30).

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Warum diese Entwicklungen auch literaturgeschichtlich und hermeneutisch von Belang sind, begründet Renate Brosch:

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Eine Literaturwissenschaft, die sich primär auf Texte als fertige Entitäten konzentriert, ignoriert eine ganze Anzahl von Prozessen, die in die Erfahrung von Literatur eingebunden sind: dass nämlich im Verlauf der Lektüre Raumvorstellungen und Konfigurationen entworfen werden, die mit konventionellen Voreinstellungen des Sehens und vorhandenen Imagologien abgeglichen werden. Aus diesem dynamischen Prozess resultieren neue Sichtweisen, die ihrerseits Bildlichkeiten beeinflussen. (S. 80)
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Brosch interessiert sich für die »Modernisierung der visuellen Kultur seit dem Ende des 18. Jahrhunderts«, die seit Jonathan Crarys Studie Techniques of the Observer (1990) 25 einen Ausgangspunkt zahlreicher Studien zur Visual Culture bildet – auch der vom Tagungsband abgedeckte Untersuchungszeitraum entspricht dem Crarys. Doch widerspricht Brosch »der gängigen Auffassung, dass die Literatur mit analogen wahrnehmungsästhetischen Innovationen mit der visuellen Revolution mitzog« und möchte zeigen, wie die Literatur auch versuchte, eine »zunehmend partikulare und selektierte Visualisierung« durch eigene Darstellungsstrategien zu kompensieren (S. 63). Brosch konzentriert sich auf englischsprachige Literatur und orientiert sich grob an Götz Großklaus‘ Unterscheidung von »Perioden panoramatischer, daguerrotypischer, kinematographischer, televisionaler und computerieller Wahrnehmungsweisen« (S. 65). 26 In Broschs Schlaglichtern scheinen dann aber doch überwiegend Korrespondenzen auf, etwa zwischen »panoramatische[r] Überschau« (S. 65) und auktorialen Erzählstrategien des Romans, zwischen photographischer Momentaufnahme und »momentverbürgende[n] freeze-images der Literatur« (S. 69), »stereoskopische[m] Bild« und multiperspektivischer Erzählweise (S. 70), »Geschwindigkeitszunahme des Alltagsgeschehens im 19. Jahrhundert« und der Figur des Flaneurs (S. 71), Serienphotographie und Comic Strip, filmischem »Bilderstrom« und »stream of consciousness« (S. 74), zwischen »migrierende[n] Bildern« (S. 76) und der wechselnden Dominanz von Erzählsträngen in postmoderner Literatur. Kompensatorisch sollen vor allem Strategien wirken, die, mit dem »Modernismus« einsetzend, »ein resistentes Rezipieren [schulen], das auch in heutigen Zeiten noch stärkerer Bildeffekte eine wirksame und einträgliche Rezeptionshaltung sein kann« (S. 76). Broschs Beispiel ist streng personales Erzählen. Dieses führe einerseits zu einer »Engführung von Textperspektive und Leserblick« und provoziere andererseits das Misstrauen der Leser gerade gegenüber »textlichen Visualisierungen« (S. 75). Broschs Gegenwartsdiagnose schwankt zwischen Sorge angesichts von »rapide[n] Bilderfolgen« und kurzen Aufmerksamkeitsspannen (S. 77) und der Hoffnung, durch die »Deterritorialisierung von visuellen Events« werde ein »widerständiges, ironisches, selektives und allgemein kreatives Rezipieren eingeübt«, das seine Entsprechung etwa in postkolonialer Literatur finde (S. 80).

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Die von Brosch behaupteten Beziehungen zwischen technischen Entwicklungen, Sehgewohnheiten und literarischen Visualisierungstechniken über rund 200 Jahre hinweg müssen in einem rund zwanzigseitigen Aufsatz notwendig thesenhaft bleiben. Belastbare Ergebnisse verspricht dagegen die Strategie Christian Mosers: Ebenfalls Craig folgend, geht er von einer Umbruchzeit visueller Wahrnehmung um 1800 aus und befragt London-Darstellungen in autobiografischen Texten Thomas De Quinceys und William Wordsworths auf ihre Wahrnehmungsstrukturen und deren mediale Voraussetzungen.

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In seinen Autobiographical Sketches berichtet De Quincey von seinem ersten, lediglich drei Stunden währenden London-Besuch im Jahre 1800, bei dem er während einer Kutschfahrt ein lebendiges ›picture‹ der Stadt gewonnen habe, während ihn die übliche Besteigung der Kuppel von Sant Paul’s nur eine ›map‹ hätte gewähren können (S. 153). Mit dieser Kontrastierung von ›map‹ und ›picture‹ rekapituliert er das Auseinandertreten von Stadtansicht und Stadtplan im 18. Jahrhundert, interpretiert ›picture‹ aber nicht etwa im Sinn eines szenographischen Städtebildes à la Canaletto, sondern rekurriert auf die aktuelle Theorie des Pittoresken: An die Stelle von Klarheit, Glätte, Harmonie und Vollständigkeit sollen Unregelmäßigkeit, plötzliche Abwechslung, verschwimmende Konturen und Atmosphäre treten. Zur »Verwandlung der Natur in Bilder« (S. 156) dienen vor allem zwei Hilfsmittel: den Blick mobilisierende Wanderungen und der Gebrauch des dunkel getönten, konvexen Schwarzspiegels, der die reflektierte Landschaft zusammenzieht und das Tageslicht dämpft. Diese Darstellungsprinzipien überträgt De Quincey, wie Moser präzise nachweisen kann, auf Wahrnehmung und literarische Darstellung der Großstadt und verschärft so die schon durch die Unübersichtlichkeit Londons vorgegebene »Tendenz zur Delokalisierung« (S. 157).

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Wordsworths Haltung zur Theorie des Pittoresken ist ambivalenter: Er begrüßt die »Entdeckung der Landschaft als eines ästhetischen Erfahrungsraums, insbesondere aber den peripatetischen Modus ihrer Erschließung«, wendet sich aber »gegen die Abstraktion eines Sehens, das seine lokalen und referentiellen Bezüge eingebüßt hat« (S. 158), und entwickelt in Buch XI von The Prelude sein Konzept der »spots of time«, das auf die »Synthetisierung von Lesen und Sehen mittels des ortsgebundenen symbolischen Bildes« zielt. Dabei verficht Wordsworth im Gegensatz zur aufklärerischen Rahmenschau »das Prinzip der sanften Rahmung, die den Wanderer zum Innehalten einlädt, ohne ihn jedoch zu immobilisieren« (S. 160). Die Übertragung dieses Prinzips auf die von ihm als visuelles Chaos geschilderte Großstadt (Buch VII berichtet ebenfalls von seinem ersten längeren London-Aufenthalt) scheint unmöglich, doch in Buch VII gelingt Wordsworth »ein poetisches mapping«, indem er die Peripherie aufsucht und unter Rückgriff auf Geschichte und Alltagsleben ihrer Bewohner ein »Netzwerk von Stätten [...] als Orte persönlichen Leidens markiert« (S. 162). Das lässt sich auch als Rückgriff auf frühe Stadtpläne verstehen, in denen die Darstellung gern mit einer grafischen Anspielung auf ein zentrales Ereignis der Stadtgeschichte verbunden wurde – und als Vorbild für die Technik des »social mapping« in späterer Großstadtliteratur diente (S. 164). Mosers Aufsatz liefert einen eindrücklichen Beleg für Broschs These von der teils affirmativen, teils produktiv-kritischen Reaktion von Literatur auf Dispositive des Sehen und lässt sich ebenso als gelungener Beitrag zu kulturwissenschaftlich erweiterten Comparative Arts verstehen wie als Beitrag zu philologisch fundierten Visual Culture Studies.

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Auf ein weiteres Werk Crarys, Aufmerksamkeit, 27 rekurriert Werner Nell:

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Literarische Texte, so die im Folgenden darzulegende These, treten im Rahmen der Moderne seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so wie das Jonathan Crary für die Bildgestaltung und die Konstruktion von Aufmerksamkeit im Bereich der Malerei gezeigt hat, damit in Erscheinung, dass sie die Erfahrungen der Sichtbarkeit der Dinge und des Lichts – in all seinen Abschattungen und Mischungen bzw. Dämmerungen – in einer ebenso poetisch konstruierten wie reflexiv gebrochenen Bilder-Sprache zeigen und gestalten bzw. dort, wo diese reflexive Brechung der poetischen Inszenierung fehlt, auch einer Produktion von Schein verfallen können, den von Wahrheit bzw. Wirklichkeit zu unterscheiden u.a. Einsatzpunkt des Denkens der Aufklärung und der mit den Anfängen der Phänomenologie verbundenen erkenntniskritischen Bestrebungen war. (S. 340)
[39] 

Die These scheint mir bedenkenswert, ihre Ausführung würde aber eher eine Monographie im Crary-Format erfordern als einen zwölfseitigen Artikel. Immerhin bieten die zitierten Passagen aus erzählerischen, meist semi-autobiografischen Texten von Viktor Šklovskij, Henri Alain-Fournier und Vladimir Nabokov durchaus Belegmaterial für die spielerisch-reflexive Tendenz phänomenologischer Beschreibungskunst, während Andrzej Stasiuk für surreal-mystische Tendenzen der Gegenwartsliteratur steht. Die Auswahl gerade dieser Autoren wird jedoch nicht begründet, und da Nell sich auch noch an einem rhapsodischen Abriss der Phänomenologie von Lambert bis Husserl versucht und einen gewissen Hang zur gelehrten Abschweifung zeigt, wird die Textanalyse, im Gegensatz zu Crarys Bildanalysen, allzu flüchtig erledigt.

[40] 

Anders verhält es sich mit Volker Pantenburgs Analyse der visuellen Dimension von Flauberts Text La Tentation de saint Antoine. Den Filmwissenschaftler interessiert nicht der deutliche ekphrastische Bezug zu Gemälden und Illustrationen, sondern die narrative Gestaltung des Sehens und der Seheindrücke. Diese werden zunächst erzähltechnisch genau beschrieben – La tentation wechselt nach einer Einleitung im Modus des »telling« sehr schnell zum »showing«, erinnert sogar stark an einen Dramentext mit Dialog und Regieanweisungen – und sodann überzeugend auf »Dispositive des Sehens« im 19. Jahrhundert bezogen. Die »Bühne« wird zum Panorama, und als der Teufel bzw. die Wissenschaft in Gestalt von Antonius‘ früherem Schüler den Heiligen bzw. dessen Imagination durch die Welt fliegen lässt (»voir« als »savoir«), wird der Dramentext quasi zum Drehbuch und lässt sich mittels filmanalytischer Termini wie »establishing shot« analysieren. Allerdings ist der Bezug zum Film im Fall eines 1874 erschienen Textes natürlich ein Anachronismus, was Pantenburg vermerkt, ohne eine Erklärung anzubieten: Haben dichterische Fantasien wie diese filmischen Verfahren vorgearbeitet? Und/oder gab es bereits, wie bei Brosch skizziert, eine Mobilisierung des Sehens in der Vorgeschichte des Films? 28

[41] 

7. Eine Doppelbegabung 29

[42] 

Literarisch-künstlerische Doppelbegabungen wie der schriftstellernde Maler und Plastiker Bernard Schultze, dem Marianne Kesting einen autobiografisch gefärbten Essay widmet, faszinieren Komparatisten besonders, zumal, wenn sie, wie der allzeit beliebte Blake, 30 Bild-Text-Kombinationen schaffen. Zu diesen könnte man Schultzes Bücher mit Grafiken und eigenen Gedichten rechnen, allerdings dürfen sie als »direkte Visualisierung des sprachlich Initiierten« nach Kestings Überzeugung, »wie übrigens auch bei den Breton-Surrealisten, keinesfalls gelten« (S. 274). Auch Schultzes Bilder zu Texten anderer Autoren und literarisch beziehungsvolle Betitelungen von Bildern und Skulpturen wie Innerer Monolog – ein Leben lang oder Jean-Paul-Landschaft seien »durchweg Phantasmagorien, entweder Anstoß zum Bild oder nachträgliche Assoziation, die zu verifizieren schwer halten dürfte« (S. 274). Stattdessen bietet Kestings erstens den Hinweis auf analoge Verfahrensweisen. Als Erbe des Surrealismus sehe Schultze in Texten und Bildern das »Ergebnis eines schöpferischen Trance-Zustandes, der zugleich das Moment der Zerstörung wie der Wucherung als Infragestellung des Beginns lanciert« (S. 272). Zweitens und eng damit verbunden gebe es Analogien zwischen den »Phantasmorgien« von Schultzes Kunst einerseits und andererseits seinen eigenen Texten, aber auch Texten von Baudelaire, Jean Paul, Bruno Schulz und Beckett. Diese Thesen stützt Kesting mit Insiderhinweisen sowie reichem Bild- und Textmaterial, doch leider nicht mit deren einlässlicher Analyse.

[43] 

8. Was ist ein Bild?

[44] 

Eine solche Analyse bedürfte allerdings wohl eines begrifflich-heuristischen Instrumentariums, das unterschiedliche Ausprägungen von Visualität bzw. Bildlichkeit etwas trennschärfer unterschiede als die von Kesting bemühten »Phantasmagorien« und damit eine systematische Erweiterung von Weisssteins Programm erlauben würde. William J. Thomas Mitchell, der das Schlagwort vom »pictorial turn« popularisiert hat, macht hierzu bereits in seinem Aufsatz What is an Image? von 1984 ein Angebot, auf das auch Schmitz-Emans’ Einführung kurz hinweist (S. 13). Er unterteilt images in die Kategorien »graphic (pictures, statues, designs), optical (mirrors, projections), perceptual (sense data, ›species‹, appearances), mental (dreams, memories, ideas, fantasmata)« und »verbal (metaphors, descriptions, writing)«. 31 Wichtig ist seine Klarstellung, dass keines dieser ›Bilder‹ stumm und starr ist – selbst ein Gemälde wird vom Blick des Betrachters, sofern er es denn als Bild wahrnimmt, ›belebt‹. Moshe Barrasch weist auf weitere Facetten des Bild-Begriffs hin: »eine Person oder Sache, die eine andere Person oder Sache oder etwas Allgemeines als Präfiguration (z.B. Abraham Christus), Abbild (z.B. eine Sache eine Idee), Ebenbild (z.B. der Mensch Gott) oder Inbegriff (z.B. Cato die Tugend) verkörpert, vorprägt, nachahmt oder sonstwie stellvertretend repräsentiert«. 32

[45] 

Vor dem Hintergrund dieser Einteilung lassen sich sprachliche Bilder als Versuche fassen, mentale Bilder bei Lesern zu erzeugen, die sich sowohl an optischen und perzeptuellen Bildern wie auch an grafischen Bildern orientieren oder auch mentale Bilder wie Träume und Erinnerungen simulieren können. Dabei sind Erinnerung und Fantasie der Leser keineswegs passiv, sondern tragen aktiv bei zur Formung eines inneren Bildes während der jeweiligen Lektüre. Andererseits gibt es auch kulturell geteilte Bildvorstellungen und -erinnerungen, die durch sprachliche Auslöser recht gezielt aktualisiert werden können. In diesem Zusammenhang wären altehrwürdige Begriffe wie Mimesis und Anschaulichkeit ebenso einzubeziehen wie Peirces Lehre vom Interpretanten und neue Diskurse über ästhetische Illusion, Kognition und (kulturelles) Gedächtnis.

[46] 

Beate Allerts methodisch anregender, wenn auch flüchtig gearbeiteter Artikel Horaz – Lessing – Mitchell 33 erweist nun keineswegs, wie Schmitz-Emans behauptet, »die Begrenztheit der Perspektive Mitchells« generell (S. 29), sondern zeigt sogar auf, dass dessen Unterscheidungen bereits im wohl wichtigsten Referenztext der Comparative Studies angelegt sind: in Lessings Laokoon. 34 Allerdings kritisiert Allert mit Recht, dass Mitchell die »Grenzziehungen« Lessings zwischen den medialen Bedingungen sprachlicher und grafischer Bilder »als Ausgrenzungen von Bildern zugunsten bildentleerter Worte« missversteht (S. 38, Anm. 4) und ihn rundweg zum Ikonoklasten erklärt. Daran ist Lessing nicht ganz unschuldig, gebraucht er doch im Kampf gegen die gedankenlose Gleichsetzung grafischer und sprachlicher Bilder Formulierungen, welche die Dichtung auf eine reine Sukzession willkürlicher Zeichen reduzieren. Doch konstatiert Allert zutreffend, dass er sie insgesamt »in einer Spannung zwischen den Koordinaten Raum und Zeit« (S. 38) und zwischen Malerei und Musik sieht.

[47] 

9. Was ist Sehen?

[48] 

Im Anschluss an den Laokoon sehen manche Theoretiker nicht nur einen fundamentalen Unterschied zwischen sprachlichen und grafischen, sondern auch zwischen sprachlichen und perzeptuellen Bildern. 35 Dieser ist jedoch angesichts neuerer Erkenntnisse insbesondere der Neuro- und Kognitionswissenschaften zu »Visualities beyond Occularcentrism« deutlich zu relativieren. 36 Sie bestätigen Merleau-Pontys phänomenologisches Modell des leibgebundenen Sehens, das Susanne Stemmler in einer prägnanten Skizze vorstellt: Sehen ist keine passive, sondern eine aktive, ja »eine poetische Leistung unseres Auges« (S. 52). Das Gesehene ist aber auch nicht einfach Objekt des Auges: »Sehender und Sichtbares sind ineinander verschlungen, gehören derselben Welt an« (ebd.). Insofern lässt sich Sehen als »Tasten mit dem Blick« (ebd.) verstehen oder mit einer anderen erhellenden Metapher: »Für Merleau-Ponty ist der Blick selbst der Schleier, der das Objekt einhüllt, abtastet und vermählt« (S. 55). Das heißt aber auch, dass das Gesehene den Blick mitbestimmt, ihn irritieren und sich ihm auch entziehen kann.

[49] 

Stemmler veranschaulicht Merleau-Pontys Theoreme, dessen eigene Praxis fortsetzend, an Beispielen moderner Kunst (Giocometti, Turrell, Tàpies, Pollock) und überlässt die Applikation auf Literatur den Lesern. Doch verweist sie auf Claudia Olks Beitrag im selben Band, der die Bedeutung des Schleiers bzw. des »Diaphanen« für Virginia Woolfs »Ästhetik des Sehens« untersucht, und zwar »als literaturästhetische Kategorie, als Strukturelement und als Präsentationsform« (S. 336).

[50] 

In ihren literaturästhetischen Aufsätzen greift Woolf »den tradierten Dualismus von Präsenz und Repräsentation« (S. 329) an, der insbesondere im realistischen Roman oft als simples 1:1-Verhältnis im Sinne von »Eindeutigkeit, Transparenz und Unmittelbarkeit« gedacht wird (S. 328). Dagegen setzt sie »die Vorstellung des Ungeschaffenen, des Möglichen und Unvollständigen«, das im metaphorischen Feld des »Diaphanen« sinnfällig wird (S. 329). Wenn Woolf allerdings Chaucers »undraped sentences« mit schönen Frauen »so slightly veiled that you see the lines of their bodies as they go« vergleicht oder formuliert, dass bei E.M. Forster »the paraphernalia of reality have at certain moments to become the veil through which we see infinity« (zit. n. S. 330), so scheint mir die Schleier-Metapher weniger die »Unverfügbarkeit« des Referenten im Sinne des Verbergens zu thematisieren (S.  28) – die Schleier lassen ja durchaus etwas sehen, heben manches sogar hervor – als die »ästhetische Produktivität« (S. 327) poetischer Sprache, die nicht abbildet, sondern hinweist und die Phantasie des Lesers zur Ergänzung herausfordert.

[51] 

Beispiele für den expliziten Einsatz der Schleier-Metapher in Woolfs Erzählwerk führt Olk zwar nicht an, kann aber plausibel machen, dass in Analogie dazu die »narrative Darstellung von Wahrnehmungssituationen, die das Unbestimmte in den Blick nehmen« (S. 330), also Nebel, Dunst, Dämmerung, »eine Erweiterung der Wahrnehmungskapazitäten und eine Entgrenzung des wahrnehmenden Subjekts« leistet (S. 332). Eine besonders interessante Variante ist die »Darstellung eines Blicks durch Tränen« (S. 334), sofern sie die subjektive Befindlichkeit der Figur als Voraussetzung des Sehens anschaulich macht.

[52] 

An Mitchells anschließend könnte man also formulieren, dass Woolf auf verschiedenen Ebenen sprachliche Bilder verwendet (die Metapher vom Schleier der Sätze, die Schilderung eines Blicks in den Nebel), die der Struktur perzeptueller Bilder entsprechen; besonders deutlich wird diese Entsprechung im Hinblick auf Merleau-Pontys Metapher vom Blick als Schleier. Die Analogie zwischen sprachlichen und perzeptuellen Bildern wird noch sinnfälliger in der Synästhesie, die – wie ich sagen würde – sowohl eine Sonderform der Metapher bezeichnet als auch eine sie begründende, wenn auch deutlich von ihr zu unterscheidende mentale Begabung, in der sich beispielsweise »die notwendige Verknüpfung des Sehsinns mit den anderen Sinnen« (Stemmler, S. 50) manifestiert. 37

[53] 

Der Beitrag von Ines Theilen will jedoch erweisen, dass die Synästhesie gerade nicht als Sonderform der Metapher zu verstehen ist, sondern als paradoxale Figur, welche »durch die Zusammenführung von Sinnesbereichen eine Spannung« erzeugt, »die nicht in Bedeutung aufgelöst werden kann und statt dessen auf die Spur einer sinnlichen Erfahrung im Sinne der atmosphärischen Wahrnehmung führt«. Mithin sei sie »nicht als ›Sprachbild‹, sondern als ein gegen das Primat des Visuellen gerichtetes narratives Element« zu verstehen (S. 119). 38 Nun gibt es durchaus bedenkenswerte Einwände gegen die Subsumierung poetischer Synästhesie unter die Kategorie Metapher. 39 Der Argumentation Theilens liegt jedoch die weder von Mitchell noch von den meisten Metaphern-Theoretikern vertretene Annahme zugrunde, sprachliche ›Bilder‹ und insbesondere Metaphern seien ausschließlich visuell. Die zweite Grundannahme ist, dass Metaphern prinzipiell »in Bedeutung aufgelöst werden« könnten. Sie entspricht dem aristotelischen Modell vom ›uneigentlichen‹ Sprechen, das sich auf eine ›eigentliche‹ Bedeutung zurückführen lasse, oder auch Max Henles Rückführung der Metapher auf strukturelle Ähnlichkeit zwischen Bildspender und Bildempfänger, nicht jedoch Max Blacks Filtertheorie: Ihr zufolge stellt die Metapher Ähnlichkeiten erst her, indem sie dazu herausfordert, Eigenschaften des Bildempfängers als dem Bildspender in irgendeiner Hinsicht ähnlich wahrzunehmen. 40 Theilen sieht zwar den Unterschied zwischen Henle und Black, behauptet aber, dass sich für literarische Synästhesien grundsätzlich nicht entscheiden lasse, welche Komponente Bildspender und Bildempfänger sei. Das lässt sich schon anhand der von ihrem Gewährsmann Bernhard Engelen angeführten Beispiele (S. 114) falsifizieren; 41 doch sogar Theilens Paradebeispiel aus Richard Flanagans Roman Gould’s Book of Fish macht meines Erachtens die kategoriale Scheidung zwischen Synästhesie und Metapher alles andere als plausibel:

[54] 
I am William Buelow Gould & I mean to paint for you as best I can, which is but poorly, which is but a rude man’s art, the sound of water on stone, the fool’s dream of the hard giving way to the soft, & I hope you will come to see reflected in my translucent watercolours, not patches of white cartridge paper beneath, but the very opacity of the souls themselves. (zit. n. S. 111). 42
[55] 

Zugegeben: Betrachtet man die Formulierung »Das Geräusch von Wasser auf Stein malen« (so Theilens Überschrift) isoliert, ist die »Richtung einer möglichen Übertragung« zwischen Malen und Klang unklar (S. 116). Ähnliches gilt aber auch für eine Metapher wie »Die Blumen des Bösen«. Außerdem gibt es den Kontext nun einmal, und selbst wenn man sich wie Theilen dafür entscheidet, »the sound of water on stone« nicht »als Apposition zum Vorhergehenden«, sondern »als direktes Objekt der malerischen Bemühungen zu verstehen« (S. 111, Anm. 1), ist doch festzuhalten, dass Gould das Wirkungsziel seiner Malerei im durch »&« angeschlossenen zweiten Satz noch einmal und zwar in metaphorischer Weise formuliert: Er hofft, in einer Weise zu malen, die den Betrachter unter den Farben statt der Flecken des Papiers ›die Undurchsichtigkeit der Seelen selbst‹ sehen lässt. Bedenkt man nun, dass es sich um ein Malen mit durchscheinenden Wasserfarben handelt, so entsprechen die Steine unter dem Wasser den weißen Papierflecken unter der Farbe. Damit aber ist bereits »das Objekt der malerischen Bemühungen« zugleich Metapher für eine Malerei, welche Wahrnehmung entgrenzt. Die Formulierung »to paint [...] the sound of water on stone« leistet also Ähnliches wie Woolfs Schleier-Metaphern.

[56] 

10. Fotos und Filme

[57] 

Ulrich Weisstein präsentiert in seinem komparatistischen Handbuch zwar Klaus Kanzogs Aufsatz Der Film als philologische Aufgabe und Erwin Koppens Reflexionen Über einige Beziehungen zwischen Photographie und Literatur, berücksichtigt die beiden Medien jedoch nicht in seiner Typologie komparatistischer Arbeitsfelder. 43 So kann man nur spekulieren, ob Fotos zur Bildenden Kunst und Filme vielleicht zu symbiotischen Gattungen gehören sollen. Im Rahmen der Visual Culture interessiert eher, ob Filme und Fotos primär als grafische oder optische Bilder zu verstehen sind (bzw. mit Peirce gesprochen als ikonische oder indexikalische Bilder), 44 doch soll es im vorliegenden Tagungsband ja, der Einleitung zufolge, immer auch um Literatur gehen. Insofern überrascht es, dass zwar der Filmwissenschaftler Volker Pantenburg eine Textinterpretation liefert, die erfolgreich film- und literaturanalytische Analysetechniken kombiniert (siehe oben, Abschnitt 6), dass aber die drei Beiträge zu Film und Foto so gut wie keine Brücken zur Literatur schlagen, obwohl zwei von Literaturwissenschaftlern stammen.

[58] 

Ich verzichte deshalb auf eine eingehende Besprechung dieser Beiträge, obwohl ich Ulrich Meurers These, es gebe im Film »einen faschistischen Leib und einen, der sich nicht zum Faschismus eignet« (S. 221), ebenso anregend finde wie mich Jörn Glasenapps Nachweis überzeugt, dass sich Karl Paweks Weltausstellung der Photographie (1964) zwar deutlich an Edward Steichens amerikanischer Fotoschau Family of Man (1955) orientiert, deren Optimismus jedoch gezielt unterläuft. Matthias Hursts Beitrag zu David Lynch dagegen wartet lediglich mit der kaum originellen Erkenntnis auf, dass es in dessen Filmen (mit Mitchell formuliert) weniger um die Herstellung optischer Bilder von Realität geht als um die Darstellung surrealer mentaler Bilder.

[59] 

11. Selbst- und Fremdbilder

[60] 

Grafische, mentale und literarische Bilder sowie »Abbilder« im Sinne von Barrasch gehen komplexe Beziehungen ein in jenen »Selbst- und Fremdbilder[n]«, mit denen sich die so genannte Imagologie beschäftigt, traditionell ein Teilbereich der Komparatistik, 45 der sich jedoch bereits »in den Kulturwissenschaften einen festen Platz gesichert hat«. 46 Allerdings kann die Vorstellung von Selbst- und Fremdbildern, wie Ruth Florack gezeigt hat, dazu verführen, individualisierten Kollektiven konstante und kohärente Bilder zuzuschreiben, zusammengeklaubt aus verschiedensten Texten, deren Funktion und insbesondere Literarizität unberücksichtigt bleibt. Sinnvoller sei es, von »Bildern« im Plural zu sprechen oder präzise definierte Begriffe wie »Stereotyp« zu verwenden. 47 Man kann aber auch Artefakte in den Blick nehmen, die als Manifestation von Selbst- oder Fremdbildern konstruiert oder zu solchen umfunktioniert werden. So geschieht es in Maria Oikonomous Beitrag »Parthenon-Bilder und ihr Reflex in der neugriechischen Literatur«, der trotz gelegentlicher Bezüge auf poststrukturalistische Theoreme überwiegend dem hermeneutisch-komparatistischen Paradigma verpflichtet ist. 48

[61] 

Die Architektur von Athens religiös-administrativem Zentrum ergibt, wie Oikonomou formuliert, »gleichsam ein gerahmtes Bild«, das aber nicht nur angeschaut, sondern auch als »Auge der Macht« verstanden werden sollte (S. 135). Diese Struktur wurde auch unter byzantinischer und osmanischer Herrschaft beibehalten, jedoch durch den Bau einer Basilika bzw. einer prächtigen Moschee ostentativ neu gefüllt. Die (nach einem Renaissance-Vorspiel) im 18. Jahrhundert einsetzende, bis heute andauernde »Rekonstruktionsarbeit« an der Akropolis versteht sich als Wiederherstellung des ursprünglichen Bildes und seiner ursprünglichen Bedeutung. Dass die Akropolis tatsächlich als Projektionsfläche für neue Selbstbilder – der abendländischen Kultur, des neuen griechischen Staates, der modernen Architektur – dient, verdeutlicht Oikonomou vor allem durch die Analyse sprachlicher Bilder. Sie stammen u.a. aus Texten der Architekten Leo von Klenze und Le Corbusier, vor allem aber aus neugriechischer Literatur, die mit deutlicher »Lust an der Schändung« das »Herrunterreißen der Bilder«, d.h. Selbstbilder, betreibt (S. 145).

[62] 

Mit Selbst-und Fremdbildern befassen sich auch die Post Colonial Studies, die sich, politisch engagiert und poststrukturalistisch inspiriert, eher mit Visual Culture Studies im engeren Sinne überschneiden. Diesem Paradigma ist Ana Fotevas Beitrag verpflichtet: Gezeigt werden soll, dass »sich die Habsburger bzw. k.u.k. Monarchie auf Grund ihrer literarischen Darstellungen auch historisch gesehen als Kolonialmacht betrachten« lässt (S. 185), und zwar nicht nur, wie Valentina Glajar dies postuliert hat, in Osteuropa, 49 sondern auch in Norditalien, und nicht anhand von Darstellungen, sondern anhand einer »meisterhafte[n] Erzählung von 1898« (S. 195), Hofmannsthals Reitergeschichte. »Die kolonisierten 50 Völker haben keine eigene Geschichte, sie werden von dem westlichen aufklärenden Blick entdeckt und ans Licht gezogen« (S. 187) – nach diesen Kriterien kann Norditalien, wie Foteva zugibt, keine habsburgische Kolonie gewesen sein. Sie bietet keine alternative Definition, verspricht aber, dass die Lektüre der Reitergeschichte, die während des ersten italienischen Freiheitskrieges spielt, »einen anderen Blickpunkt eröffnen« werde (S. 187). Zuvor jedoch lässt sie im Schnelldurchlauf David Michael Levins »Übersicht über die Positionen zum Sehen und zu den visuellen Paradigmen des Wissens in der abendländischen Geistesgeschichte« (S. 188) von Heraklit bis Sartre Revue passieren, verweist auf Irit Rogoffs These, »dass Geographie genauso eine epistomologische Kategorie sei [...] wie Gender und Race, und dass diese drei unauslöschlich [sic] auf jeder Ebene miteinander verbunden seien« (S. 190), sowie auf Marsha Meskimmons These, wonach die moderne Stadt in aller Regel als weibliches Objekt männlicher Blicke vorgestellt werde. 51 All dies wird mehr oder (zumeist) weniger überzeugend auf die Reitergeschichte appliziert, 52 so dass Wachtmeister Lerch alle Stadien des abendländischen Sehens durchlaufen muss. Selbst dann aber, wenn man diese Interpretationen nachvollziehen könnte, würden die Indizien nicht ausreichen, um das, was Lorna Martens nicht nur an diesem Hofmannsthal-Text als Allmachtsphantasien» herausgearbeitet hat, zwingend als auf Italien bezogene „koloniale Phantasien« zu bezeichnen (S. 191). 53

[63] 

Nicht leicht einzuordnen, da viele Aspekte von Bildlichkeit ansprechend, ist der Beitrag von Christine Ivanović über »Schmerzdarstellungen als Provokation der Visual Culture«. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stehen Schmerzdarstellungen in bildender Kunst und Literatur, impliziter Ausgangspunkt jedoch ist die reale oder theatralische Zurschaustellung von Schmerz:

[64] 
Der mit Augen und Ohren sinnlich wahrgenommene Schmerz des Anderen wandelt sich in eine ästhetische Erfahrung sui generis. Das Mitleiden affiziert nicht nur die Psyche des Betrachters; es weckt Schrecken und/oder Lust auch als körperliche Empfindungen. Vor allem aber verlangt es eine Bewältigung des Erlebten, es initiiert einen Urteilsvorgang, der über die Einschätzung des ästhetisch Wahrgenommenen – schön oder häßlich – schließlich weit hinausführt. Er reicht von einer Abschätzung der Relation zwischen angenommenem Schmerzempfinden und wahrgenommenem Schmerzausdruck, also einer Beurteilung von dessen Wahrhaftigkeit, bis hin zur Rechtfertigung des zugefügten Schmerzes (bspw. als gerechte Strafe) im Zuge einer beurteilenden Relationierung der schmerzauslösenden Handlung innerhalb der jeweils gültigen Ordnung juristisch verbindlicher Gesetze oder ethischer Werte. (S. 84)
[65] 

Ivanović interessiert sich vor allem für den letzten Aspekt: Leidende bzw. die Darstellung von Leidenden als dialektisches Bild für die Ordnung derer, die den Schmerz zufügen, ein Bild, das, je nach Betrachterperspektive, als Fremd- oder Selbstbild erscheint. So lässt sich die mythische Gestalt Laokoons »als Zeichen einer als göttlichen Ratschluß unumgänglichen Bestrafung« begreifen (S. 87) – oder, im Gegenteil, als Martyrium. Die berühmte Skulpturengruppe jedoch zielte, neueren archäologischen Befunden zufolge, »nicht auf das illustrative Abbild des realen Schmerzerlebnisses des Laokoon, das gleichwohl das Maß des Ästhetischen zu wahren hatte, sondern auf das Paradigma einer historischen Konstellation, dem die gewaltige Schönheit der Gruppe ihr besonderes Gewicht verlieh« (S. 88). Es sollte »im Angesicht der drohenden Vernichtung Pergamons durch das expandierende Rom [...] die Bewohner Pergamons vor einer ähnlichen Verblendung warnen, wie sie den Trojanern zum Schicksal wurde« (S. 87). Dass der ältere Sohn sich dem Zugriff vielleicht entwindet, ist Anlass zur Hoffnung. Diese Funktion der Gruppe konnten Winckelmann und Lessing nicht kennen, sie ignorierten aber auch den Kontext des von Vergil erzählten Mythos und erfassten die Gruppe »als Idealbild einer vergangenen Kultur, deren gewaltiges ästhetisches Potential für die eigene Gegenwart aktualisiert« wurde (S. 87). Damit aber zeigt sich nach Ivanovićs Überzeugung »die Anästhisierung des Schmerzhaften als Aufgabe der Epoche der Vernunft« (S. 89).

[66] 

Peter Weiss dagegen sieht in seiner Dankesrede für die Verleihung des Lessingpreises von 1965 Laokoon und seine Söhne als Opfer politischer Gewalt und reflektiert über Möglichkeiten, deren Leiden darzustellen. Während Laokoon und sein jüngster Sohn »nur noch ein Monument über ihren eigenen Untergang« bilden, bricht der älteste Sohn »aus dem Statuarischen heraus, um denen, die ihm vielleicht zur Hilfe kommen, Bericht zu erstatten« (zit. n. S. 94); mit ihm identifiziert Weiss sich schließlich selbst. Damit aber ist seine Rede letztlich nicht »ein Plädoyer für die Bilder« (S. 94), sondern für die Worte, die, so Weiss, »vom Ursprung des Schmerzes wissen« wollen (zit. n. S. 94). Ivanović korreliert diesen Befund überzeugend mit Darstellungsstrategien der damals gerade im Entstehen begriffenen Ermittlung, in der Foltermethoden gerade nicht szenisch gezeigt, sondern von Zeugen beschrieben und von Tätern geleugnet werden. Auf die genaue Interpretation von Kafkas Erzählung In der Strafkolonie als »Reinszenierung einer als kulturspezifische Strafpraxis legitimierten Konzeption von Schmerz« (S. 89) kann hier nur hingewiesen werden; insgesamt bietet Ivanović eine kulturwissenschaftlich perspektivierte und komparatistisch überzeugende Studie. 54

[67] 

12. Fazit

[68] 

Der Begriff Interart Studies umreißt ein vergleichsweise klares Aufgabengebiet – der Begriff Visual Culture ist wesentlich vager. Das hat, wie mir scheint, vor allem zwei Gründe: Zum einen gibt es wenige kulturelle Phänomene, die keinen visuellen Aspekt haben; zum anderen gibt es wenige visuelle Phänomene (nicht einmal das Sehen selbst), die nur visuell sind und nicht auch andere Sinne ansprechen. So wäre es sinnvoll, auch in Studien zur visuellen Kultur nicht nur Bezüge zwischen ›dem Visuellen‹ und seinen kulturellen Voraussetzungen oder Konsequenzen aufzuspüren, sondern stets die Frage, »Was ist das Visuelle?« bzw. »Was ist ein Bild?« systematisch mitzureflektieren. Die Analyse literarischer Texten ist dafür besonders geeignet, weil Sprache in ihren materiellen Manifestationen wie in den durch sie hervorgebrachten Bedeutungen am ›Visuellen‹ und (u.a.) am ›Akustischen‹ teilhat und weil der literarische Sprachgebrauch dies in besonderer Weise sichtbar macht. Überlegungen dieser Art werden in der Einführung angedeutet, jedoch nicht so weit entwickelt, dass sich eine systematisch überzeugende Gliederung der Beiträge ergäbe.

[69] 

Die Aufsätze sind, für Tagungsbände nicht untypisch, von recht unterschiedlicher Qualität; einige hätten durch energischeres Lektorat gewinnen können. Unter den gelungenen Beiträgen sind solche, die sich den Comparative Arts zurechnen lassen (z.B. Christian Deuling über Böttigers Karikatur-Kommentare), solche, die sich um Visual Culture, aber kaum um Literatur kümmern (z.B. Ulrich Meurer über politische Körper-Bilder im Film), aber auch solche, die vorführen, dass die postulierte Öffnung der Literaturwissenschaft zu Methoden der Visual Culture Studies das Verständnis von Texten vertiefen kann (z.B. Christian Moser über sprachliche Großstadt-Bilder um 1800). Foucault und Derrida spielen dabei methodisch eine deutlich geringere Rolle als Jonathan Crary oder Walter Benjamin.

[70] 

Keineswegs erweist der Band jedoch, dass Literaturwissenschaftler, die das Verhältnis von Literatur und Visuellem analysieren und dabei ihre Kernkompetenzen nicht aufgeben, sondern aktualisieren wollen, notwendigerweise zu Methoden der Visual Culture greifen müssen. Schließlich gibt es noch weitere Theorie-Angebote, die im Band nicht oder nur höchst beiläufig erwähnt werden. Wer Comparative Arts etwas systematischer und eventuell mit Blick auf neue Medien betreiben will, dem bietet die Intermedialitätsforschung bei aller terminologischen Vielfalt doch auch das durchdachte Beschreibungsmodell von Irina R. Rajewsky. 55 Wenn es um Themen wie den »mit Augen und Ohren wahrgenommen Schmerz des Anderen« im öffentlichen Raum geht (S. 84) oder um eine »Maschine visueller Performanzproduktion« wie das Warenhaus (S. 210), liegt es nahe, außer dem visual turn auch den performative turn zu berücksichtigen. 56 Zum Beispiel könnte man auf jene Terminologie zurückgreifen, die von der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte und ihrer Schule entwickelt wurde. Die Begrifflichkeit ist semiotisch fundiert, ohne starr zu sein, und insofern etwa mit Manfred Pfisters Modell der Dramenanalyse gut vermittelbar. 57 Und schließlich hat auch die moderne Rhetorikforschung für die Analyse wirkungsorientierter Darstellungsstrategien, welche die »Grenzen von Malerei und Poesie« überschreiten, manches im Angebot. 58

 
 

Anmerkungen

Chris Jenks (Hg.): Visual Culture. London, New York: Routledge 1994; Nicholas Mirzoeff (Hg.): The Visual Culture reader. London, New York: Routledge 1998; Jessica Evans / Stuart Hill (Hg.): Visual Culture. The reader. London: Thousand Oaks 1999; Matthew Rampley (Hg.): Exploring Visual Culture. Edinburgh: Edinburgh University Press 2005.   zurück
Klassische Sammelbände sind Ulrich Weisstein (Hg.): Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Arbeitsgebietes. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1992; Gottfried Boehm / Helmut Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München: Fink 1995. Ein jüngeres Beispiel: Torsten Hoffmann / Gabriele Rippl (Hg.): Bilder. Ein neues Leitmedium? Göttingen: Wallstein 2006.   zurück
Stellvertretend genannt seien: Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretationen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen und Neumann 1999; Manfred Schmeling / M. S.-E. (Hg.): Das visuelle Gedächtnis der Literatur. Würzburg: Königshausen und Neumann 1999; Literatur-Comics zwischen Adaption und kreativer Transformation, in: Stephan Ditschke / Katarina Kroucheva / Daniel Stein (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld: transcript 2009, S. 281–308.   zurück
Überzeugend argumentiert Schmitz-Emans, dass einige Stichworte, mit denen Boehm die Eigenlogik von Bildern umreißt (»Fremdheit«, »dichtes Schweigen«, »anschauliche Fülle«) Affinitäten gerade zum poetischen Sprachgebrauch aufweisen (Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: G.B. (Hg.): Was ist ein Bild? München: Fink 1994, S. 43, von Schmitz-Emans zit. S. 17). Grundsätzlich postuliert sie: »Das Sprachliche bedarf der Bilder für den Prozeß seiner reflexiven Selbstverständigung – und umgekehrt« (S. 25).   zurück
Bezeichnenderweise wird die oben zitierte Bestimmung, in Teil 3 gehe es um »die Relationen der bildenden Kunst zur Literatur« durch die asymmetrische Formulierung »und der Literatur zu den Bilderwelten« ergänzt (S. 31).   zurück
Das entspricht Weissteins Kategorie 3 –»[l]iterarische Werke [...], welche die Sache oder Begriffe, auf die sie sich beziehen, unmittelbar nachahmen bzw. nachvollziehen« – und Kategorie 4: »[l]iterarische Werke, die graphisch bzw. [...] kalligraphisch ausgerichtet sind« – (Ulrich Weisstein [Anm. 2], S. 22).   zurück
Siehe dazu grundlegend und mit besonderer Berücksichtigung visueller Poesie: Sabine Gross: Lese-Zeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozess, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994.   zurück
Als Beispiel nur der Eröffnungssatz: »In Aren’t You Rather Young to be Writing Your Memoirs prangert der englische Romancier Bryan Stanley Johnson bereits 1967 den verstockten Anachronismus einer Literaturproduktion an, die, als hätte es das Werk von James Joyce und die Erkenntnis, dass der Roman eine dynamische und keine statische Form sei, nie gegeben, die Krücken des Geschichtenerzählens mit Ausrichtung des Textes auf die Neugier des Lesers, nach dem ›What happens next‹ [...], zu Recht als vollständige Bankrotterklärung der Gattung versteht« (S. 120). Abgesehen von Stilbrüchen und unklaren inhaltlichen Bezügen (inwiefern ist das »What happens next«-Prinzip statisch?) hapert es hier schlicht mit der Grammatik: Oder soll die anachronistische Literaturproduktion, auf die sich das Relativpronomen des Nebensatzes nur beziehen kann, ihre eigenen Charakteristika wirklich als Bankrotterklärung ihrer selbst verstehen?    zurück
Ulrich Weisstein (Anm. 2), S. 22 (Kategorie 6).   zurück
10 
Zuletzt: Stephan Packard: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse. Göttingen: Wallstein 2006; Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der graphischen Literatur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2008.   zurück
11 
Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übersetzt von Hubert Thüring. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002; Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der ,mystische Grund der Autorität‘. Übersetzt von Alexander García Düttmann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991.   zurück
12 
Steve Clark / David Worrall (Hg.): Historicizing Blake. New York: St. Martin’s Press 1994. Zur Leviathan-Ikonografie siehe Horst Bredekamp: Thomas Hobbes: Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder. 1651– 2001. Berlin: Akademie-Verlag 2006.   zurück
13 
Böhm / Pfotenhauer (Anm. 2). Siehe zum Ekphrasis-Konzept der spätantiken Rhetorik im Sinne ›lebendiger Beschreibung‹ Ruth Webb: Ekphrasis, imagination and persuasion in ancient rhetorical theory and practice. Farnham, Burlington: Ashgate 2009. Darin wird auch die Genese der modernen Begriffsverwendung rekonstruiert (S. 28–38).   zurück
14 
Z.B. Brian Glavey: Frank O’ Hara nude with boots. Queer ekphrasis and the statuesque poet. In: American Literature 79.4 (2007), S. 781–896; Laura M. Sager Eidt: Writing and filming the painting. Ekphrasis in literature and film. Amsterdam, New York: Rodopoi 2008; darin zu Stationen der neueren Begriffsexpansion S. 16–18.    zurück
15 
Monika Schmitz-Emans (Die Literatur [...], Anm. 3), S. 43.   zurück
16 
Die en passant gebrauchte Formulierung einer »poetischen Umsetzung von Stillleben« (S. 376) lässt beide im Folgenden diskutierten Möglichkeiten zu.   zurück
17 
Unklar ist mir auch, warum Burdorf in den Neuen Gedichten keine Stillleben findet (S. 373), obwohl im ersten Vers von »Blaue Hortensie« ein expliziter Bezug zur Malerei hergestellt wird.   zurück
18 
Ulrich Weisstein (Anm. 2), S. 23 (Punkt 9). Ines Theilens Beitrag setzt sich zwar mit einem Buch über einen malenden Strafgefangenen auseinander, thematisiert die Figurengestaltung jedoch kaum (vgl. Abschnitt 9).   zurück
19 
Vgl. Abschnitt 8.   zurück
20 
Hier könnte man zum Beispiel bei der Episode von Kapitän Harris ansetzen, der in Lalolagis unvollständigem malū »meaning of dignity – and eroticism« findet (S. 250), gerade weil er dessen gesellschaftliche Bedeutung nicht kennt.   zurück
21 
Ist es beispielsweise von Bedeutung, dass Alofas Bruch mit ihrem Ehemann, der mit dem Tod ihrer Großmutter einhergeht, durch eine Affäre mit einem Maler in die Wege geleitet wird (S. 247)?   zurück
22 
So Schmitz-Emans in ihrer Zusammenfassung von Hughes Beitrag, S. 31; meine Hervorhebung.   zurück
23 
Ulrich Weisstein (Anm. 2), S. 22 (Punkt 4).   zurück
24 
Ebd. S. 24 (Punkt 11 und 12).   zurück
25 
Jonathan Crary: Techniques of the observer. On vision and modernity in the nineteenth century. Cambridge, Mass.: MIT Press 1990.   zurück
26 
Götz Großklaus: Wirklichkeit als visuelle Chiffre. In: Harro Segeberg (Hg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. München: Fink 1996, S. 189–207, hier S. 207. Brosch geht erstaunlicherweise nicht auf die televisionale Phase ein.   zurück
27 
So der griffige Titel der 2002 erschienenen deutschen Übersetzung von Jonathan Crary: Suspensions of perception. Attention, spectacle and modern culture. Cambridge, Mass.: MIT Press 1999.    zurück
28 
Die Formulierungen stammen aus dem Titel eines von Pantenburg nicht berücksichtigten Sammelbandes: Harro Segeberg (Anm. 27). Eine wichtige Studie zur Mobilisierung der Landschaftswahrnehmung (weit über die im Titel genannten Autorinnen hinaus) ist Erdmut Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780–1820. Sophie von La Roche – Friederike Brun – Johanna Schopenhauer. Freiburg: Rombach 2005.   zurück
29 
Vgl. Ulrich Weisstein (wie Anm. 2), S. 25f. (Punkt 14).   zurück
30 
Siehe z.B. Henry E. Schvey: Doppelbegabte Künstler als Seher. Oskar Kokoschka, D.H. Lawrence und William Blake, in: Ulrich Weisstein (Anm. 2), S. 73–85; James A.W. Heffernan: Text and design. Blake’s Songs of Innocence and Experience; Marginal language. Word and image in Blake’s Visions of the Daughters of Albion, in: James A.W. Heffernan: Cultivating picturacy, Waco: Baylor University Press 2006, S. 101–139.   zurück
31 
William John Thomas Mitchell: What is an image? In: New Literary History 15 (1984) N. 3, S. 503–537, hier S. 505 (Darstellung dort als Diagramm, Mitchells Kategorien in Kapitälchen). Obwohl der Aufsatz in deutscher Übersetzung vorliegt (Was ist ein Bild? Übersetzt von Jürgen Blasius. In: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt/Main.: Suhrkamp 1990, S. 17–68), wird die Terminologie hier zunächst im Original vorgestellt, da ›optical‹, ›mental‹ und ›verbal‹ nicht völlig deckungsgleich mit Blasius‘ Übersetzungsvorschlägen ›optisch‹, ›geistig‹ und ›sprachlich‹ sind. Ein rezentes Beispiel für die heuristische Ergiebigkeit von Mitchells Modell ist Irmgard Mannlein-Robert: Stimme, Schrift und Bild. Zum Verhältnis der Künste in der hellenistischen Dichtung. Heidelberg: Winter 2007, vgl. bes. S. 9.   zurück
32 
Moshe Barrasch: Bild, Bildlichkeit, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, Sp. 10–30, hier Sp. 10. Ob man aus diesen Bild-Begriffen, wie das bei ihm geschieht, eine Kategorie machen kann, bedarf m.E. noch der Diskussion. Barraschs übrige Kategorien entsprechen grob denen von Mitchell, es fehlt allerdings die der ›optischen Bilder‹.   zurück
33 
Allert führt z.B. in Anm. 5, S. 38 und im Haupttext S. 40 dasselbe Wittgenstein-Zitat an und formuliert folgenden Satz, in dem einige Substantive durcheinander geraten sind: »Lessing betont, daß in der Malerei die Gegenstände in einem Nacheinander wahrgenommen werden, ganz anders als in dem Medium der Dichtung, bei der die Wahrnehmung ähnlich wie in der Musik im Prinzip der Gleichzeitigkeit verankert ist« (S. 41).   zurück
34 
Die ungebrochene Attraktivität des Textes beweisen u.a. die Sammelbände Inge Baxmann / Michael Franz / Wolfgang Schäffner (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Berlin: Akademie Verlag 2000; Michael Franz / Wolfgang Schäffner / Bernhard Siegert / Robert Stockhammer (Hg.): Electric Laokoon. Zeichen und Medien. Von der Lochkarte zur Grammatologie. Berlin: Akademie Verlag 2007.   zurück
35 
Dies ist z.B. eine Grundannahme von Heinz J. Drügh: Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte (1700–2000). Tübingen: Francke 2006.   zurück
36 
So der Titel einer Vorlesungsreihe mit begleitendem Workshop am Visual Culture Center der Universität Madison/Wisconsin 2009/10 (http://www.visualculture.wisc.edu/mellon.html, 30.06.2010). Einen aktuellen Einstieg bietet: Alva Noë: Out of our minds. Why you are not your brain, and other lessons from the biology of consciousness. New York: Hill and Wang 2009.   zurück
37 
Einen Überblick über aktuelle Positionen sowie einen Vorschlag für die Klassifizierung von Synästhesien liefert: Sabine Gross: Literatur und Synästhesie. Überlegungen zum Verhältnis von Wahrnehmung, Sprache und Poetizität, in: Hans Adler/Ulrike Zeuch (Hg.): Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese . Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 57–92; siehe auch die übrigen Beiträge dort.   zurück
38 
Angesichts der Gesamtargumentation halte ich diese Schlussthese für das Fazit des Beitrags, auch wenn sie vorsichtigerweise in Frageform und Konjunktiv formuliert ist.   zurück
39 
Siehe die Beiträge von Roland Posner, Dagmar Schmauks und Eva Kimminich zum Themenheft »Synästhesie als Zeichenprozess« der Zeitschrift für Semiotik 24 (2002), H.1, S. 3–14; 71–109.   zurück
40 
Max Henle: Die Metapher. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 80, 105; darin auch Max Black: Die Metapher, S. 55–79; ich übernehme von Black das prägnante Begriffspaar »Bildspender« und »Bildempfänger«, das Theilen vermeidet. Zu Aristoteles vgl. Katrin Kohl: Metapher. (Sammlung Metzler 352) Stuttgart: Metzler 2007, S. 109f.   zurück
41 
»Kühl rauscht die Nacht« und »die rote Kühle« (Bernhard Engelen: Die Synästhesien in der Dichtung Eichendorffs. Mit einem Anhang über die sogenannte »audition colorée« und über Synästhesien in der Dichtung des französischen Symbolismus. Köln: Dissertationsschrift 1966, S. 20, Titel bei Theilen nicht aufgeführt): Hier sind offensichtlich die Substantive Bildempfänger.   zurück
42 
Richard Flanagan: Gould’s Book of Fish. A Novel in Twelve Fish. New York: Grove Press 2002, S. 91f.   zurück
43 
Ulrich Weisstein (Anm. 2), S. 221–230; 231–245.   zurück
44 
Für eine knappe Sichtung der Positionen siehe Silke Horstkotte: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln u.a. : Böhlau 2009, S. 30ff.   zurück
45 
Markus Dauss: Imagologie, in: Dieter Burdorf / Christoph Fasbender / Burkhard Moenninghoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. 3., völlig neu bearbeitete Auflage Stuttgart: Metzler 2007, S. 343.   zurück
46 
Ruth Florack: Komparatistische Imagologie. Anspruch, Methode, Irrtümer. In: R.F.: Bekannte Fremde. Zur Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 7–33, alle Zitate hier S. 7.   zurück
47 
Ebd., bes. S. 21.   zurück
48 
Wenn Oikonomou von der »großen Erzählung« (S. 137) oder »einer Art Lacanscher Spiegelszene« spricht (S. 145), bezeugt dies vor allem, dass solche Theoreme schon längst hermeneutisch eingemeindet sind; deutlich wichtiger für diesen Aufsatz als Lyotard und Lacan ist Aleida Assmann (vgl. S. 136).   zurück
49 
Valentina Glajar: The German legacy in East Central Europe as recorded in recent German-language literature. New York: Camden House 2004.    zurück
50 
Foteva differenziert nicht zwischen kolonisiert und kolonialisiert.   zurück
51 
David Michael Levin (Hg.): Modernity and the hegemony of vision. Berkeley: University of California Press 1993; Irit Rogoff: Terra infirma. Geography’s Visual Culture. London, New York: Routledge 2001; Marsha Meskimmon: Engendering the city. Bristol: Scarlet Press 1997 (Fotevas Bibliographie präsentiert das Buch als Aufsatz und den Reihentitel als Titel der Monographie, vgl. S. 195).   zurück
52 
Wenn etwa zu Beginn der Erzählung ein österreichisches Streifkommando »einen Trupp ungleichmäßig bewaffneter Menschen wie die Wachteln vor sich her[treibt]«, nämlich »Leute der Legion Manaras mit sonderbaren Kopfbedeckungen« bzw. »wohlerzogene und hübsche junge Leute mit weißen Händen und halblangem Haar« (zit. n. S. 192), dann sieht Foteva die Beschriebenen als »fragmentarisiert« und »feminisiert« an; ebenso würden, Susanne Zantop zufolge, »Eingeborene auf dem amerikanischen Kontinent bei de Pauw« beschrieben, um die Unterwerfung durch die männlicheren Eroberer als zwangsläufig erscheinen zu lassen. »Die Kolonisierung beginnt also mit der Erzählung, die sich dazu Bildern [sic] bedient« (S. 192, vgl. Susanne Zantop: Colonial fantasies. Conquest, familiy, and nation in precolonial Germany 1770–1870. Durham, London: Duke University Press 1997, S. 49–53). Ich kann hier keine Fragmentarisierung oder verächtliche Feminisierung erkennen. Sprechende Details evozieren ein recht anschauliches Bild kultivierter studentischer Freiwilliger, die zwar militärisch unerfahren und für die Österreicher ungewohnt gekleidet sind, doch keineswegs der Kolonialisierung bedürfen. In den Schriften des in der Aufklärung stark rezipierten holländischen Kanonikus Cornelius de Pauw dagegen (Zantop arbeitet das klar heraus) werden die amerikanischen Ureinwohner ausdrücklich als roh und dumm denunziert.   zurück
53 
Lorna Martens: Ich-Verdopplung und Allmachtsphantasien in Texten des frühen Hofmannsthal. Erlebnis, Das Bergwerk zu Falun, Reitergeschichte. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 33.2 (2002), S. 215–238.   zurück
54 
Ähnliches gilt für den S. 83 angekündigten und inzwischen erschienenen Tagungsband Yoshihiko Hirano, Christine Ivanović (Hg.): Kulturfaktor Schmerz. Internationales Kolloqium in Tokyo 2005. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.   zurück
55 
Irina O Rajewsky: Intermedialität. Tübingen und Basel: Francke 2002.   zurück
56 
Siehe den Überblick in Doris Bachman-Medick: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt 2006, S. 105–143; ebenso zu empfehlen ist das Kapitel über den iconic turn (S. 329–380).   zurück
57 
Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004; E.F.-L.. / Doris Kalesch / Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005. Im von Ludwig Jäger und Horst Wenzel herausgegebenen Sammelband Deixis und Evidenz. Freiburg/Br. u.a.: Rombach 2008 wird dieser Ansatz mit den Deixis-Theorien von Karl Bühler und Charles Sanders Peirce verbunden. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Auflage München: Fink 2001. In diesem Zusammenhang erstaunt, dass die theaterwissenschaftlich beschlagene Mitherausgeberin von Visual Culture Gertrud Lehnert nur auf dem Titelblatt und als Referenz des Beitrags von Uwe Lindemann in Erscheinung tritt.   zurück
58 
Siehe z.B. Joachim Knape: Rhetorik der Künste. In: Ulla Fix, Andreas Gardt / J.K. (Hg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Bd. 1: Rhetorik. Berlin: De Gruyter 2009, S. 894–927.   zurück