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Realismuskonstruktionen zwischen
Büchner und Kluge

Systemtheoretische Überlegungen zu Wirklichkeitsmodellen des 19. und 20. Jahrhunderts

  • Harro Müller: Gegengifte. Essays zu Theorie und Literatur der Moderne. Bielefeld: Aisthesis 2009. 231 S. Kartoniert. EUR (D) 24,80.
    ISBN: 978-3-89528-738-1.
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In diesem Band wirft Harro Müller neues Licht auf die Interdependenzen zwischen Literatur und Historiographie im Hinblick auf Machtdiskurse und Repräsentationsformen. Mit der hier vertretenen Auffassung, dass Realismuskonzepte des frühen 19. Jahrhunderts eine ästhetische Moderne mitkonstituieren, erweitert er den üblicherweise auf die revolutionären Umbrüche um 1900 bezogenen Zeitrahmen. In Gegengifte sind 14 Aufsätze zusammengestellt, die sich vorwiegend auf Fragen der literarischen Repräsentierbarkeit von Geschichte, insbesondere der politischen Ereignisgeschichte zwischen Französischer Revolution und Zweitem Weltkrieg, in kanonischen Texten konzentrieren. Es handelt sich zum Teil um veröffentlichte Beiträge, die seit Mitte der neunziger Jahre in literaturwissenschaftlichen Fachpublikationen erschienen, sowie in zwei Fällen um Originalbeiträge. Die Sammlung schließt an den Themenkreis eines Vorgängerbandes mit dem Titel Giftpfeile. Zu Theorie und Literatur der Moderne (1994) an und führt Müllers Untersuchungen zu Leitbegriffen der Ästhetik fort, wie sie sich in dem mit der Romanistin Susanne Knaller edierten Essayband Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs (2006) niederschlugen. Die Aufsätze des vorliegenden Sammelbandes sind an ein Fachpublikum mit Vorkenntnissen im Bereich der soziologischen Systemtheorie, der Methodendiskussion in der Geschichtswissenschaft und philosophischen Ästhetik gerichtet. Eine gewisse Vertrautheit mit der Terminologie Niklas Luhmanns empfiehlt sich. 1 Die Textexegesen zielen grundsätzlich auf eine Revision der gesellschaftsorientierten Perspektivierung, die mit einem Interesse an modernen ›Formproblemen‹ (W. Worringer) einhergeht. Man erkennt unschwer eine Präferenz für Konstruktionen (Montage, Allegorie); sie resultiert aus dem Interesse an einer selbstreflexiven Moderne, die in ihrer vehementen Idealisierungs- und Narrativierungskritik mit Beobachtungsraffinesse beurteilt wird.

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Ohne sich einer mentalitätsdiagnostischen oder kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der jüngeren Geschichtsbetrachtung anzuschließen, nimmt der Verfasser eine skeptische Haltung gegenüber geschichtsphilosophischen Entwürfen oder klassenkämpferischen Ungleichheitsmodellen als vormals allgemeingültigen »großen Erzählungen« von der Moderne ein; getragen von einem grundsätzlichen Forschungsinteresse an den sich im Begriffswandel abzeichnenden Gesellschaftsumbrüchen und Beobachtungspositionen wendet er sich der Frage nach historischen Konstruktionen der sozialen Wirklichkeit zu.

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Das Organisationsprinzip der in sieben Segmente gegliederten Zusammenstellung von Einzelbeiträgen lässt sich am besten an den drei Funktionen der Essays begreifen: sie stellen ein theoriebezogenes Begriffsrepertoire vor; reflektieren den Paradigmenwechsel der Einzeldisziplinen; und interpretieren vorwiegend kanonische oder ideengeschichtlich aufschlussreiche Einzelwerke im Hinblick auf Geschichtsrepräsentation. Demgemäß setzt der Band mit theoretischen Erörterungen zur Sprachreflexion Adornos ein; er führt dann im Anschluss die Polyvalenz von Authentizität in seiner Ästhetikkonzeption vor und wendet sich schließlich dem »Modernisierungsschub des geschichtlichen Denkens« (S. 75) in der Historiographie des 18. Jahrhunderts sowie dem »Pluralisierungsschub« (S. 61) in der Germanistik des späten 20. Jahrhunderts zu. Neben den Themenschwerpunkten Authentizität, Macht- und Gewaltrepräsentation in Roman und Drama werden ergänzende Aspekte in kleineren Aufsätzen zu Gibbons berühmter History of the Decline and the Fall of the Roman Empire (1776–88) sowie zu historiographischen Zeitkonzeptionen zwischen Augenblick und Ewigkeit verhandelt; den Band beschließt eine Grille zur sprachexperimentellen Lyrik Herbert Schuldts.

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Zum Begriff der Moderne

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Es sei vorausgeschickt, dass die programmatische Ausrichtung der Essaysammlung einer Erläuterung bedarf, da die im Untertitel annoncierte Beschäftigung mit »Theorie und Literatur der Moderne« sich nicht exklusiv auf die im engeren Wortsinne »literarische Moderne« um 1900 bezieht. Aus der Lektüre der einzelnen Beiträge erschließt sich sukzessive, dass Begriff und Sache am ehesten mit der Art von gesellschaftlicher Umstrukturierung zu vereinbaren sind, wie sie zunächst von Soziologen wie Reinhard Bendix als »Modernisierung« ins Auge gefasst wurde, nämlich als langfristige Umwälzung, die schon in den industriellen und politischen Revolutionen ihren emblematischen Ausdruck fand; damit steht ein »bestimmter Typ des sozialen Wandels, der im 18. Jahrhundert eingesetzt hat«, im Mittelpunkt. 2 Aus dieser Epochenauffassung resultiert weder ein Nachvollzug von diachronen Verläufen in Anlehnung an die sozialhistorische Beschäftigung mit Entstehungsgeschichten in der Trias Wirtschaft, Herrschaft und Kultur, (A.Wehler) noch eine Bündelung von diversen Geschichtssträngen zu »einer Geschichte« in Aussicht, die von einflussreichen historischen Persönlichkeiten geprägt wäre (Th.Nipperdey). 3 Vielmehr verweist »Moderne« auf die Konturierung einer ›Sattelzeit‹ zwischen 1750 und 1850, deren Semantik heute noch vertraut erscheint, 4 weil ›Bewegungsbegriffe‹ der Zeit auch zukunftsweisende ›Faktoren‹ sind. 5 Geprägt durch eine wissens- und begriffsgeschichtliche Perspektive heben Müllers Überlegungen zur Moderne auf einen vielsträngigen Wandlungsprozess ab, der heute mit Begriffen wie »epistemologische Moderne« oder »reflexive Moderne« belegt wird, um die Kontingenz, Synchronizität und Selbstdifferenzierung m Spannungsfeld von Idealismus und Realismus nach 1800 abzudecken. 6 Von dieser Konzeption eines sozialen Wandels im späten 18. Jahrhundert wären wiederum die radikalen Umbrüche in der Literatursphäre um 1900 abzuheben, die gleichwohl an gesellschaftliche Modernisierung durch die Fortführung von realistischen Formen oder Anschlüsse an versprengte Vorläufer wie u,a. Büchner auftreten.

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Moderne Sprachreflexion:
Adornos Rhetorik von »Verheißung und Verhängnis«

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Wort und Konstellation als Theoriebausteine Adornos

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Die Essaysammlung akzentuiert mit ihren Eingangsüberlegungen zur Sprachreflexion im Werk Theodor W. Adornos ein selbstreferentielles, sich in Antinomien bewegendes Denken als wesentlichen Aspekt einer ästhetischen Moderne. Bekannt ist zwar Adornos Aufmerksamkeit für die sprachliche Nuance, doch Müller trägt in einer tour de force durch sein Werk eine Vielzahl von Belegen zusammen, die das Augenmerk auch auf Adornos mangelnde Auseinandersetzung mit Sprachphilosophie und -wissenschaft, seine rhetorische Taktik und die Haltbarkeit seiner Sprachauffassung lenken. Müller erwägt, dass aus heutiger Sicht, vor dem Hintergrund einer ›linguistischen Wende‹, die Sprachreflexion als zu stark an ein bewusstseinsphilosophisches Fundament gebettet erscheinen mag (S. 17). Dennoch hebt er mehrere aktualisierbare Aspekte hervor: so bleibt der sprachbewusste »Essay als Darstellungsform« (S. 19) weiterhin relevant für eine versuchsweise angestrengte »Deutung« (S. 19). Gleichermaßen anschlussfähig bleiben auch Adornos anti-monistische Haltung, sein Relationismus und Säkularisierungsstreben oder seine Aufmerksamkeit für ideologischen Sprachmissbrauch. Es sei kein Manko, dass dialektisches Denken in der Tat keine »beweisfähigen Aussagesysteme« produzierte (S. 29); problematisch aber sei die extreme Aufteilung der Darstellungsform in »Worttheorie« und »Konstellationtheorie«, die ein breites Mittelfeld von Satz, Text »schlicht auslässt« (S. 20). Gegenüber den »mimesisvergessenen formalen Wissenschaften« (S. 23), worin man eine Anspielung auf Luhmanns Systemtheorie lesen darf, suche Adornos Modell das »Ähnlichkeitsprinzip« (S. 24) zu integrieren; gerade die begriffsferne Kunst artikuliere den Einwand gegen instrumentelle Rationalität (S. 25).

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Eher implizit wird ein intellektuelles Areal auf Anschlussmöglichkeiten zur Systemtheorie hin untersucht, so etwa wenn die Auffassung von einer dem Subjekt vorgeordneten Gesellschaft (S. 21) oder vom Prinzip »Koordination und nicht Subordination« (S. 29) an Luhmanns Gewichtung von ›Umwelt‹ (statt Subjekt), ›Kommunikation‹ (statt Bewusstsein), ›strukturelle Koppelung‹ (statt Kausalitätsbeziehung) denken lässt. Skeptisch erkennt Müller in Theodor W. Adornos geschichtsphilosophischer Projektion einer »Dauerkrise« eine Ursprungsgeschichte, die für ihn epistemologisch auf den »Konflikt zwischen dem Rationalen und dem Mimetischen« (S. 24) zurückgehe und an eine grundlegende »Freiheitsunterstellung« im Kunstwerkbegriff geknüpft werde (S. 33). Überraschend stellt man fest, dass Adornos Annahme einer allumfassenden gesellschaftlichen Verblendung eine rhetorische »Übertreibung« repräsentiere; die Belegstellen überzeugen und legen dar, dass solche Rhetorizität der Argumentation die bessere Einsicht in mögliche Alternativen und historische Varianten untergrabe (S. 30–31).

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Konstruktion des Authentischen

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Es geht Müller gleichwohl keineswegs darum, Adornos Denkweise zu verabschieden, sondern für Anschlüsse offen zu halten; sie bietet immerhin Antinomien ohne Syntheseanspruch (S. 25). Dies zeigen die komplexen Überlegungen zur ›Authentizität‹ als Grundbegriff der Theorie des Kunstwerks» (S. 38–53). Anregend liest sich die begriffsgeschichtliche Überlegung, dass eine vakante Stelle philosophischer Terminologie besetzte und für sein Denken in Konstellationen fruchtbar machte, nämlich als »objektiv Verpflichtendes« (S. 44). Damit hob er sich konfrontativ vom weltanschaulich geprägten ›Jargon der Eigentlichkeit‹ ab. Nachgewiesen wird dann wie authentisch zum wertenden Prädikat für herausragende Autoren arrivierte, zum andern, eine Werkqualität bezeichnete, sei sie verkörpert in der Stimmigkeit der Sache, im Wahrheitsanspruch oder dem werkimmanenten Kraftaufwand, womit sich jedes gelungene Opus von unauthentischem Kitsch, Pop und Jazz absetzt (S. 45). Bei all der Unterscheidungswut strebte Adorno ein streng beschreibendes Verfahren im Sinne einer Anerkennung der »Modalform der Kontingenz« in der Moderne doch nicht an. 7 Dazu hätte er über die mentalistische Dichotomie von Wesen / Schein hinwegschreiten müssen. Problematisch, nach Ansicht des Autors, sei der immerfort rhetorisch beschworene »Zusammenhang zwischen Verheißung und Verhängnis« (S. 52) in der ganzheitlich gedachten Gesellschaft vor allem deswegen, weil die soziale »Statthalterrolle der Kunst« (S. 52) der Komplexität der Moderne nicht gerecht werde. Wenn nämlich Kunst als ›Zerrüttung‹ (S. 48) und autonom-funktionslose Gestaltung »gegen das Rohe Einspruch erhebt« (S. 49), dann kann lediglich »das rekursive Verfahren« (S. 46) noch eine Affinität zur Systemtheorie andeuten, wofür die Unterscheidung vom Unauthentischen im Authentischen ein gutes Beispiel gibt. Aber Adorno hierarchisiert häufig und gerne, so wenn er im Gelungenen den Verfall zum Kitsch bemerken will. Mit Recht kritisiert Müller Adornos einsinnige Wertungsabsicht, die keinen Aufstieg vom Niederen zum Hohen, von Jazz zur Oper, erlaubt (S. 45). Dennoch: Adorno bleibt aktuell, da er Unterscheidungen einführt, die innerhalb der Unterscheidung wiederholt werden, mithin einem ›Formkalkül‹ gleichkommen. 8

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Probleme der Narrativierung: Stationen des Geschichtsromans zwischen 1850 und Gegenwart

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Geschichtsromane des 19. Jahrhunderts

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In ihrer Mehrzahl erkunden die Textinterpretationen die Reichweite von Luhmanns gesellschaftstheoretischen Bestimmungen und von Adornos Begriff des avanciert-zeitgemäßen Kunstwerks für die Literaturinterpretation. Wie die beiden ersten Aufsätze schon herausstellen, ist es dem Autor nicht darum zu tun, sein Lektüremodell in der Systemtheorie zu »beheimaten« (S. 7). Vielmehr beabsichtigt er die Vermittlung von Positionen, was man formal an der Argumentationspraxis erkennt, die zwischen Begriffsgeschichte und Konstellation schwebt. Adorno und Habermas sollen ein Gegengewicht zu Luhmanns Beschreibungsmodell bieten, da die »Systemtheorie glaubt ohne normative Annahmen auskommen zu können« (S. 52). Wichtige Akzente in dieser Hinsicht setzen Teil V und VI des Bandes. Hierin setzt sich Müller eingehend mit Geschichtsdarstellungen des Poetischen Realismus nach 1850 und der Literarischen Moderne auseinander. Im Hinblick auf Narrativierungsprobleme im Kriegsroman legt die Einführung plausibel dar, wie mit dem Ende des Historismus auch die damit einhergehende »Wahrscheinlichkeitspoetik« (S. 142) zerfällt, womit die Grundlage für die Entstehung vorbildhaft neuer Schreibansätze geschaffen werde. Sind aus einer wachsenden Repräsentationsskepsis heraus schon für Raabe, Fontane oder Alexis »keine Entzifferungsregeln für das Buch der Geschichte« (S. 148) mehr anzugeben, so steigert sich unter dem Einfluss der Lebensphilosophie die Erosion ganzheitlicher Geschichtskonzepte in der Literarischen Moderne, die nun die »Angst der Welt« erfasse (S. 153).

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Beispiel für diesen an der Gattungsevolution abzulesenden Wandel ist zunächst Alfred Döblins Wallenstein (1920), an dem das »Prinzip der epischen Apposition« (S. 155) zu verdeutlichen ist. Die hervortretende »Heterogenität der Geschichte« (S. 155) des Dreißigjährigen Krieges; seine »Ästhetik des Terrors« (S. 157) verweist zurück auf grausige Szenen bei Grabbe (S. 129) und Büchner (S. 132), ohne die Gewissheit einer erklärenden Semantik zu versprechen, wenngleich die frappierenden Parallelstellen eine polemisch gefasste Mahnung Kosellecks einzulösen scheinen: »Sicher ist, dass der Begriff der Geschichte das sogenannte Rätsel der Geschichte zu lösen nicht imstande ist« (zit. n. S.107). Jedoch wird die These einer stetigen Erosion durch den Kontrast mit Döblins November 1918 (S. 1939–1950) wiederum konterkariert. Scheint im ersten Kriegsroman durch exzessive Schilderung und »Kinostil« die historische »Sinn-Ordnung außer Kraft gesetzt« (S. 155), so finden sich im zweiten Beispiel bei Döblin wiederum »religiöse Sinnangebote« (S. 159), die den Verfasser an einen »religiösen Entwicklungsroman« gemahnen.

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Man erkennt hier, wie sich Luhmanns Auffassung von Gesellschaft als »Teilsysteme« mit »Riskanzsteigerungen« (S. 161–2) in der Interpretationspraxis auswirkt, da nur eine strikte Ausblendung des Moralcodes dem modernen Roman adäquat erscheint. Ästhetische Einschätzungen dieser Art können sich zweifelsohne auf Kosellecks Herleitung eines ganzheitlichen Geschichtskonzepts berufen, das er mit dem Terminus »Kollektivsingular« (zit. auf S. 142) zu umschreiben suchte. Mit dem Zerfall dieser historiographischen Kategorie entsteht auch das Bild von Geschichte als »Labyrinth« (S. 156), das sich zwar unter dem Eindruck der beiden Weltkriege radikalisiert, aber nach wie vor an den für Luhmann nicht mehr geltenden Antagonismus von kritischem / traumatisiertem Individualbewusstsein und repressiver Gesamtgesellschaft gebunden bleibt. Die bewusstseinsphilosophische Einschätzung Adornos, dass sich unter dem Eindruck der modernen Materialschlachten nicht mehr konventionell erzählen lasse, gar dass »eigene Erfahrung unmöglich« sei (S. 166), erscheint angesichts der nur punktuellen Einlösung bei modernen Autoren der Moderne überzogen, wie der Verfasser durch seine Kontrastmethode zu zeigen vermag.

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Weltkriegsereignisse in Textmontagen des 20. Jahrhunderts

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Es erscheint folgerichtig, dass Müller sich bei der Suche nach adäquaten »Selbstbeschreibungen« (S. 165) auch der literarischen Repräsentation des mutmaßlichen »Wendepunkts« des Zweiten Weltkriegs zuwendet. In Kapitel IV und V finden sich zwei ganz unterschiedlich angelegte Essays zu Alexander Kluge. Der erste Essay kontrastiert Kluges Dokumentenmontage Schlachtbeschreibung mit weiteren kombinatorischen Texten. Anhand dreier Texte, die Stalingrad ästhetisch zu verarbeiten suchen, demonstriert er, wie Nachkriegsautoren diverse »Formierungsstrategien« ausbilden, die in unkonventionelle Genres wie multiperspektivische »Bildungsgeschichte« (Plivier, S.169); »kollektives Tagebuch« (Kempowski, S. 170) oder Dokumentenmontage »ohne Mittelpunktsubjekt« (Kluge, S. 174) münden. Die Besprechung kommt zu dem Ergebnis, dass Kluge am ehesten die Unerzählbarkeit von Kriegserfahrung erzählbar mache (S. 178); ihm gelinge die nüchterne »Analyse von Machteffekten« und das Erschließen einer »Möglichkeitsform« (S.176–177). Es wäre hier genauer nachzufragen, ob sich diese Spanne von literarischen Bewältigungen aus den ästhetischen Prämissen oder den recht unterschiedlichen Distanzen zum historischen Ereignis erklärt. Der vermeintlichen Affinität zu Adornos Einschätzung, dass in Materialschlachten »eigentliche Erfahrung unmöglich« geworden sei (S. 166), begegnet Müller sogleich mit der Pointe, dass für Alexander Kluge schon der Versuch, Gesellschaft als Ganzes zu vergegenwärtigen zur Einsicht in soziale Kälte führe und der »normale Isolationszustand« Monstren gebäre (S. 178). Das wichtige Zwischenergebnis: Realismus kann demnach kein Sachverhalt an sich sein; er ist relational zu denken, denn als ästhetische Methode und ›Kommunikation‹ (N. Luhmann) ist er weder vom Autor noch von Rezipienten als Beobachtern zu trennen. Denn trotz aller Überblendung der »Differenz zwischen Realität und Fiktion« (S. 178) in Kriegsromanen etwa von Pynchon, Vonnegut oder Simon, trotz des distanzierenden Darstellungsaufgebots von Simulation, Karnevalisierung und postmoderner Mehrfachcodierung bleibe im Geschichtsroman ein grundlegender Realismus unangetastet. Gemeint ist damit nicht das Weiterbestehen einer Abbildfunktion, sondern das wirkungsästhetische Konzept, »die Realitätskonstruktionen der Adressaten zu irritieren« (S. 179, s. a. S. 158 und S. 214), etwa durch Eliminierung einer überblickenden Erzählinstanz. 9

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Anti-realistische Motivation bei der Arbeit am Realismus

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Ein weiterer Essay widmet sich Kluges Methodik als Autor. An der feinsinnigen Herausarbeitung von Kluges realistischer Herangehensweise an geschichtliche Ereignisse ist vielerlei bemerkenswert, hervorgehoben werden sollen indessen nur, dass Kluge sich bewusst einer durchaus paradoxalen Ausgangslage aussetzt. Sich dem Faktischen zu stellen, beinhaltet, dass durch bloße »Reduktion auf Sachlichkeit … negative Realität ihre Dauerexistenz beweist« (S. 101), denn »die Wurzel einer realistischen Haltung« sei die Intervention gegen das schlicht Abbildhafte, mithin die »Leugnung des reinen Realitätsprinzips« (S. 177). Dieser antirealistische Realismus vermag seine Wurzeln in Adornos Kunstauffassung schwerlich zu verbergen. Daraus erklärt sich vielleicht auch Müllers dialektische Replik. Mag Kluges Sensibilität für die »Verzweigungen in der Geschichte« (S. 176), also für Kontingenz in seiner Schlachtbeschreibung die eingangs artikulierte Forderung nach »Abschied von Theologie« (S. 18) und ihrem moralischen Code geradezu idealtypisch zu erfüllen, so sind auch bei ihm, trotz seiner konstruktiv-dokumentarischen Arbeitsweise, »religiöse Gewissheitsansprüche« (S. 118) zu diagnostizieren, die ihn als »linken Bildungsbürger« ausweisen (S. 118). Obgleich Kluges Kritik an Überblicks- und Ganzheitsillusionen mit Luhmanns System von operationell geschlossenen Teilsphären zu vereinbaren ist (S. 103), stößt Kluges Kontingenzannahme auf eine Grenze. Um auch Kluges Ansatz wiederum einer Unterscheidung auszusetzen, ihn beobachtbar zu machen, bedarf es der Erwägung, wie sich seine Theorieoption von vergleichbaren absetzt und gegen die ›Umwelt‹ konturiert.

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Anti-idealistische Positionen im Geschichtsdrama

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Auftakt zum realistischen Geschichtsdrama bei Büchner

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Erscheint der Roman, vielmehr der Montagetext, das geeignete Medium zur realistischen Kriegsdarstellung im späten 20. Jahrhundert, so wird man literarische Repräsentationen der Französischen Revolution und ihrer Folgen unmittelbar mit bekannten Dramen von Büchner über Grabbe bis hin zu Heiner Müller verbinden. Teil VI seines Bandes konzentriert sich auf diese Traditionslinie, mit einer wichtigen Akzentuierung der Ernüchterung nach den Napoleonischen Kriegen. Begegnen sich Dramatiker wie Büchner und Kleist in der ähnlichen Bestrebung, ein klassisches Humanitätsideal aufzubrechen und unter den Bedingungen eines Ausnahmezustands die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Geschichte zu stellen, so streben sie nicht nur in ihrer politischen Orientierung, sondern auch in ihrer dramatischen Repräsentation von Gewalt weit auseinander, das machen die Aufsätze zu beiden Dramatikern auf überzeugende Art deutlich. Georg Büchner arbeitet in Dantons Tod darauf hin, die Folgen der ›terreur‹-Periode ohne den »Schein der Verklärung« (S. 204) auf die Bühne zu bringen. Man wird dem Interpreten zustimmen können, dass sich die »Guillotine« als »Akteur der Geschichte« (S. 199) begreifen lässt, wenn man sich auf Büchners Kritik an einer verselbstständigten Tötungsmaschinerie als Kernaussage beruft. Ob das Drama die Sinnfrage gänzlich in der Schwebe hält und Geschichte als »Paradox« oder das menschliche Wesen als »Rätsel« (S. 199, 204) begreife, wird in der Büchner-Forschung sicherlich weiter kontrovers diskutiert werden. Festzuhalten bleibt, dass Müller dem Drama beträchtliche Ambivalenz attestiert, was für Kleist nicht zutrifft.

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Exzess der Überbietung in Kleists Geschichtsdramen

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Scharf fällt die Kritik an Kleists Dramatisierung der Souveränitätsfrage aus. Obwohl sich dieser oft einer verblüffend symmetrischen Form und bestimmter »Verklärungstechniken« bediene (S. 192), so stellen exzessive Gewaltszenen eine Irritation der Politiksystems von Seiten des Kunstsystems dar. Seine Geschichtsdramen, zumal Hermannschlacht, bieten wenige Szenen, die ambivalent sind; gerade dieses »Ernstfall-Stück« biete »minimale Relativierungen« der Grundaussage; somit sind »semantische Widersprüche und auch die komisch-groteske Spur nur schwach vertreten« (S. 190), und dem Drama sei propagandistischer »Klartext« zu entnehmen, d.i. eine »Apologie des souveränen Nationalstaats und des totalen Ausrottungskriegs« (S. 196). Das Paradox, »zugleich das Gesetz zu vertreten und sich jenseits des Gesetzes postieren zu müssen« (S. 194), tritt vor allem in Prinz von Homburg in der verzwickten Lage des Protagonisten augenscheinlich hervor. Mag ein »Machtcode« zunächst nur in Hermannschlacht verabsolutiert zu werden (S. 186), so tritt auch im anderen Drama ein »Rechts- und Moralcode« nur momenthaft in der Souveränität des Prinzen hervor, doch auch er erscheint als »Kampftier« und zwischenstaatlicher Krieg nurmehr »Naturzustand « (S. 194–195).

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In dem Aufsatz zu Kleist wird vielleicht am deutlichsten, wie das Luhmannsche Beschreibungsmodell bei Müller keineswegs zur orthodoxen Handhabung des Instrumentariums führt, sondern sich kritischer »Gegengifte« vergewissert. Denn Kleists Ansinnen der »radikalen Überbietung« (S. 186) verdankt sich weniger der Weiterführung einer macchiavellistischen Denkart (S. 196), die andernorts als »schwarze Tradition der Neuzeit« (S. 129) charakterisiert wird, noch psychologischer Abweichung im Sinne eines »indifferenten Narzissmus« (S. 196). Vielmehr dürfte Müllers scharfe Kritik an dieser Art von Kriegsdarstellung von der anerkennenswerten Einschätzung getragen sein, dass die Herausarbeitung eines »chiastischen Beobachtungswechselspiels« (S. 192) bei der Analyse von Souveränität in Prinz von Homburg doch einer normativen Grundlage bedarf, und zwar im Sinne eben derjenigen »rechstheoretischen Figuren« (S. 52), die Habermas der bloßen »Freiheitsunterstellung« Adornos (S. 33) nachzutragen bereit war.

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Fazit

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Als Einzelbeiträge zu aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussionen sind die anspruchsvollen Einführungsessays zu Adorno ebenso hervorzuheben wie die nachdenklichen Ausführungen zu Werk und Methodik Alexander Kluges oder die anregenden Einzelinterpretationen zu Büchner, Kleist und Döblin. Gerade die Berücksichtigung der Repräsentationsprobleme bei der literarischen Behandlung des Kriegs trägt zu den Entwicklungen in der internationalen Forschung bei. 10 Selbst Leser, die mit dem hier eingesetzten systemtheoretisch-begriffsgeschichtlichen Instrumentarium nicht oder wenig vertraut sind, werden unschwer den Perspektivenwechsel erkennen, der aus der durchgängigen Kritik an historiographischer Sinnprojektion resultiert. Liest man den Band in toto als Versuch, literaturtheoretische Einwände gegen die Wahlverwandtschaft von Romantik und Moderne vorzubringen, springt eine überraschende Argumentationslinie ins Auge. Bedenkenswert und diskussionswürdig ist nämlich die These, dass gerade mimetische Impulse auf die literarische Moderne um 1900 vorausweisen, weil Autoren wie Büchner oder Grabbe als konstruktive Realisten entschieden die idealistischen Annahmen der klassisch-romantischen Bewegung aufsprengen. Damit zieht Harro Müller eine scharfe Trennlinie zwischen seinem Ansatz und einem doch häufig auf die romantisch-idealistische Bewusstseinsphilosophie bezogenen Modell antizipatorischer Vormoderne. 11 Zudem verwahrt sich der konstruktivistische Ansatz vor einer vorschnellen Identifizierung der realistischen Methode mit Abbildhaftigkeit (›imitiatio‹). In diesem Angebot einer alternativen Lesart von Realismuskonstruktionen liegt ein entscheidendes Verdienst und der beachtliche Terraingewinn dieser bemerkenswerten Essaysammlung.

 
 

Anmerkungen

Zur Erklärung der Grundbegriffe siehe: Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997; Detlef Krause: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. Stuttgart: UTB, 4., überarb. A., 2005.

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Reinhard Bendix: Modernisierung in internationaler Perspektive. In: Wolfgang Zapf (Hg.): Theorien des sozialen Wandels, Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1969, S. 510. Zit. n. Hans-Ulrich Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1407). Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1975, S. 59.   zurück
Thomas Nipperdey: Probleme der Modernisierung in Deutschland. In: Th.N.: Nachdenken über deutsche Geschichte. Essays. München: Beck 1986, S. 45.   zurück
Reinhart Koselleck: »Einleitung«. In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart: Klett-Cotta 1972 ff., Bd.1, S.XIII-XXIII.   zurück
Siehe R.K.: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. In: R.K. (Hg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 19–36, insbes. S. 23–24.   zurück

Zur Begriffsbildung siehe die Verweise auf Hans Ulrich Gumbrecht, Ulrich Beck, Klaus Lichtblau und Reinhart Koselleck in: Britta Herrmann und Barbara Thums: »Einleitung«. In: B.H. / B.Th. (Hg.): Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle. Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, S. 8–9.

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Niklas Luhmann: Beobachtungen der Moderne. Opladen: Leske 1992, S. 46. Ein Akt der Beobachtung der Beobachtung kennzeichnet diese Modalform.   zurück

Niklas Luhmann: Die Paradoxie der Form. In: Dirk Baecker (Hg.): Kalkül der Form. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 197–212.

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Siehe zum Vergleich die konträren Beurteilungsmaßstäbe bei Jens Ebert: Wie authentisch ist das eigene Erlebnis? In: Hans Wagener (Hg.): Von Böll bis Buchheim: deutsche Kriegsprosa nach 1945. Amsterdam: Rodopi 1997, S. 265–278. Vgl. Walter Hinderer: Arbeit an der Gegenwart: zur deutschen Literatur nach 1945. Würzburg: Königshausen und Neumann 1994, S. 133. Ausgehend von einer Aussage Kluges zum Unerfassbaren des Unglücks von Stalingrad stellt Jens Ebert zwei Romane zur Kesselschlacht gegenüber, die noch dem persönlichen Augenzeugenbericht vertrauen und von Distanzverlust geprägt sind. Für Kluges »dokumentarische Methode« in Schlachtbeschreibung wünscht sich demgegenüber Walter Hinderer doch stärkere Kohärenz, d.i. »den verbindenden Kommentar eines Historikers«.

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10 
Vgl. Elisabeth Krimmer: The Representation of War in German Literature: From 1800 to the Present. Cambridge: Cambridge UP 2010; Bernd-Rüdiger Hüppauf: War, violence, and the modern condition. Berlin, New York: de Gruyter 1997.   zurück
11 

Hierzu grundlegend die Diskussion in: Dirk Kemper: Ästhetische Moderne als Makroepoche. In: D.K./ Silvio Vietta (Hg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München Fink 1997. S. 97–126. Eine »ästhetische Moderne«, deren Beginn Literaturwissenschaftler wie z.B. H.R. Jauss oder K.H. Bohrer jeweils unterschiedlich zwischen 1750 und 1830 ansetzten, ist am zweckmäßigsten als ›Makroepoche‹ im Sinne Dirk Kempers aufzufassen und damit von einer »literarischen Moderne« als ›Mikroepoche‹ zu unterscheiden. Hierzu auch die konzise Zusammenfassung in: Urte Helduser: Geschlechterprogramme: Konzepte der literarischen Moderne um 1900. Köln Böhlau 2003, S. 31–35.

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