IASLonline

Transatlantische Kontinuitäten

Eine Geopolitik der Literaturwissenschaft
in der Nachkriegszeit 1

  • Geoffrey Hartman: A Scholar's Tale. Intellectual Journey of a Displaced Child of Europe. Bronx/NY: Fordham University Press 2009. 160 S. Broschiert. USD 17,00.
    ISBN: 978-0-8232-2833-1.
[1] 

Geoffrey Hartmans Ruhm in der amerikanischen Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit entspringt einer zweifachen Anbindung an den europäischen Kulturraum. Während nahezu seiner ganzen akademischen Tätigkeit war Hartman mit der Universität von Yale verbunden, die in den siebziger Jahren, teils auf Grund der Anwesenheit von charismatischen Figuren wie Paul de Man und Jacques Derrida, im Zentrum der damals aufsteigenden so genannten ›French Theory‹ stand. Zu Beginn der achtziger Jahre war Hartman an Yale einer der Mitbegründer des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, das seit jener Zeit viele Tausende von Interviews mit Überlebenden des Holocausts gefilmt hat. Seine Betrachtungen über den Umgang mit diesem europäischen Trauma haben Hartman und seinem Werk auch im deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht; mit Der längste Schatten (1999) wurde eine Sammlung von Reflexionen über das Erinnern und Vergessen des Holocausts übersetzt, und Das Beredte Schweigen der Literatur (2000) untersucht, welche Rolle Literatur und Kultur noch zufällt in einer Zeit, die von der Erinnerung an und Erfahrung von extremer Gewalt geprägt wird. Hartmans Essays kehren auf diese Weise zu dem Land zurück, das er im Alter von kaum neun Jahren mit einem ›Kindertransport‹ Richtung England verließ, von wo aus er nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten weiterreiste. A Scholar’s Tale, Hartmans intellektuelle Autobiographie, die Ende 2009 als Taschenbuch erschien, veranschaulicht, wie sein Lebenslauf und geistiger Werdegang sich zunächst mit der englischen Romantik, anschließend der ›French Theory‹ und schließlich dem Holocaust-Gedächtnis als Stationen an unvermuteten Stellen kreuzen.

[2] 

Eine der Überraschungen von Hartmans Memoiren ist die anschauliche Darstellung von unverhofften geographischen und intellektuellen Begegnungen. Das Buch ist ausdrücklich die Geschichte eines akademischen Bildungswegs; es verliert sich nicht in institutionellen Intrigen und behandelt autobiographische Details ausschließlich im Licht von Hartmans intellektueller Entwicklung (S. xi). Dieser Werdegang entrollt sich nicht als eine spannende Erzählstruktur voller bemerkenswerter Wendepunkte und Umkehrungen; Hartman bemerkt fast entschuldigend, dass seine Entwicklung nicht von »radical change« gekennzeichnet wurde und dass seine Lebenserinnerungen sich nicht auf »the excuse of a significant personal conversion, revelation, exculpation« berufen können (S. 120, 157). Dieses Bestehen auf Kontinuität vermag denjenigen nur wenig zu überraschen, der mit Hartmans typischem, einigermaßen evasivem Schreibstil – er selbst nennt es eine »subprophetic« und eine »nondeclamatory« Art des Schreibens (S. 60) – vertraut ist. Entsprechend gesteht er in einem der eröffnenden Paragraphen des Buches offen sein Misstrauen einer allzu selbstsicheren, polemischen Denk- und Schreibweise gegenüber (S. 10).

[3] 

Mit derselben Behutsamkeit behandelt Hartman die unausweichliche Frage, ob seine Autobiographie auch stellvertretend als das Porträt einer ganzen Generation von Kulturwissenschaftlern gelten kann. Als er sich im letzten Viertel des Buches zu einem weniger narrativen Verfahren verführen lässt und sich auf allgemeinere Betrachtungen – über Religion in der Gegenwart, Gedächtnis und die Vermittlung von außerordentlichem Leid – zuspitzt, unterstreicht er, dass seine persönliche Geschichte nicht ohne Weiteres übertragbar sei: Er vermittle, so schreibt er, bloß einen »impression« von der Weise, auf die »the practice of the ordinary and remarkable activity called reading has developed in myself, and perhaps my generation« (S. 132). Hartmans persönliches Erlebnis nimmt selbstverständlich eine zentrale Stellung ein; ab dem Moment, in dem größere Tendenzen und Entwicklungen an die Reihe kommen, fühlt er sich jedoch besser in der Rolle eines bevorzugten Zeitzeugen als in derjenigen eines wichtigen Spielers.

[4] 

Es ist eine doppelte transatlantische Beziehung, welche Hartmans Geschichte unterstützt und auf Grund derer dieses Buch sich als äußerst relevant für die Historiographie der Nachkriegs-Literaturwissenschaft und für die Bestimmung des gesellschaftlichen Ortes der aktuellen Literatur- und Kulturwissenschaften erweist. Zum einen legt A Scholar’s Tale deutlich dar, in welchem Maße die amerikanische literaturwissenschaftliche Praxis der Nachkriegszeit von den europäischen Traumata des Nationalsozialismus, des Holocausts und der Vichy-Zeit geprägt wird, zum anderen zeigt es, wie die Antwort der Literaturwissenschaft – die in den Vereinigten Staaten der fünfziger Jahre aus einem ›new critical‹ Formalismus aufwachte – ihrerseits von einer expliziten europäischen (Gegen-)Tradition genährt wurde und wird. Hartman präsentiert uns die amerikanische Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit als die Aktualisierung dieses europäischen Paradoxes.

[5] 

Literaturwissenschaft im Schatten
des europäischen Traumas

[6] 

A Scholar’s Tale vermittelt die Persistenz des Holocausts in der Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit nicht direkt, sondern mittels eines impliziten Syllogismus. Hartman betont ausdrücklich, dass seine eigene Neuorientierung ab den achtziger Jahren, weg von romantischer Lyrik und Literaturtheorie und hin zu Holocaustzeugnissen, nicht als ein radikaler Umschwung verstanden werden soll. Da in jener Periode Begriffe wie Identität, Erinnerung und Verlust in der allgemeinen Literaturwissenschaft gleichfalls ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten – vor allem in Bereichen wie Jüdischen Studien und ›trauma studies‹, aber auch in dem ›new historicism‹ und dem Postkolonialismus – legt Hartmans Chronik nahe, dass die Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf oft implizite, unartikulierte Weise entscheidend vom historischen Trauma des Holocausts geprägt wurde.

[7] 

Die latente Kontinuität – zwischen Romantik und Trauma, aber in allgemeinerem Sinne auch zwischen traditionellen Formen des Literaturstudiums einerseits und Dekonstruktivismus und Postkolonialismus andererseits – weist mindestens drei unterschiedliche Aspekte auf. Zuallererst postuliert Hartman einen engen Bezug zwischen »the study of the arts« und »the urgent contemplation of extreme or traumatizing events« (S. 119). Literatur ist von jeher dazu im Stande gewesen, »the conscience of collectives as well as individuals« zu berühren (S. 119), und bewegt sich gerade aus dem Grund herkömmlicherweise im selben Umfeld wie Schmerz und Verlust. Des Weiteren ist das Zurückfinden oder die Wiederherstellung einer Stimme schon immer ein zentrales Anliegen der Literatur gewesen. Die ausdrücklichen Bemühungen des Postkolonialismus oder der feministischen Literaturwissenschaft, gewissen Gruppen oder Individuen, denen sonst das Schweigen auferlegt wurde, eine Stimme zu verleihen – Hartman nannte dies das »Philomela Project« (S. 120) – bedeuten also keineswegs einen Bruch mit dem Wesen der Literatur (wie konservative Schöngeister oft behaupten), sondern sind eine logische Veräußerung eines ihr inhärenten Vermögens.

[8] 

Neben diesem theoretischen Argument gibt es zweitens auch einen augenscheinlichen Bezug zwischen der Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit und dem latenten Fortleben von europäischen Traumata. Eindrucksvoll sind in diesem Rahmen vor allem Hartmans höchst persönliche und luzide Absätze zu seiner engen Freundschaftsbeziehung zu Paul de Man und Hans Robert Jauß, bevor deren kompromittierende Vergangenheit in den achtziger Jahren aufgedeckt wurde – Enthüllungen, die von Hartman als »war damage in the form of a belated disclosure« umschrieben werden (S. 142). Die Seiten, welche von de Man handeln (S. 77–89), weisen einen unveränderten intellektuellen Respekt für dessen »philosophical mind« (S. 187), zugleich aber auch eine bis heute ungeklärte moralische Entrüstung auf. Die posthumen Enthüllungen über die Beiträge des jungen de Man an kollaborierende Publikationsorgane zwangen Hartman dazu, eine lange und starke Freundschaft, die bis 1965 zurückreichte, neu zu bewerten. Die Aufdeckungen waren umso peinlicher, da Hartmans Verbundenheitsgefühl mit de Man unausgesprochen auf einer geteilten europäischen Vergangenheit beruhte: Er schreibt, er hatte de Man immer als einen »inner émigré« (»inneren Emigranten«) oder als »a refugee from Europe« (S. 82) betrachtet. Hartmans Buch zeigt uns, wie sehr die amerikanische Dekonstruktion aus den siebziger und achtziger Jahren – die mit de Man und Hartman, aber außerdem mit Jacques Derrida and J. Hillis Miller assoziiert wird – Symptom einer europäischen intellektuellen Migration war. Bewundernd bemerkt Hartman, dass »both de Man and Derrida were of a recognizable European mold, philosophical minds interested in cultural matters and with a penchant for works of art and especially literature« (S. 82).

[9] 

Die essayistische, unverbindliche Schreibart Hartmans erlaubt es, dass die Seiten über de Man weder in einer einseitigen Verurteilung noch in einer untolerierbaren Beschönigung resultieren. Hartman weigert sich, den verrufenen antipsychologischen und unpersönlichen Tenor von de Mans Spätwerk als einen moralischen Fehler zu betrachten. De Mans Arbeit führt also heute – gerade wie die nicht unvergleichbare Position von Maurice Blanchot – immer noch zu »an aporia or undecidable result« (S. 88). Dass Hartmans Vorsicht hier nicht als eine feige Urteilsverweigerung gelesen werden soll, wird deutlich, wenn wir diese Seiten mit denen über Jauß vergleichen (S. 142–46). Hartmans Verhältnis zu Jauß machte genauso einen Teil seiner transatlantischen Aspirationen aus, was die Aufdeckung von Jauß’ SS-Vergangenheit umso peinlicher gestaltete. Hartman bezeichnet Jauß als einen seiner deutschen Geistesgenossen – wie auch Peter Szondi, die Assmanns und Anselm Haverkamp (S. 140). Es folgt ein Tagebuchauszug, in dem von einem Gespräch mit Jauß im Jahre 1988 berichtet wird. In diesen Seiten schimmert Hartmans spürbare Enttäuschung über die Weise, auf die Jauß über seine Vergangenheit redet, durch: Jauß spricht mit »hurt pride«, mit »resentment«, in einem »formal and apologetic style« (S. 145). Es wird suggeriert, dass ein solches unvollständiges Eingeständnis letztlich einen weniger authentischen Umgang mit der Vergangenheit bedeutet als die sorgfältige und problematische Depsychologisierung und Dereferentialisierung im Werk von de Man und Blanchot.

[10] 

Ein dritter Bezug zwischen der nachkriegerischen amerikanischen Literaturtheorie und dem europäischen Trauma des zwanzigsten Jahrhunderts belangt das Topos der trahison des clercs an – einer intellektuellen Elite, die sich in dem Anfeuern von nationalistischen Sentimenten verlor. Es ist erneut die Figur von de Man, die für Hartman das prägnanteste Beispiel bildet, und die die Problematik über den Zweiten Weltkrieg hinaushebt, indem sie für die literaturwissenschaftliche Praxis der Gegenwart eine entscheidende Frage aufwirft. An verschiedenen Stellen weist Hartman auf »the kind of culture politics« hin, »that had played a malignant role in the Franco-German rivalry (an intra-European ›clash of civilizations‹)« (S. 90). Hartman fasst seinen Respekt für Jacques Derrida ebenfalls in diese Worte (S. 69–77). Über Derridas berüchtigtes experimentelles Buch Glas, dem er 1981 eine Studie widmete (Saving the Text: Literature, Derrida, Philosophy), schreibt er, dass es »something of a digest of France’s philosophical debt to Germany« ist; »it transcends the bloody Franco-German conflicts that had proved how divisive and destructive nationalized concepts of culture could be« (S. 70). Derrida, so schreibt Hartman, »at once critiqued and preserved the idea of Europe, refusing to see Europe mainly as a crime scene because of two world wars, colonialism, and the Holocaust« (S. 73). Die Erinnerung an diese Konflikte motivieren Hartmans Vorbehalte neueren multikulturalistischen Tendenzen in der Kulturwissenschaft gegenüber, in denen »the liberal and cosmopolitan overtones that used to characterize the word ›culture‹« aufs Neue einer »militant denotation« das Feld räumen (S. 90).

[11] 

Die europäische Anregung für die
Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit

[12] 

Wie das Beispiel von Derrida bereits deutlich macht, liefert Europa ebenso das Modell für die Gestaltung einer verantwortlichen literaturwissenschaftlichen Praxis. Hartman erweist verschiedenen Projekten, die sich explizit das Übersteigen von nationalen Feindlichkeiten zum Ziel gesetzt hatten, ausführlich Ehre. Er hebt die vermittelnde Rolle von zweien seiner Yale-Dozenten hervor: René Wellek und vor allem Erich Auerbach. So schließt A Scholar’s Tale mit dem Essay Erich Auerbach at Yale, in dem Hartman neben der intellektuellen Bedeutung Auerbachs auch seine persönliche Beziehung zu ihm als jungem Professor an Yale beleuchtet. Hartmans Ansicht nach gehört Auerbach, zusammen mit Leo Spitzer und E.R. Curtius, einer »trinity of restorative scholars« (S. 167) an. Curtius kommt das Verdienst zu, dass er »the larger integrity of the European canon« gestaltet hat »by stressing ›Romania‹ [...] as heroic conduit and intermediary« (S. 167), während Auerbach eine sehr freizügige Vorstellung von der »unity of European literature, shaped by its capacity to absorb the imaginaires of two very different civilizations« förderte (S. 166).

[13] 

Die Namen von Spitzer und Auerbach sind heute nicht so farblos wie sie es jemals waren: Vor allem dank Edward Saids (im Falle von Auerbach) und neulich dank Emily Apters Werk (für Spitzer) werden diese Namen heute als bedeutende Vorläufer der aktuellen comparative literature anerkannt. Said unterstreicht vor allem die Wichtigkeit von Auerbachs Position als Exilant in der Türkei, die die Notwendigkeit einer Außenseiterperspektive für die Bildung einer angebrachten Auffassung über eine Kultur veranschaulicht. Hartman betont Anderes: Er wird nicht von dem Standort des Exilanten angezogen – er nennt sich selbst sogar den »Unexile«, der sich trotz allem sogar in der deutschen Kultur beheimatet fühlt (S. 148) – und er betont, dass es Auerbachs Leistung war, als Literaturhistoriker Widerstand gegen »the forces of uniformity and intolerance« zu generieren (S. 179). Er sagt Auerbach einen »soft, persuasive Marxism« nach (S. 51), der es der Literaturkritik erlaubt, sich kritisch – oder sogar aktivistisch – zur Wirklichkeit zu verhalten.

[14] 

Ich habe bereits zur Sprache gebracht, dass Hartman sich selbst eher als einen privilegierten Zeugen von großen kulturellen Tendenzen, als einen engagierten Teilnehmenden betrachtet. Wenn er sich selber doch eine aktive Rolle zuschreibt, betrifft es nicht zufälligerweise die Instandhaltung von Europa als dem impliziten Horizont der amerikanischen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Hartman hält sich für einen »displaced European« (S. 1), dem die Aufgabe zukommt, als »go-between, making Anglo-American literary thought more aware of Continental practices« (S. 34) zu fungieren. Er praktiziert ein bewusstes »Continental model of literary reflection inspired by [...] linguistics, philosophy, hermeneutics, and other disciplines« (S. 66). Für Hartman bezeichnen sowohl ›Europa‹ als auch ›Theorie‹ die Offenheit und Neugier, für die in dem eher provinzialistischen anglo-amerikanischen ›criticism‹ herkömmlicherweise kein Platz war.

[15] 

Wordsworth in Europa:
der verfehlte Anschluss

[16] 

Hartman berief sich in seinem ersten großen intellektuellen Projekt auf das europäische Erbe: die Neubewertung der britischen romantischen Dichtung und des Werkes von William Wordsworth im Besonderen. Um der amerikanischen Verwerfung von der Romantik als »naïve, adolescent, self-deluding, un-Modernist« erfolgreich entgegenzuwirken, war der Beitrag der kontinentalen Romantik zur Kritischen Theorie von entscheidender Bedeutung (S. 15 f.). »The delayed but extraordinary German renaissance in literature and philosophy« am Ende des achtzehnten Jahrhunderts (S. 16), die ihm von René Wellek nahegebracht worden war, bot ihm die Gelegenheit, den intellektuellen Ernst und die einmalige kulturelle Stärke Wordsworths zu theoretisieren. In den fünfziger Jahren – als Hartman dieses Projekt in die Wege leitete – galt eine solche Wertschätzung der deutschen Tradition als alles andere als selbstverständlich, aber für Hartman waren »the large ideas of German philosophy [...] innocent until proven guilty« (S. 20). Es ist ironisch, dass Hartman die theoretische Raffinesse, die er dem deutschen Kulturraum entlehnt, letztlich dazu anwendet, um für die Überlegenheit der britischen Romantik gegenüber der deutschen zu argumentieren. Dichter wie Wordsworth »did not want the imagination alienated from the English countryside and [...] kept hope in a slower, harmonious rate of modernization alive« (S. 92), während in Deutschland die präindustrielle Vergangenheit als eine nostalgische und tragischerweise unwiderstehliche Alternative für die entzauberte Modernität kultiviert wurde.

[17] 

Hartmans monumentale Neuinterpretation von Wordsworths Werk, die er in sein Buch Wordsworth’s Poetry, 1787–1814 (1964) aufnahm und die er durch seine ganze Laufbahn hindurch unaufhörlich verfeinerte, stellt den maßgeblichen Orientierungspunkt seines Gesamtwerkes dar. Es ist eines der Verdienste von A Scholar’s Tale, dass es die nuancierte, raffinierte Lesart eines Schriftstellers, der herkömmlich als ein Naturdichter oder als moralischer Bezugspunkt dargestellt wurde, knapp und klar erläutert (S. 37–39, 42–44). Obwohl Wordsworths Beziehung zur Natur nicht frei von Schmerz- und Verlusterfahrungen war, spricht aus seiner Poesie das Vertrauen, dass diese Erlebnisse von einer größeren, fürsorglichen Lebenskraft, die sich unter den weltlichen Gegenständen verbirgt, getragen werden. Hartman bezeichnet diesen Selbstverstellungsprozess als »gentle masking« (S. 39). Unschwer liest man heraus, dass Hartman von Wordsworth den merkwürdigen Optimismus herleitet, der sich sogar trotz des »increasing awareness« des Holocausts behauptete (S. 39). Es ist Hartmans verdienstvolle Leistung, Wordsworth als einen bedeutenden Dichter der Modernität darzustellen, der ein nicht-mechanisches Modell von persönlicher Entwicklung und ein modernes Verständnis von Erinnerung und Identität artikulierte (S. 43).

[18] 

Für Hartman ist Wordsworth eine Persönlichkeit von demselben Format wie ein Rousseau, und daher auch ein Denker, der es verdiene, auf dem Kontinent gelesen zu werden. Wenn in Hartmans Memoiren von Bedauern und verfehlten Möglichkeiten die Rede ist, dann bezieht sich dies auf die Feststellung, dass der Wordsworth, den Hartman so sorgfältig theoretisierte, in Europa immer noch kaum Fuß gefasst hat. Während Hartman sich die Mühe machte, die Bedeutung des kontinentalen Denkens in den Vereinigten Staaten zu propagieren, zeigte man in Europa lediglich Interesse für Hartmans Betrachtungen über Europas eigenes Trauma, und nicht für den Dichter, der diese Überlegungen fortwährend inspirierte. Sogar die britische Rezeption von Hartmans ›amerikanischem‹ Wordsworth war »downright hostile, as if I had desecrated an idol of the tribe« (S. 17). Während seiner einzigen Begegnung mit Georges Poulet, einem der tonangebenden Kritiker der sechziger Jahre, fragt Hartman ihn »why all those genial European critics had never discussed Wordsworth in the Pouletian way? Indeed, why had he not written on Wordsworth?« (S. 49)

[19] 

A Scholar’s Tale ist schon wegen Hartmans Berichterstattung von ähnlichen geistigen Treffen ein äußerst fesselndes Dokument. Hartmans kennzeichnend klarer und anspruchsloser Stil macht diese Begegnungen zu etwas Selbstverständlichem; gerade diese scheinbare Selbstverständlichkeit verleiht den Aufzeichnungen jedoch Gewicht und macht sie zu einem autoritativen Bericht von der jüngeren Geschichte unserer Disziplin, handelt es sich doch um Kritiker und Wissenschaftler, deren Namen heute fast etwas Mythisches anhaftet. Hartmans Memoiren veranschaulichen, wie diese Geschichte von Menschen gemacht wurde und nicht vom wirklichen Leben getrennt war; sie betonen, dass diese Existenzen von so genannten »uncanny continuities« (S. 2) geprägt wurden – Kontinuitäten, die beleuchten, dass die Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit von Anfang an über nationale Grenzen hinaus schaute und von einer globalen, oder doch wenigstens transatlantischen Perspektive angeregt wurde.

 
 

Anmerkungen

Übersetzt von Mirjam Truwant.   zurück